# taz.de -- Debatte Türkische Opposition: Der Mut ist geblieben | |
> Die Situation in der Türkei wird nicht besser: Krieg, Spaltung, Terror, | |
> Erdogan. Die Generation Gezipark ist geschwächt. Aber sie ist noch da. | |
Bild: Gegenwehr: Protest im März 2015 in Istanbul. | |
Die Türkei ist in einer Schockstarre. Das, wovor sich viele seit Langem | |
fürchten, ist nun eingetreten: ein Terroranschlag mitten in Istanbul. Er | |
wird dem IS zugeschrieben, den die Regierung zwar seit Kurzem bekämpft, vor | |
dem sie aber lange die Augen verschlossen hat. Das Land reibt sich auf im | |
Krieg zwischen Staat und der PKK auf der einen, dem islamistischen Terror | |
auf der anderen Seite. Und nebenbei vollzieht sich im Innern die Umformung | |
des Landes zu einer „neuen Türkei“, wie Staatspräsident Erdoğan sie sich | |
vorstellt: fromm, gehorsam und ihrem Präsidenten treu ergeben. | |
Als die konservativ-muslimische AKP im Jahr 2002 die Regierungsgeschäfte | |
übernommen hatte, erlebte das Land zunächst einen gewaltigen | |
Demokratisierungsschub. In zügigem Tempo wurden Wünsche aus Brüssel | |
umgesetzt, die Annäherung an den Westen vorangetrieben, Reformen | |
angekurbelt. Erdoğans Regierung erkannte die kurdische Sprache an, stutzte | |
dem übermächtigen Militär, dem selbst ernannten Hüter der Nation, die | |
Flügel. | |
Dafür kehrte die Religion, die jahrzehntelang aus der Öffentlichkeit | |
verdrängt worden war, als gemäßigter Islam dorthin zurück. Seit der | |
Gründung der türkischen Republik hatte die säkulare, urbane Elite das | |
Sagen, die auf die traditionsbewussten, gläubigen Türken vom Land mit | |
Geringschätzung herabsah. Aus diesen speist sich aber die Mehrheit der | |
AKP-Wähler. Nun hat sich das Kräfteverhältnis umgekehrt. | |
Von seiner „neuen Türkei“ hat der Staatspräsident ganz genaue | |
Vorstellungen. Erdoğan legt fest, was Nationalgetränk und was Kunst ist, | |
wie viele Kinder eine Frau bekommt, was in der Zeitung steht und wer wie | |
mit wem zusammenlebt. Gegen den Willen der Bürger wurden ganze Stadtviertel | |
abgerissen und neu in Beton gegossen, Naturschutzgebiete bebaut. | |
Trotz aller Warnungen von Ökologen und Stadtplanern werden | |
größenwahnsinnige Projekte angekurbelt: die weltgrößte Moschee in Istanbul, | |
der weltgrößte Flughafen in den nördlichen Wäldern der Stadt, eine dritte | |
Brücke über den Bosporus, ein neuer, künstlicher Kanal. Religion, Profit | |
und Machterhalt wurden zu den Hauptimpulsen der AKP-Politik. Erdoğan wurde | |
zunehmend autoritär, ließ immer öfter Macht vor Recht walten und traf | |
Entscheidungen ohne Rücksicht auf die Bürger. | |
## Die alten Gräben schienen überwunden | |
Die Gezi-Revolte im Sommer 2013 gegen den bevormundenden Regierungsstil | |
Erdoğans empfanden viele als Befreiungsschlag. Besonders die in den | |
achtziger und neunziger Jahren Geborenen, die mit universitären | |
Austauschprogrammen und dem Internet Europa erleben und am Weltgeschehen | |
Anteil nehmen können, die gut ausgebildet sind und den Wert einer intakten | |
Natur erkannt haben, wollten nicht länger hinnehmen, dass man ihnen | |
demokratische Rechte und persönliche Freiheiten verweigert. | |
In dieser Zeit erlebten viele junge Menschen zum ersten Mal, dass sich | |
Engagement auszahlen kann, und entdeckten ein wirkliches | |
Gemeinschaftsgefühl. Man teilte sein Sandwich mit Kommunisten, Kurden, | |
frommen Muslimen, überzeugten Säkularen, Lesben, Schwulen, Transsexuellen, | |
Schuhputzern, europäischen Hipstern und Straßenhunden. Man pflanzte | |
gemeinsam Blumen und träufelte sich gegenseitig Milch in die Augen, um das | |
Brennen des Tränengases zu lindern. Es redeten Menschen miteinander, die | |
früher nie miteinander gesprochen hätten. Kemalisten entschuldigten sich | |
bei Kurden für den jahrzehntelangen Krieg, den der türkische Staat gegen | |
sie geführt hatte. Die alten Gräben schienen überwunden, Demokratie gelebt. | |
Das machte Mut. | |
Die junge Generation hat, das zeigte sie besonders deutlich während der | |
Gezi-Revolte, das Potenzial, der Türkei zu mehr Demokratie zu verhelfen. | |
Grund zur Hoffnung gaben auch die anschließenden Parlamentswahlen, nach | |
denen erstmals mit der HDP eine kurdenfreundliche Partei ins Parlament | |
eingezogen war. Die AKP verlor die absolute Mehrheit. Zunächst. | |
## Neue Sicherheitsgesetze | |
Um die Machtverhältnisse im Land wiederherzustellen, hat die Regierung | |
inzwischen die politische Bewegung der Kurden nachhaltig geschwächt, die | |
HDP kriminalisiert. Ihr ist jedes Mittel recht. Auch Krieg. Erdoğan kennt | |
seine Landsleute gut. Er weiß, dass sie ihre Ruhe und einen starken | |
Anführer wollen. Daher stimmten bei den Neuwahlen im November mehr Menschen | |
für die AKP als noch bei der vorherigen Wahl. | |
Der Präsident gebärdet sich, als sei er der Einzige, der das Land befrieden | |
könne. Mit neuen Sicherheitsgesetzen wurde das Demonstrationsrecht massiv | |
eingeschränkt, und der Polizei wurden enorme Spielräume eingeräumt: Sie | |
darf jetzt beispielsweise auf gewaltbereite Demonstranten schießen, ohne | |
selbst angegriffen worden zu sein. Wer beim Demonstrieren sein Gesicht | |
verhüllt, dem drohen nun drei Jahre Gefängnis. | |
Mit der von Erdoğan hochgehaltenen Pressefreiheit geht es derweil bergab: | |
Die Türkei liegt mittlerweile auf Rang 149 von 180 auf der internationalen | |
Liste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen. Tausende Internetseiten | |
sind gesperrt, die Türkei ist weltweit Rekordhalter, wenn es um die | |
Löschung bestimmter Links bei Google geht. | |
Das Land ist tiefer gespalten denn je. In arm und reich, säkular und | |
religiös, Ost und West. Nach wie vor schützt sich der Staat in der Türkei | |
vor seinen Bürgern statt seine Bürger vor einem übermächtigen Staat. Dass | |
die EU nun Staatspräsident Erdoğan hofiert, um den Zuzug von Flüchtlingen | |
nach Europa zu stoppen, ist eine weitere Ohrfeige für die demokratischen | |
Kräfte in der Türkei. Die EU verschließt die Augen vor den massiven | |
Menschenrechtsverletzungen und verhandelt mit dem Kriegstreiber Erdoğan | |
über Flüchtlinge, die er gerade selbst mitproduziert. | |
## Die türkische Gesellschaft hat sich geändert | |
Kein Wunder, dass bei einem Großteil der Nicht-AKP-Wähler und auch bei | |
Beobachtern aus dem Ausland mittlerweile Ratlosigkeit herrscht. Viele, die | |
noch bei den Gezi-Park-Protesten aktiv waren, ziehen sich ins Private | |
zurück. Sie gehen ihrer Arbeit nach, büffeln für Klausuren, sitzen vor | |
ihren Computerspielen oder feiern exzessiv am Wochenende. Wer weiß, wie | |
lange Ausgehen noch möglich ist. Schon seit Längerem geht die AKP gegen | |
Alkoholausschank in Clubs und Kneipen vor. | |
Vieles spricht allerdings dafür, dass sich die türkische Gesellschaft | |
grundlegend verändert hat – auch wenn Erdoğan das nicht wahrhaben will. Die | |
Menschen sind aufmerksamer geworden für Rechtsverletzungen und | |
Unterdrückung. Die Gezi-Revolte hat vielen Mut gemacht, sich zu engagieren. | |
Vor allem im Kleinen: Stadtteilgärten werden winterfest gemacht, man backt | |
gemeinsam Brot, kocht und diskutiert in Kollektivcafés. | |
Überall im Land gibt es Initiativen zur Rettung von Natur und Tieren. | |
Getragen werden sie vor allem von der jungen, gut ausgebildeten Generation, | |
aber auch bildungsfernere Milieus und ältere Menschen begreifen sich als | |
zivilgesellschaftlich engagierte Bürger. Sie mischen sich nun sogar in den | |
Krieg ein, der im Osten des Landes tobt. Vor einiger Zeit brachen mehr als | |
hundert Journalisten, Politiker, Aktivisten, Wissenschaftler, Schauspieler | |
und Kulturschaffende nach Diyarbakır, der Hochburg der Kurdenkämpfe, auf, | |
um die Leute dort zu unterstützen und sich mit ihnen solidarisch zu zeigen. | |
1.128 türkische Wissenschaftler, sie nennen sich Akademiker für den | |
Frieden, haben eine Erklärung abgegeben, in der sie sich gegen die | |
Kurdenpolitik der AKP stellen. Erdoğan schimpft sie | |
Möchtegernintellektuelle, rechtliche Schritte gegen sie sind vom | |
Hochschulrat YÖK eingeleitet worden. Unterstützt werden die Akademiker von | |
international renommierten Professoren wie Judith Butler oder Noam Chomsky. | |
Der Präsident hat diese eingeladen, sich selbst ein Bild der Lage in der | |
Türkei zu machen. | |
Gerade jetzt, wo die Gewalt eskaliert, verdienen die Menschen in der | |
Türkei, die sich nicht mehr das Wort verbieten und alles vorschreiben | |
lassen, unbedingt unsere Unterstützung. Zivilgesellschaftliche Strukturen | |
müssen gestärkt, Journalisten unterstützt, der kulturelle Austausch muss | |
gefördert werden. Nur in einer starken offenen Gesellschaft können sich die | |
demokratischen Kräfte im Land wieder entfalten. | |
15 Jan 2016 | |
## AUTOREN | |
Anna Esser | |
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