| # taz.de -- Ausstellung und Arrangement: Gefunden und für Kunst befunden | |
| > Sind die ästhetischen Arrangements im Hamburger Ernst-Barlach -Haus | |
| > Kunst? Oder handelt es sich doch nur um gesammelte Steine und Hölzer? | |
| Bild: Von der Natur geformt, vom Künstler ausgewählt: Ausstellungsobjekte im … | |
| HAMBURG taz | Sechsunddreißig von Wildschweinen benagte Eichenstümpfe, ein | |
| Tableau aus zweiundsechzig trockenen und dornigen Rosenstilen oder 135 | |
| Feldsteine aus Südfrankreich, im Ausstellungsraum ausgelegt, an den Fugen | |
| des Bodens ausgerichtet, so sieht sie aus, die Kunst von Herman de Vries. | |
| Aber sind diese ästhetischen Arrangements im Hamburger Ernst Barlach Haus | |
| überhaupt Kunst? Es sind doch nur gefundene Hölzer und gesammelte Steine. | |
| Aber sie sind in einem Museum, oft wie Skulpturen auf einem Sockel. | |
| Dennoch sind es nur von der Natur geformte Objekte. Aber sie sind von einem | |
| Künstler ausgewählt und signiert. Trotzdem bleiben es bloß Steine und | |
| natürlich verwitterte Hölzer. Geraten solche Sachen in den Kunstkontext, | |
| gibt es dafür mindestens drei Erklärungen. Erstens könnte argumentiert | |
| werden, es ginge gar nicht um Kunst oder Nicht-Kunst, sondern um | |
| objekthafte Anlässe für die Wahrnehmung und die Reflexion der Betrachter. | |
| Zweitens könnte man mit der Setzungsmacht der Künstler argumentieren: | |
| Alles, was ein Künstler macht, ist Kunst – oder muss als Kunst gesehen | |
| werden. Drittens aber darf weit in die Kunsttheorie zurückgegangen werden. | |
| Vom Allzeit-Star Michelangelo stammt das Bonmot, in dem von ihm behauenen | |
| Brocken Carrara-Marmor sei von Natur aus schon eine Madonna enthalten | |
| gewesen, er habe sie nur da heraus geholt. Hinter solchen Überlegungen | |
| steht der religiös-philosophisch schwierige Gedanke, dass ein Künstler seit | |
| der Renaissance als Schöpfer in Konkurrenz zur Schöpfung selbst tritt, also | |
| sich direkt mit der Natur und letztlich mit dem Schöpfergott selbst messen | |
| muss. | |
| Seine Aufgabe ist es nicht nur, die Natur perfekt zu imitieren, seine | |
| Genialität besteht darin, sie zu übertreffen. Der legendäre Bildhauer | |
| Pygmalion erarbeitete eine so perfekte Frau, dass die griechischen Götter | |
| sie für ihn lebendig machten: Der Künstler als Schöpfer, zumindest als | |
| Produzent im Auftrag der Götter oder des Weltgeistes. | |
| Auch auf der letzten Documenta wurde dieses grundlegende Problem der Kunst | |
| thematisiert. Im zentralen „Brain“ fanden sich zwei scheinbar identische | |
| große, weiße Flusskiesel von Giuseppe Penone. Einer war eine gefundene | |
| plastische Form, der andere eine Kopie des Findlings, bildhauerisch | |
| nachgearbeitet aus einem frischen Block Carrara-Marmor. Dieser zweite Stein | |
| war als Skulptur eine künstlerische Repräsentation des daneben liegenden – | |
| des nur seinen Kontext gewechselt habenden Fundobjekts. Herman de Vries | |
| aber geht es nicht um die Repräsentation von Natur. | |
| Als ausgebildeter Gärtner und biologischer Forscher zur Kunst gekommen, | |
| tritt der 1931 im niederländischen Alkmaar geborene, im unterfränkischen | |
| Eschenau lebende Künstler nicht in die Konkurrenz von Abbild und | |
| Abgebildetem ein, sondern lässt die Natur in ihren nahezu unerschöpflichen | |
| Formen selbst sprechen. Hatte er sich in den 1950er und 1960er-Jahren mit | |
| einer der Zero-Kunst nahestehenden, auf Aleatorik beruhenden, stark | |
| reduzierten Kunst befasst, geht es ihm mit einer gewissen Demut und in | |
| gesellschaftspolitisch „grüner“ Verortung seit Ende der Siebzigerjahre | |
| ausschließlich um Materialien aus der Natur. | |
| „Laufen/sehen/ ich suche nicht/ ich suche nichts// finden.“ So bedichtet er | |
| selbst den Weg, wie er zu den Sammlungen und Arrangements kommt. Egal, ob | |
| er in der Lagune von Venedig Reste von Lagerfeuern von Fischern, im | |
| deutschen Wald abgebrochene Äste oder auf der Kanareninsel La Gomera vom | |
| Meer rund gewaschene Vulkansteine findet: beobachten, sammeln, ordnen und | |
| der Poesie des Augenblicks vertrauen, das ist seine Methode. | |
| Die Gleichwertigkeit der Dinge ist ihm dabei so wichtig, dass er sogar | |
| glaubt, mit konsequenter Kleinschreibung ihr ein sprachliches Äquivalent zu | |
| geben. Mit weißem Vollbart eine fast prophetische Erscheinung, könnte | |
| Herman de Vries durchaus die Rolle eines Gurus übernehmen. Zumal wenn der | |
| Text zu einem Auflagenobjekt lautet: „Dieser Stein und dieser Holzklotz | |
| erleuchten mich.“ Dies ist allerdings eine Referenz an die | |
| frühmittelalterliche mönchische Mystik eines Johannes Scottus Eriugena, der | |
| in den einfachen Dingen die Selbstoffenbarung Gottes sah. | |
| Dennoch sind dem Naturkünstler Glauben wie Denken eher sekundär. Wichtig | |
| ist ihm eine wie auch immer geartete Offenbarung durch individuelle | |
| Erfahrung. Dazu gehört auch die Wirkung gewisser Pflanzen, die als Drogen | |
| bezeichnet werden, aber durchaus Teil der Natur sind. Und die | |
| hoch-ästhetisch arrangierten Naturelemente verweisen zudem auf eine stetig | |
| wachsende Entfremdung: Kaum jemand verfügt mehr über das Basiswissen über | |
| die uns immer noch umgebende Natur. | |
| Wer kennt schon beim Wandrelief „Die Bäume“ mit seinen auf drei Metern | |
| Breite nebeneinander gehängten 21 unterschiedlichen Ästen noch die Namen, | |
| das Vorkommen und den Nutzen dieser biologischen Lebensformen? Wenn Kunst | |
| ein System ist, die Wahrnehmung zu schulen, so geht es hier vor allem um | |
| den Blick auf die Natur. Statt mit Descartes: „Ich denke also bin ich“ hält | |
| Herman de Vries es mit „ambulo ergo sum“, „ich wandere, also bin ich“. | |
| Natur als Möglichkeitsraum für schauende Erkenntnis bei stetem | |
| Positionswechsel. In solcher Ästhetisierung der Naturwahrnehmung haben | |
| seine Arbeiten auch eine Nähe zur Zen-Philosophie: Erinnert sei an die | |
| Tradition der Suiseki, der im Studio zwecks Meditation präsentierten | |
| Gelehrtensteine, deren Naturformen an Landschaften, an Tiere oder | |
| Skulpturen erinnern. | |
| Da auch das künstlerisch Ausgeformte in Material und Gestalt ein | |
| „Fundstück“ des Sammlers sein kann, sind auch Skulpturen von Ernst Barlach | |
| mit in die Präsentation der 1445 Naturobjekte von Herman de Vries | |
| einbezogen. Wie oft im Ernst Barlach Haus ist ein Dialog mit der Sammlung | |
| und vor allem der Architektur des 1962 von Werner Kallmorgen gebauten | |
| Hauses inszeniert. | |
| So geben hier die nun unverstellten Fenster einen zusätzlichen Kommentar zu | |
| den Naturformen von Herman de Vries: Der Ausblick in das Geäst der Bäume im | |
| Jenisch Park wird wie ein Landschaftsbild zum Teil der auch in formaler | |
| Hinsicht sehr ästhetischen Ausstellung. | |
| 4 Apr 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Hajo Schiff | |
| ## TAGS | |
| Kunst | |
| Documenta | |
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