| # taz.de -- Älter werden leichter gemacht: Wenn Vergessen Alltag wird | |
| > Bei einer Demenzerkrankung fühlt manch Angehöriger sich überfordert. In | |
| > einem Hamburger Seniorenzentrum beraten Experten über den Umgang mit der | |
| > Krankheit. | |
| Bild: Buntes Gedeck und Kerzen mit LED statt Docht: In einem Hamburger Senioren… | |
| HAMBURG taz | Dieter Luhr rückt das Besteck zurecht, das vor ihm auf dem | |
| bunten Tisch mit einer Deko aus LED-Sicherheitskerzen liegt. „Es ist so | |
| schwer, nach 50 Jahren Ehe“, sagt er. „So schwer.“ Die Krankheit seiner | |
| Frau kam unerwartet, er wusste zunächst gar nicht, wie er damit umgehen | |
| sollte. „Sie war so vertraut, aber wurde doch so fremd.“ Der 71-jährige ist | |
| Pensionär und hat viel Zeit. Zeit, die er eigentlich für seine Hobbys | |
| aufwenden könnte, aber er kümmert sich lieber um seine Frau. Vor einer | |
| halben Stunde hat er sie zu der freundlichen Friseurin im Nebengebäude | |
| gebracht. „Sie soll ja weiterhin gut ausschauen, da achtet sie sehr drauf.“ | |
| Luhrs Frau ist an Demenz erkrankt, schon vor ein paar Jahren. Die Zeit, die | |
| Elli beim Friseur verbringt, nutzt er, um sich im Seniorenzentrum St. | |
| Markus in Hamburg-Hoheluft zu informieren. Er steht in der hinteren Ecke | |
| eines großen Veranstaltungsraumes, abgetrennt durch Pappwände, umgebaut zu | |
| einem halboffenen Zimmerchen. Von der Einrichtung her ist es kaum zu | |
| unterscheiden von einem echten Wohnzimmer – und doch ist es anders. „Durch | |
| Kleinigkeiten kann man schon viel Spannung herausnehmen, kann man das Leben | |
| in einer Umgebung, die immer fremder wird, erleichtern“, sagt Sylvia | |
| Ullrich, Leiterin des Wohnbereichs für an Demenz erkrankte Menschen im | |
| Seniorenheim St. Markus, die das mobile Musterapartment für Demenzkranke | |
| vorstellt. | |
| Kleinigkeiten, das sind zum Beispiel die Teller und Schüsseln, die hübsch | |
| drapiert auf einem türkisfarbenen Platzdeckchen aus Gummi stehen. Bunt sind | |
| sie, wild zusammengemischt, so scheint es. „Das ist ganz wichtig für die | |
| Betroffenen“, sagt Ullrich. Die meisten Menschen könnten nicht mehr gut | |
| sehen und gepaart mit der Demenz würden weiße Teller schnell im Grau des | |
| Tisches verschwimmen. „Klare Formen und kontrastreiche Farben sind ideal, | |
| das erleichtert das Essen, schärft die Konzentration.“ Aus dem gleichen | |
| Grund ist auch der Rand des Waschbeckens, das neben dem Sessel an die | |
| Pappwand montiert wurde, deutlich mit rotem Gewebeband gekennzeichnet. So | |
| können die Betroffenen fühlen und auch sehen, wo sie sich waschen. | |
| Klare Strukturen brauchen an Demenz Erkrankte, das weiß Dieter Luhr aus | |
| eigener Erfahrung. So oft schon ist er mit seiner Frau aneinandergeraten, | |
| wegen Lappalien. Einmal fehlte der rechte Schuh, ein andermal war die | |
| Zahnbürste nicht am richtigen Platz. Das habe sie verwirrt – die Schuld hat | |
| sie dann bei ihm gesucht. Auch er werde dann mal aggressiv, erzählt er. | |
| „Aber dann denkt man sich oft: Sie kann ja nichts dafür. Man muss sich | |
| immer wieder die Person und das Herz dahinter vor Augen führen.“ | |
| Das kann manchmal schwer fallen. Doch anstatt sich auf die Suche nach dem | |
| fehlenden Schuh zu machen und darüber zu fluchen, schlägt | |
| Wohnbereichsleiterin Ullrich vor, die Sache gemeinsam anzupacken. „Die | |
| Schuhe sind weg, das ist ja ein Ding! Aber wir finden sie gemeinsam, das | |
| wäre ja gelacht!“ – es so zu formulieren sei der richtige Ansatz, sagt sie. | |
| Zusammen gegen das Böse der Welt – das schafft Vertrauen und schweißt | |
| zusammen. | |
| Vor allem das Selbstwertgefühl der Betroffenen darf dabei nicht leiden und | |
| sollte immer wieder gefördert werden. „Konfrontationen mit dem, was man | |
| nicht mehr kann, sollte man vermeiden“, bekräftigt Ullrich. Viel wichtiger | |
| sei es, der Person zu zeigen, was doch noch alles klappt, trotz | |
| voranschreitender Erkrankung. Doch auch gut gemeinte Hilfestellungen | |
| könnten dazu führen, dass der Betroffene die Lust verliert, selbst tätig zu | |
| werden. „In den Augen der Erkrankten wird dies oft als Bevormundung | |
| aufgefasst.“ Eine solche Kränkung führe schnell zur Resignation. | |
| Die Hoffnung aufzugeben ist wohl das Schlimmste in einer Beziehung, die | |
| mehr und mehr vom Vergessen und Verwirrtsein gezeichnet ist. Demenz kann | |
| eine Partnerschaft schwer belasten, auch wenn man ständig versucht, den | |
| Anforderungen so gut wie möglich gerecht zu werden. Dieter Luhr musste sich | |
| vor Kurzem Schlaftabletten aus der Apotheke holen, weil er einfach nicht | |
| mehr zur Ruhe kam. „Ständig bin ich aufgewacht, immer wieder hat meine Frau | |
| gefragt, ob ich noch da sei.“ Manchmal habe er zwei Tage und Nächte lang | |
| kein Auge zugemacht, auch durch die Sorgen, die ihm ständig im Kopf | |
| herumgeisterten. | |
| Dass die angemessene Versorgung von an Demenz erkrankten Personen im | |
| Verlauf der Krankheit zu einer immer größer werdenden Herausforderung wird, | |
| steht außer Frage. Zwei Drittel der inzwischen 1,5 Millionen Betroffenen | |
| werden laut Deutscher Alzheimer Gesellschaft in der Familie versorgt, ein | |
| Drittel befindet sich in professionellen Pflegeeinrichtungen. Davon, dass | |
| man die Pflege von Demenzkranken zu Hause selbst durchführen kann, ist | |
| Sylvia Ullrich jedoch überzeugt. | |
| Irgendwann allerdings kann auch das zur Überforderung führen. Ein Umzug ins | |
| betreute Wohnen ist dann unumgänglich. Wichtig sei dabei, dass alte | |
| Strukturen mit übersiedeln, erklärt Ullrich. Eine gewohnte Umgebung mit | |
| vertrauten Möbeln etwa, mit Bildern, die an gute alte Zeiten erinnern – all | |
| das kann dafür sorgen, dass der neue Bewohner sich im Heim schneller | |
| wohlfühlt. Wenn Leute bei ihnen ins Heim zögen, würden sie bei den | |
| Angehörigen nachfragen, sagt Ullrich: Wie deren Mutter ins Bad gegangen | |
| sei, oder zu welcher Seite sie sich drehen musste, um vom Bett aus an die | |
| Nachttischschublade zu gelangen. Beim Einzug würden alte Gewohnheiten bei | |
| der Positionierung von Bett und Möbeln berücksichtigt. „Das leistet | |
| Orientierung im Alltag.“ | |
| Um seine Lieben jedoch so lange wie möglich zu Hause versorgen zu können, | |
| sei es wichtig, sich frühzeitig Tipps zu holen. Ein Patentrezept für die | |
| Bewältigung des täglichen Lebens gibt es dabei nicht. Wohnung und Umstände | |
| müssen in jedem Fall auf die Bedürfnisse des Individuums zugeschnitten | |
| werden. | |
| Das sporadisch aufgebaute Wanderzimmer im Seniorenzentrum kann so nur als | |
| Anregung für konstruktive Veränderungen in der Wohnung fungieren – für | |
| viele ist es jedoch ein erster Kontakt mit der Krankheit, die das weitere | |
| Leben bestimmen wird. | |
| Oft fehlt die Courage, den einen Schritt vorwärts zu tun. Zuzugeben, dass | |
| man selbst oder ein Angehöriger an Demenz erkrankt ist, sei für viele | |
| schwierig, sagt Ullrich. Sie spricht von „Outing“: „Oft schämen sich die | |
| Leute und fragen sich, ob sie bald selbst verrückt werden.“ Dabei könne von | |
| „verrückt“ keine Rede sein. Wichtig sei hingegen, die eigene Scham zu | |
| überwinden. | |
| Genau das soll die Vorführaktion im Seniorenheim erreichen: das Bewusstsein | |
| für die Problematik der Erkrankung zu schärfen und Hemmschwellen abzubauen | |
| – damit das Leben mit einer Krankheit, die immer mehr zum Volksleiden wird, | |
| so angenehm wie möglich gestaltet werden kann – für Betroffene und | |
| Angehörige. | |
| 18 Jan 2016 | |
| ## AUTOREN | |
| Nils Reucker | |
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