| # taz.de -- Kolumne Globetrotter: Gepflegtes Halbwissen | |
| > Nuit Debout und Front National in Frankreich, Australien beim Eurovision | |
| > Song Contest und dann auch noch erotische Esoterik. | |
| Bild: Ist Jamala „genügend unpolitisch“? | |
| Natürlich kann Nuit Debout was bewirken“, meint Paula mit dem Mund voller | |
| Spaghetti, wir essen ja gerade. „Bester Beweis dafür ist die totale | |
| Aversion des Front National gegen die Bewegung, sie macht ihm Angst.“ | |
| Florian lacht auf: „Der FN, Angst vor Nuit Debout? Das musst du mir aber | |
| erklären.“ „Ganz einfach“, fährt Paula fort. „Endlich mobilisiert sic… | |
| linke Teil der Bevölkerung, um im friedlichen Dialog die Fundamente der | |
| Demokratie zu retten …“ „Und prompt werden Steine geworfen, Geschäfte | |
| geplündert“, unterbricht Florian. „Nuit Debout ist doch das beste Geschenk, | |
| das man dem FN ein Jahr vor den Wahlen machen könnte!“ | |
| „Die Randale geschieht doch nur am Rande. Die haben nichts mit der Bewegung | |
| zu tun!“, reagiert Paula fassungslos. „Das weißt aber leider nur du“, | |
| stichelt er. „Sowieso, als ob Nuit Debout selbst keine Randerscheinung | |
| wäre.“ Paula tobt: „Du Zyniker, du Zyniker!“ Sie schnauft, ringt nach | |
| Worten – und genervt: „Michel, du sagst nichts, was meinst du?!“ Aber sta… | |
| die Debatte zu schlichten, fragt Michel höflich: „Könnte ich jetzt bitte | |
| den Fernseher anmachen? Eurovision fängt an.“ Paula fällt die Kinnlade | |
| runter. Florian springt auf: „Yo! Gehirnwäsche für alle!“ Michel lächelt | |
| milde, während er den Tisch Richtung Sofa verlässt: „Ich mag den deutschen | |
| ESC-Moderator, er ist witzig.“ | |
| Während Paula und Florian weiter diskutieren, geselle ich mich zu Michel. | |
| „Alles klar bei dir?“ Wie verdutzt blickt er mich an. „Ja, sicher.“ Er | |
| stellt den Fernsehton ein. Die Musik ist grottenschlecht. „Okay“, flüstert | |
| er, „die Vergangenheit holt uns ein. Alte Ressentiments innerhalb Europas, | |
| die Kolonialzeit, der Kapitalismus, die Umwelt“, listet er auf. „Viele, und | |
| zwar in der ganzen Welt, möchten sich endlich damit auseinandersetzen, das | |
| ist total spannend.“ | |
| Er nickt, hält mit einer gehobenen Augenbraue kurz inne, während Österreich | |
| Brigitte Bardot ins Rennen schickt, und versichert: „Mir geht es gut, | |
| überraschend gut sogar.“ Er verspüre derzeit eine ihm bisher unbekannte | |
| innere Ruhe, als wäre er plötzlich Zen-Meister geworden. „Michel“, sage | |
| ich, „du klingst esoterisch.“ „Jaaa“, grölt Florian vom Tisch rüber, … | |
| finde Michel auch erotisch!“ Er schwankt auf unser Sofa zu: „Ich komme zu | |
| euch, meine Süßen, ihr seht so deprimiert aus, und die Göre da, die macht | |
| mich fertig.“ Paula dazu: „Ich geh Zigaretten kaufen. Ihr braucht nichts. | |
| Bis gleich.“ | |
| ## Australien beim ESC | |
| „Oje“, stöhnt Florian beim Anblick des Glitzerdebakels, das sich im | |
| Fernseher abspult, und verstummt. Ab und zu stellt er eine Frage: „Seit | |
| wann darf man keine politischen Songs im ESC singen? Was macht Australien | |
| da? Schon wieder Frankreich?“ Die Antworten interessieren ihn nicht. | |
| Eine gefühlte Stunde später taucht Paula wieder auf. „Ich dachte, du | |
| hättest uns für immer verlassen“, winselt Florian. „Träum weiter“, | |
| antwortet sie. „Ich bin Anna begegnet. Sie ist irgendwie total euphorisch | |
| und meint: 'Ich werde nicht alt, und du auch nicht. Weißt du, warum? Wegen | |
| unserer humanistischen Überzeugungen! Kein Komfort, keine Angst! Lass uns | |
| das heute feiern!“ „Warum bist du dann zurückgekommen?“, fragt Michel. | |
| „Das war nur eine Metapher. Und, ESC, spannend?“ Australien führt gerade. | |
| „Australien?“ Florian wimmelt mit einer flapsigen Handbewegung ab. „War d… | |
| Song denn gut?“ Michel dazu: „Qualität spielt beim ESC keine Rolle.“ Pau… | |
| nickt: „So viel Selbsthass hätte ich den Europäern nicht zugemutet.“ Am | |
| Ende siegt Jamala aus der Ukraine mit ihrem von der ESC-Jury als „doch | |
| genug unpolitisch“ eingestuften Song. Florian steht auf, packt seine Jacke: | |
| „Nächstes Jahr, gleiche Uhrzeit, treffen wir uns hier wieder.“ | |
| 18 May 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Elise Graton | |
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