# taz.de -- STRATEGIEN Es ist ein Kampf um Begriffe und Erzählungen, global au… | |
> gründet sich im Nordirak die sunnitische Terrorgruppe „al-Qaida im Irak“ | |
Bild: Ohne den Islam gäbe es keinen „Islamischen Staat“, zugleich, das sag… | |
Aus Nizza, Dschidda, Kairo und Berlin Annika Joeres, Jannis Hagmann, Khalid | |
El Kaoutit, Yasemin Ergin, Alke Wierth und Viktoria MoraschundAnnika | |
Joeres, Jannis Hagmann, Khalid El Kaoutit, Yasemin Ergin, Alke Wierth und | |
Viktoria Morasch | |
Es war im Juni 2014, als ein islamischer Gelehrter, ein promovierter | |
Theologe immerhin, das Kalifat ausrief. Ein Mann Mitte 40, der drittälteste | |
von vier Söhnen einer Bauernfamilie, sagte, er sei der Herrscher über alle | |
Muslime. Man vermutet, dass er aus dem irakischen Samarra stammt, seine | |
Herkunft soll auf den Propheten Mohammed zurückgehen. Kalif Ibrahim, besser | |
bekannt unter dem Namen Abu Bakr al-Baghdadi: Anführer des selbsternannten | |
„Islamischen Staats“ und verantwortlich für unzählige Tote und Gefolterte. | |
Herrscher über alle Muslime? Oder einer der meistgesuchten Terroristen der | |
Welt? Nachdem sich al-Baghdadi die Zähne und den Gaumen mit einem | |
Miswak-Holz gereinigt und sich in seiner viertelstündigen Freitagspredigt | |
in Mossul zum Kalifen ernannt hatte, dauerte es nicht lange, bis | |
muslimische Gelehrte reagierten. Moderate und Ultraorthodoxe waren sich | |
einig: Al-Baghdadi ist ein Blender, ein Sünder, einer, der die Religion | |
pervertiert. Sie erkennen ihn nicht als Herrscher an, aber sie müssen | |
zusehen, wie die Ideologie des IS junge Menschen auf der ganzen Welt | |
anzieht. So sehr, dass sie bereit sind zu töten, andere und sich selbst. In | |
Mossul, in Beirut, in Paris. Manche sprechen davon, der Dschihad sei zu | |
einer Jugendbewegung geworden. Früher nahm man LSD, heute guckt man | |
Enthauptungsvideos. Und macht sich am Ende auf nach Syrien. | |
## Nizza, Frankreich:Die Vorstadt-Muslimin | |
Auch Anouk Beslim hat junge Menschen nach Syrien ziehen sehen. „Das sind | |
alles verlorene Seelen, sie waren nicht einmal besonders gläubig“, sagt | |
sie. 21 Jahre alt, Krankenschwester in Ausbildung, vor fünf Jahren ist | |
Beslim zum Islam übergetreten. Seitdem vergeht kaum ein Tag, an dem sie | |
sich nicht für die Gräueltaten des IS irgendwie rechtfertigen muss. Ihr von | |
einem schwarzen Schleier eingerahmtes Gesicht wirkt angespannt, ihre | |
Sneaker wippen unablässig auf und ab. | |
Anouk Beslim wohnt in Ariane, einem Vorort von Nizza. Es ist einer dieser | |
Orte, die in den 1960er Jahren für die meist nordafrikanischen Zuwanderer | |
aus dem Boden gestampft wurden. Während die Bewohner im Zentrum weiß und | |
wohlhabend sind, leben hier Menschen mit maghrebinischen Wurzeln, auf den | |
Caféterrassen sitzen ältere Männer, die Häuser sind dreimal so hoch wie an | |
der Küste. Die Menschen hier misstrauen der Presse, Anouk Beslim ist eine | |
der wenigen, die überhaupt reden will – nur ihr richtiger Name soll nicht | |
in der Zeitung stehen. | |
Seit den Attentaten von Paris war Beslim nicht mal mehr in der Innenstadt | |
von Nizza, ihrem Geburtsort, sie war auch nicht mit ihren Freundinnen in | |
ihrem Stammcafé. Sie hat eigentlich überhaupt nichts gemacht, außer die | |
Nachrichten über die Jagd nach den Terroristen zu verfolgen. „Ich habe | |
Angst vor den Pöbeleien. Die Terroristen haben das Leben von uns Muslimen | |
in Frankreich bestimmt stärker verändert als das aller anderen Bürger.“ | |
Nach den Anschlägen auf die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo im | |
Januar wurde Beslim mehrfach angegriffen. „Ein Jugendlicher hat mir mitten | |
auf der Straße den Schleier vom Kopf gerissen“, sagt sie. Ständig müsse sie | |
sich erklären. Der mögliche konservative Präsidentschaftskandidat Alain | |
Juppé forderte in dieser Woche, französische Muslime müssten sich | |
öffentlich von jedem Fanatismus und jeder Barbarei distanzieren. | |
Der französische Rat der Muslime arbeitet inzwischen an einer Charta und an | |
einem Label, das er den Imamen im Land verleihen will, um radikale Prediger | |
auszugrenzen. Die Unschuldsvermutung ist außer Kraft gesetzt, Muslime | |
müssen nun beweisen, dass sie mit dem Terror nichts zu tun haben. Seit | |
Charlie Hebdo haben rechte Bürger hunderte von islamfeindlichen Aktionen | |
verübt, sie besprühten Moscheen, zerschlugen Fenster von Halal-Metzgereien | |
oder legten wie am vergangenen Wochenende Schinken und Speck, für Muslime | |
verbotenes Schweinefleisch, vor eine Moschee im westfranzösischen | |
Pontarlier. | |
Wenn, wie in dieser Woche, über den IS und den Islam gesprochen wird, | |
scheint es diese beiden Positionen zu geben: Erstens, der IS hat nichts mit | |
dem Islam zu tun. Zweitens, der IS ist die Folge einer | |
gewaltverherrlichenden Religion, die Radikalisierung ist im Koran angelegt. | |
Wer so argumentiert, zieht eine direkte Linie vom Islam zum IS. Ähnlich | |
wie die, die auf Facebook und Twitter schreiben, dass man lieber nicht für | |
Paris beten solle: Gerade jetzt habe man genug von Religionen. | |
Am Anfang steht also die Frage: Ist der IS ein innerislamisches Problem? | |
Ohne den Islam gäbe es keinen „Islamischen Staat“, zugleich, das sagen | |
islamische Gelehrte immer wieder, ist der IS zutiefst unislamisch. Ein | |
Paradox. | |
Es ist ein Kampf um Begriffe, Erzählungen und Ideologien. Er wird global | |
ausgefochten, mit Kalaschnikows, YouTube-Videos und dem Koran. Was können | |
die Gelehrten der islamischen Welt dem „Islamischen Staat“ entgegensetzen? | |
Wie wird in Saudi-Arabien, Ägypten, der Türkei und Europa über ihn | |
gesprochen? | |
## Dschidda, Saudi-Arabien: Die Reformerin | |
Dschidda ist heute eine Millionenmetropole, früher war hier nur ein kleines | |
Fischerdorf mit Pilgerhafen. Seit Jahrhunderten kommen Muslime auf ihrem | |
Weg nach Mekka und Medina in Dschidda vorbei. Mekka, das religiöse Zentrum | |
des Islam, ist keine hundert Kilometer weiter östlich. | |
Samar Fatany hat als Treffpunkt ein Restaurant vorgeschlagen. Von der | |
Terrasse aus könnte man auf das Rote Meer blicken – wären da nicht die | |
vielen Hoteltürme, die die Sicht nehmen. Männer schlürfen Pepsi und | |
American Coffee. Nur wenige tragen Ghutra und Thobe, das traditionelle | |
Gewand. Familien, Frauen unter sich und – auch wenn das offiziell nicht | |
vorgesehen ist – gemischte Gesellschaften nehmen im ersten Stock Platz, in | |
der „Familienabteilung“. Die arabische Kalligrafie an der Wand erinnert | |
daran, dass wir nicht in einem Coffeeshop in New York, Berlin oder | |
Schanghai sind. | |
Samar Fatany ist Publizistin, eine der lautesten Kritikerinnen im | |
Königreich. Sie bestellt einen türkischen Kaffee, „medium“, mit Zucker, | |
aber nicht zu süß. Mit ihrem locker sitzenden Kopftuch und die schwarz-grau | |
gemusterte Abaya hebt sie sich von den konservativer gekleideten Frauen im | |
Restaurant ab. „Früher hatten wir al-Qaida und 9/11, jetzt heißt unser | |
Problem Daesh“, sagt sie, aufgebracht zwar, aber doch mit der gefassten | |
Stimme einer Intellektuellen. Fatany sagt bewusst "Daesh“. Es ist die | |
arabische Abkürzung für IS, die Terrormitglieder finden diese Bezeichnung | |
despektierlich und wollen so nicht genannt werden. Mit den Luftangriffen, | |
mit denen Saudis und Amerikaner die Dschihadisten bekämpfen, werde man das | |
Problem nicht lösen. „Der Kampf gegen Daesh ist ein Krieg der Ideologien | |
und muss auf ideologischer Ebene ausgetragen werden“, sagt Fatany, „aber | |
die Ulema haben versagt.“ | |
Die Ulema, Arabisch für islamische Gelehrte, predigen seit Jahren Mäßigung | |
und Toleranz. Wasatiyya, dieser Begriff fällt immer wieder im religiösen | |
Diskurs. Er beschreibt den „Weg der Mitte“. „Und so haben wir euch | |
(Muslime) zu einer Gemeinschaft der Mitte gemacht“, heißt es in der zweiten | |
Sure des Korans, die wieder und wieder gegen die Verheißungen der | |
Extremisten vorgebracht wird. | |
„Was auch immer die islamischen Gelehrten bislang gemacht haben, es hat das | |
Problem nicht gelöst“, sagt Fatany. Die Männer der Religion seien zu | |
schwach, ihr Narrativ nicht attraktiv genug, um es mit den Dschihadisten | |
aufnehmen zu können. Das Problem sei nicht etwa der Text des Korans. Das | |
Problem sei, wie die Gelehrten mit ihm umgingen. | |
Die traditionellen Gelehrten interpretierten den Koran nicht eigenständig, | |
erklärt Fatany. Sie berufen sich auf Berichte über das Leben Mohammeds und | |
seiner Gefährten, die Überliefererkette muss bis zu den Tagen des Propheten | |
zurückführen. Wie verhielt sich Mohammed? Das ist die Leitfrage der | |
Hadith-Wissenschaft, die das, was der Koran offen lässt, klären soll. Denn | |
der Koran gibt in Alltags- und Rechtsfragen nur wenig Auskunft. | |
Darf ich als Muslim Alkohol trinken? Wenn ja, wann und wie viel? Manche | |
trinken gar nicht. Andere nur nicht vor dem Gebet. Wieder andere nur zum | |
Fastenbrechen. Für alle Lösungen lassen sich entsprechende Stellen im Koran | |
finden. Früher muss es nahegelegen haben, sich am Verhalten des Propheten | |
und der nachfolgenden Generationen zu orientieren. Aber können Menschen, | |
die vor über 1.000 Jahren lebten, in der heutigen Zeit noch Vorbilder sein? | |
„Als Muslime des 21. Jahrhunderts müssen wir den Koran neu lesen und in der | |
islamischen Jurisprudenz modernere Methoden anwenden“, sagt Fatany. Sie | |
weiß, wie weit sie gehen darf, und kritisiert nur die religiösen Gelehrten, | |
nie die Politik. Fatany ist durch ihr Ansehen als Journalistin geschützt | |
und durch ihren Mann, den früheren Chefredakteur der Saudi Gazette. Er soll | |
gute Beziehungen zum Königshaus haben. | |
Fatany sagt, die Universitäten in aller Welt würden längst moderne Gelehrte | |
in Scharia, islamischem Recht, und Fiqh, islamischer Jurisprudenz, | |
ausbilden. Sie werten die Quellen neu aus. „Ihre Narrative sind logischer, | |
liberaler und überzeugender.“ | |
In Saudi-Arabien, dem Land, das mit seinem Reichtum und der Symbolkraft der | |
heiligen Stätten den sunnitischen Islam prägt wie kein anderes, kommt davon | |
nicht viel an. „Wir haben Menschen hier, die ihre Frauen hinter | |
verschlossenen Türen halten, nicht Auto fahren oder arbeiten lassen.“ Wie | |
viele Hardliner es genau sind, weiß niemand. Fünf Prozent der Saudis hätten | |
eine positive Meinung vom IS, so das Ergebnis einer Umfrage, die im Oktober | |
2014 von einem US-Thinktank in Auftrag gegeben wurde. „Wir haben hier keine | |
glaubhaften Umfragen. Es gibt Daesh-Sympathisanten, bedrohlich viele | |
sogar“, sagt Fatany. | |
Saudi-Arabien gilt als ideologische Geburtsstätte für islamistischen | |
Terrorismus, die saudische Herrscherfamilie folgt einer besonders strengen | |
Auslegung des Islam, nicht sehr weit entfernt von der des IS. | |
Gotteslästerer werden auf öffentlichen Plätzen mit dem Schwert enthauptet, | |
der Internetaktivist Raif Badawi ausgepeitscht. | |
Dabei müsse Saudi-Arabien den Kampf gegen den IS anführen, findet Fatany. | |
Als Zentrum des sunnitischen Islam habe man hier eine moralische | |
Verantwortung. „Wir brauchen Gelehrte, die mit fremden Kulturen und | |
Perspektiven vertraut sind. Und ein neues Bildungssystem.“ | |
## Kairo, Ägypten: Der Konservative | |
Dreimal musste der Termin mit Ahmed Mohammed al-Tayyeb verschoben werden, | |
der Großscheich ist viel beschäftigt. Nun sitzt der oberste Imam der | |
Al-Azhar-Moschee und ehemalige Rektor der gleichnamigen Universität im | |
dritten Stock des Verwaltungsgebäudes in seinem Büro. Er will darüber | |
reden, wie sich seine über 1.000 Jahre alte Institution dem IS | |
entgegenstellen kann. An der Al-Azhar-Universität werden Theologen aus | |
allen islamischen Ländern ausgebildet und Gutachten zu Fragen aus | |
Wirtschaft, Politik und Alltag erstellt. Am Eingang der Verwaltung stehen | |
Wachleute, sie kontrollieren Fahrzeuge und Ausweise. Seitdem der IS auch in | |
Ägypten Fuß gefasst hat, ist die al-Azhar in Gefahr. Die Attentate von | |
Paris sind noch nicht geschehen. | |
Im dritten Stock, wo Großscheich al-Tayyeb sein Büro hat, ist es still, | |
sauber und angenehm kühl. Seine Mitarbeiter schauen auf den Boden, sie | |
sprechen ihn leise mit „Fadilatu al-Scheikh“ an, „Euer hochstehender | |
Scheich“. Al-Tayyeb ist eine Eminenz. Er trägt ein graues, glattgebügeltes | |
Gewand, um seine rote Kopfbedeckung ist ein weißes Tuch gewickelt, der Bart | |
kurz gestutzt. Sein Einfluss reicht von Marokko über Ägypten, die Türkei, | |
bis nach Pakistan und Malaysia. Überall wird seine Meinung gehört, wo | |
Sunniten leben. Und die machen 90 Prozent aller Muslime aus. | |
Al-Tayyeb versteht sich als Verteidiger des „einzigen und wahren“ Islam. | |
„Wir versuchen, eine Stimme der Vernunft und des Friedens zu sein“, sagt | |
er. Die al-Azhar ist gegen Kriege, auch gegen den zwischen Sunniten und | |
Schiiten. „Wir widersprechen den Schiiten nicht, wir bekämpfen sie nicht.“ | |
Ursprünglich ging es in dem Konflikt darum, wer der rechtmäßige Nachfolger | |
des Propheten sei, seitdem werfen sich Sunniten und Schiiten gegenseitig | |
vor, den Koran falsch zu deuten. | |
Al-Tayyeb hat ein Papier vor sich, darauf zeichnet er drei Kreise, drei | |
Ebenen des Friedens: national, mit den Christen in Ägypten; regional, mit | |
den Schiiten und den Ländern im Bürgerkrieg; und international, mit der | |
Menschheit ganz allgemein. „Zum weltweiten Frieden gehört auch die | |
Verurteilung von terroristischen Anschlägen, auch auf nichtmuslimischem | |
Boden.“ | |
Der Terrorismus im Namen des Islam ist die größte Sorge des Großscheichs. | |
Dass der IS es schafft, so viele Menschen für seine Ideologie, seinen Kampf | |
zu begeistern, und auch dass der IS die mächtige, uralte al-Azhar klein und | |
schwach erscheinen lassen könnte. | |
Deshalb will der Scheich die Klischees des Rückständigen, die an seiner | |
Institution, ja an seiner Religion haften, widerlegen. Unserer weiblichen | |
Begleiterin reicht er zur Begrüßung die Hand, schaut ihr in die Augen, wenn | |
er mit ihr spricht. Entgegen der Vorschrift in seinem Haus, muss sie ihren | |
Kopf nicht bedecken, sie trägt Jeans und eine Strickjacke, die den Hals | |
nicht bedeckt. Er ist Kosmopolit, hat in Paris an der Sorbonne, studiert, | |
ist viel gereist. Ab und zu streut er französische Begriffe ein, sein | |
Mitarbeiter reicht französische Schokolade. „Ladies first“ – natürlich. | |
„Isis erklärt Muslime und ihre Herrscher zu Ungläubigen, um seinen eigenen | |
Dschihad zu rechtfertigen“, sagt al-Tayyeb. Der Islam aber lasse sich nur | |
durch Argumente verbreiten, nicht durch Zwang, und „mit Waffengewalt schon | |
gar nicht“. Er sagt bewusst Isis, „Islamischer Staat im Irak und in | |
Syrien“, denn: „Den einen Islamischen Staat kann es nicht geben.“ Die | |
al-Azhar fordert, die Terroristen zu bekämpfen. Sie dürften nicht noch mehr | |
Menschen schaden. | |
Al-Tayyeb will aufklären, einen Kampf um Begriffe führen. Eine fundamentale | |
Reform der Religion aber lehnt er ab, genauso wie die Trennung von Politik | |
und Religion. „Was wir brauchen, ist eine Rückbesinnung auf den Koran, | |
keine neue Interpretation.“ | |
Ob er eine Erklärung für den weltweiten Terror, für den IS habe? „Ja“, | |
sagt al-Tayyeb. Verantwortlich sei das Chaos, das große Mächte in der | |
Region stiften wollten, um eine neue Weltordnung zu schaffen, einen neuen | |
Nahen Osten. Eine Weltmacht, „die sagt, das ist unser Imperium, hier sind | |
unsere Grenzen, hier ist unsere Hauptstadt. Dabei ist es eine arabische | |
Stadt.“ Der Frage, wen er genau meine, weicht er aus. Er muss Israel | |
gemeint haben. „Auch die berufen sich auf die Religion. Warum fordert man | |
denn ausschließlich vom Islam, sich von der Politik zu trennen?“ | |
1961 wurde die al-Azhar verstaatlicht. Seither wird der Großscheich nicht | |
mehr von der Institution selbst gewählt, sondern vom Präsidenten | |
eingesetzt, was ihn weniger glaubwürdig macht. Der al-Azhar wird | |
vorgeworfen, die Entscheidungen des Präsidenten mit der Religion zu | |
legitimieren, dafür bekommt sie staatliche Unterstützung und Immunität. So | |
sollen auch Unruhen vermieden werden. Der Präsident Abdel Fattah al-Sisi | |
hat eine religiöse Revolution von der al-Azhar gefordert. Veraltete | |
Denkweisen hätten den Islam zu einer Quelle der Zerstörung gemacht. Schuld | |
daran seien jahrhundertealte Interpretationen, die einmal für heilig | |
erklärt wurden, sagte al-Sisi in seiner Neujahrsansprache im Januar 2015. | |
Nun hat der Großscheich al-Tayyeb neuen Lehrplänen zugestimmt. Zentrale | |
Begriffe des Islam sollen anders vermittelt werden. Er erwähnt drei dieser | |
Begriffe: Dschihad, Takfir und Hakimiyah. Wann soll ein Muslim in den | |
bewaffneten Kampf ziehen? Wann darf er andere für ungläubig erklären? Was | |
bedeutet Herrschaft, und wer darf über Muslime herrschen? Außerdem soll es | |
einen neuen YouTube-Kanal geben, ein Satellitensender soll der Welt in | |
sieben Sprachen den wahren Islam zeigen. In einem neuen Zentrum sollen | |
wissenschaftliche Antworten auf den IS gefunden und seine Propaganda | |
analysiert werden. | |
Stolz erzählt der Großscheich von diesen Plänen, die doch nur eine Reaktion | |
auf den IS bleiben. „Aber mit Theorie allein kommen wir nicht weit“, sagt | |
er selbst. „Was wir brauchen, ist eine belebte Wirtschaft und | |
Arbeitsplätze. Solange es Armut gibt, gibt es auch Unwissenheit.“ | |
Wissenschaft, Bildung, eine neue Onlinestrategie. Gehört nicht auch | |
Freiheit dazu, wenn man dem IS etwas entgegensetzen will? Meinungsfreiheit | |
und die Unabhängigkeit vom Staat oder einer Herrscherfamilie. In Ägypten | |
gibt es noch immer ein Blasphemiegesetz, das Land ist abhängig von | |
saudischem Geld. Die theologischen Antworten sind vergiftet, weil sie immer | |
politisiert sind. Tunesien, wo traditionell ein offener Islam gelebt wird, | |
ist zu schwach, um seine Interpretation zu transportieren. Die Türkei | |
könnte den Kampf gegen den IS anführen, die Demokratie ist zwar defekt, | |
aber sie ist immerhin noch da. Recep Tayyip Erdoğan hat sich allerdings | |
positioniert, gegen Assad, gegen die Kurden. Er braucht den IS also, um | |
seine Feinde zu bekämpfen. | |
## Istanbul, Türkei:Der Social-Media-Imam | |
Ahmet Mahmut Ünlü spricht nicht gern über Politik. Aber dass die von der | |
Regierung bezahlten Imame, die in den großen Moscheen der Türkei die | |
Freitagsgebete halten, sich nie zum IS äußerten, das wundere ihn doch. Fünf | |
Stunden und zweiundfünfzig Minuten lang redet Ünlü in einer Ausgabe der | |
Talkshow „Teke Tek“ auf dem türkischen Privatsender Haberturk. Bis in die | |
frühen Morgenstunden zieht er über den IS her. Auf YouTube kann man die | |
Sendung nachsehen. Mehr als 400.000 Menschen haben das schon getan, einige | |
von ihnen sogar in voller Länge, wenn man den Kommentaren glauben darf. | |
Der 50 Jahre alte Ünlü, besser bekannt als „Cübbeli Ahmet Hoca“ – was … | |
viel bedeutet wie „Meister Ahmet im Gewand“ – trägt Vollbart, Turban und | |
eine lange, traditionelle Robe, der er seinen Beinamen verdankt. Er redet | |
schnell, mit hoher Fistelstimme, in die er so viel Nachdruck legt, dass sie | |
trotzdem autoritär klingt. | |
Wenn er über den IS schimpft, zitiert er immer wieder Passagen aus dem | |
Koran, um seine Kritik theologisch zu untermauern. Die IS-Terroristen seien | |
eine Bedrohung für alle Muslime und Nichtmuslime dieser Welt, sagt er. | |
Witzfiguren, die noch nicht mal unter ihren echten Namen operierten, | |
sondern alle „Abu irgendwas“ hießen. Und er sei natürlich mal wieder der | |
Einzige, der sich traue, all das auszusprechen. Der Moderator der Sendung, | |
der ansonsten nicht viel zu Wort kommt, nickt. Ja, ja, er könne das | |
bestätigen, Meister Ahmet habe all das schon vor langer Zeit gesagt, und | |
zwar genau hier, in dieser Sendung. | |
Ahmet Hoca ist hier oft zu Gast, bis zu dreimal im Jahr tritt er in der | |
Talkshow auf. Dabei hat er genügend eigene Kanäle. Das Internet ist sein | |
Reich, er ist der König unter den Social-Media-Imamen des Landes. Über 2 | |
Millionen Follower bei Facebook, Hunderttausende bei Twitter, Instagram und | |
auf YouTube, wo er gleich mehrere Kanäle unterhält. Seit etwa einem Jahr | |
hat er außerdem seinen eigenen Fernsehsender, den Internatkanal Lalegül TV. | |
Er kennt sich aus, schon Mitte der Neunziger verdiente er Geld mit der | |
Aufnahme und dem Verkauf seiner Vorträge auf Videokassetten. | |
In seinen Videos beschäftigt sich der Prediger mit allen großen und kleinen | |
Fragen, die fromme Muslime beschäftigen: Ob Oralsex Sünde sei etwa (nicht | |
unbedingt, er kenne jedenfalls keine Stelle im Koran, die ihn verbiete), | |
oder ob man Geburtstage feiern dürfe (ja, es sei denn, man blase Kerzen aus | |
und feiere „wie die Ungläubigen“) oder Hunde als Haustiere halten (nicht zu | |
empfehlen, weil Engel sich dann aus Wohnungen fernhielten). Seine Fans | |
lieben ihn für den Humor und die Hemdsärmeligkeit, mit der er seine | |
konservativen Ansichten unters Volk bringt. Ahmet Hoca ist antimodern, | |
frauenfeindlich und antisemitisch, er glaubt nicht an Demokratie oder die | |
Freundschaft zwischen Andersgläubigen. Er ist für die Vielehe für Männer | |
und die Vollverschleierung von Frauen, die ohnehin zu Hause am besten | |
aufgehoben seien. | |
Eines seiner Lieblingsthemen aber ist der IS. Ausgerechnet ein reaktionärer | |
Turbanträger ist der einzige muslimische Geistliche in der Türkei, der sich | |
medienwirksam mit dem Thema auseinandersetzt. | |
In einem Video aus dem Sommer 2014 erklärt Ahmet Hoca, die Verbrechen des | |
IS seien Vorzeichen des Jüngsten Gerichts. Er habe nichts als Hass und | |
Verachtung für diese Leute. Muslime seien das auf keinen Fall, und ob sie | |
das tägliche Gebet verrichten, halte er für fraglich. Allah werde sie | |
bestrafen. | |
In einem anderen Video zitiert er angebliche Prophezeiungen des Propheten, | |
die sich eins zu eins auf die Terrorbande des IS bezögen: „Eine schwache, | |
unbedeutende Gemeinschaft wird von sich reden machen, sie haben Herzen aus | |
Stahl, tragen Namen, die nicht ihre echten Namen sind. Sie werden einen | |
Staat ausrufen und große Teile der muslimischen Welt angreifen, nehmt euch | |
vor ihnen in Acht“, das habe der Prophet vor 1.400 Jahren verkündet, Ahmet | |
Hocas hohe Stimme überschlägt sich vor Begeisterung. Dann der Appell an | |
seine Follower: „Kommt bloß nicht auf die Idee, euch diesen Verbrechern | |
anzuschließen, um dann irgendwo Menschen zu ermorden und zu behaupten, das | |
wäre für Allah. Und bitte teilt und verbreitet dieses Video, damit | |
möglichst viele junge Menschen es sehen.“ | |
Viele türkische Muslime mögen ihn. Und das, obwohl seine Karriere 1999 fast | |
zu Ende war. Nach einem verheerenden Erdbeben in der Nähe von Istanbul | |
hatte er in einer Predigt erklärt, die Katastrophe sei eine Strafe Gottes | |
für Prostitution, Ehebruch und andere Laster. Die Rede brachte ihm eine | |
zweijährige Haftstrafe wegen Volksverhetzung ein, danach wurde es still um | |
ihn. | |
Irgendwann war er dann plötzlich wieder da – bis er 2011 in einen neuen | |
Skandal geriet. Er stand wegen Verdachts auf Erpressung und Zuhälterei vor | |
Gericht, zeitgleich erschien ein verschwommenes Video, das ihn angeblich | |
beim außerehelichen Sex zeigt. Ahmet Hoca stritt alles ab, wurde auf | |
Bewährung verurteilt. Von den Skandalen redet heute kaum noch jemand, sein | |
Anhängerkreis wächst und wächst. Der IS soll im Jahr 2014 Morddrohungen | |
gegen ihn ausgesprochen haben. Er reagierte mit einer Videobotschaft an | |
seine Fans: Die Todesliste des IS kümmere ihn nicht, die einzigen | |
Todeslisten, die er ernst nähme, befänden sich in den Händen Allahs und des | |
Todesengels Azrael. Seither ist er mit Personenschutz unterwegs. | |
## Berlin, Deutschland: Die Pädagogin | |
Die Propaganda des IS wirkt auch in Europa. Die meisten Europäer, die sich | |
dem IS anschlossen, hatten kaum Ahnung vom Islam. Sie radikalisierten sich | |
in wenigen Wochen, heißt es. Die Mischung aus Actionfilm, Dschungelcamp, | |
Ritterspielen und frühislamischem Kitsch hat sie gelockt. Vielleicht ist | |
der IS doch kein Rückfall in barbarische Zeiten, sondern eine Kultur, die | |
vieles von dem vereint, das junge Menschen anzieht. Im Berliner Bezirk | |
Wedding macht sich eine Frau genau über diese Frage Gedanken. Sie hat einen | |
Artikel geschrieben: „Auf einmal sind wir Mütter und Väter von | |
Terroristen“, erschienen im Magazin Christ und Welt. Iman Andrea Reimann | |
sitzt mit zwei weiteren Frauen in der Küche des deutschsprachigen | |
Muslimkreises. Reimann ist eine zierliche Frau, weißes Kopftuch, lange | |
Bluse über der Jeans. Auch die anderen beiden Frauen tragen Kopftuch. | |
Wedding ist ein Einwandererbezirk, fast die Hälfte der Bevölkerung hat | |
Migrationshintergrund, wiederum die Hälfte davon stammt aus der Türkei | |
oder einem arabischen Land. Nur: Zwei der drei Frauen in dieser Küche sind | |
keine Migrantinnen. Sie wurden in Deutschland geboren und sind zum Islam | |
konvertiert. Eine von ihnen ist Reimann. Iman ist ihr arabischer Vorname. | |
Beim deutschsprachigen Muslimkreis treffen sich Konvertiten und andere | |
Muslime, die sich in den oft ethnisch organisierten Moscheegemeinden nicht | |
zu Hause fühlen. Reimann ist Vorsitzende, sie leitet außerdem einen | |
Kindergarten und ist Expertin für pädagogische Fragen. In ihrem Artikel | |
schrieb sie über muslimische Eltern, die fassungslos erleben, wie sich | |
junge Muslime – schlimmstenfalls die eigenen Kinder – radikalisieren, wie | |
sie Predigern auf den Leim gehen, die im Namen des Islam Krieg führen. Es | |
geht um die Hilflosigkeit dieser Eltern, ihre Scham auch gegenüber der | |
eigenen Gemeinde und darum, dass gefährdete Jugendliche noch stärker | |
ausgegrenzt werden von der sogenannten Mehrheitsgesellschaft. | |
Verändert der IS den Islam? Für die Antwort muss Reimann weit ausholen. | |
„Ja, natürlich“, sagt sie, „und zwar im Negativen wie im Positiven.“ | |
Letzteres wird sie später noch erklären. | |
Der IS mit seinen Tötungsvideos, seinem vor allem gegen Muslime geführten | |
Krieg erfahre doch auch in der islamischen Welt vor allem Ablehnung. Das | |
Problem sei, dass jetzt jeder seine Auffassung vom Islam im Internet | |
verbreiten könne. Ein Handel mit Begriffen sei da im Gange, sagt Reimann. | |
„Junge Leute mögen schlichte, plakative Erklärungen.“ | |
Der Propaganda im Internet könnten etablierte muslimische Gemeinden oft | |
wenig entgegensetzen. Zu dilettantisch, zu uncool. Und auch der | |
deutschsprachige Muslimkreis schafft das nicht. | |
„Nicht nur radikale Onlineprediger sind ein Problem“, sagt Reimann. In | |
einigen muslimischen Familien liefen permanent Fernsehberichte über Kriege | |
in ihren Herkunftsländern, „schrecklichste Bilder“. „Oft sind die Kinder | |
dann ohne jede Erklärung mit der Leidensgeschichte der Familie | |
konfrontiert. Mit Erinnerungen und Emotionen, die gar nicht ihre eigenen | |
sind.“ Das stumpfe ab. IS-Köpfungsvideos seien dann manchmal nur der | |
nächste Schritt. | |
Wenn Reimann, 1973 in Potsdam geboren, seit 1994 Muslimin, über den Islam | |
spricht, benutzt sie oft Worte wie Liebe, Barmherzigkeit, Verständnis. | |
Dabei würde sie wohl nach mancher Definition als Fundamentalistin gelten. | |
„Wir Konvertiten sind eben nicht in traditionell muslimischen Familien | |
aufgewachsen“, sagt sie. „Wir orientieren uns am Koran und den Hadithen.“ | |
Reimann engagiert sich in vielen Dialogforen. Dass sie gesetzestreue | |
Bürgerin und gläubige Muslimin sein kann, steht für sie außer Frage – das | |
ist eine Sache von Partizipation und Aushandlung. | |
Und genau da sieht Reimann die, wenn man so will, positiven Auswirkungen | |
des Drucks, der durch islamistischen Terror entstanden ist: „Wir arbeiten | |
immer stärker zusammen, auch über ethnische und Konfessionsgrenzen hinweg. | |
Wir rücken näher an die Mehrheitsgesellschaft.“ Immer mehr Gemeinden würden | |
sich öffnen, immer mehr Muslime, gerade junge, wollten sich an politischen | |
Prozessen beteiligen. „Sie erkennen die Notwendigkeit, einen Islam zu | |
entwickeln, der in die heutige Gesellschaft passt.“ | |
Reimann wünscht sich, „dass sich die Muslime hier noch mehr frei machen von | |
dem, was sie mitgebracht haben“. Auch wenn es um Themen wie den IS geht. | |
„Es ist bequem zu sagen, da steckten der Mossad und die USA dahinter. Aber | |
mit solchen Erklärungen tun wir Muslime uns keinen Gefallen.“ Stattdessen | |
müsse offen darüber diskutiert werden, wie es zu solchen Entwicklungen wie | |
dem IS kommen konnte. | |
Anouk Beslim, die Muslimin aus der Vorstadt Nizzas, hat ihre eigene Theorie | |
dazu. „Gucken Sie sich doch mal um“, sagt sie und zeigt auf die | |
Bürgersteige voller Schrott und Menschen, die in löchrigen Schuhen | |
vorbeischlurfen. „Hier regiert die Hoffnungslosigkeit. Aber niemand kann | |
hier raus.“ Gerade kämen zwei Dinge zusammen, die es für Muslime in Europa | |
schwermachen, meint Beslim: Die Attentate machten den Menschen Angst. Und | |
sie wollen nicht sehen, dass der Islam friedlich ist. | |
Der Koran ist ein abgeschlossenes Buch, Wissenschaftler gehen davon aus, | |
dass es im siebten Jahrhundert entstand. Der Islam aber ist nicht | |
abgeschlossen, er verändert sich zu dem, was Menschen aus ihm machen. Die | |
einen gehen in den Krieg gegen die Ungläubigen, die anderen predigen | |
Frieden. Vielleicht könnte sich in Europa ein neuer Islam entwickeln, | |
abgenabelt von der Politik der arabischen Länder und der Machtinteressen | |
Erdoğans. Hier könnte man, anstatt auf die Geschichte zu verweisen, in die | |
Zukunft denken und so die Widersprüche zwischen der traditionellen | |
Auslegung und einer modernen Gesellschaft lösen. Die Frage, die bleibt: Ist | |
Europa, vor allem nach dem Horror von Paris, bereit, eine Vision für den | |
Islam zu schaffen? | |
Ständig vibriert Anouk Beslims Telefon. Freundinnen schicken ihr die | |
Meldung, dass ihr Lieblingsbistro, ein Halal-Restaurant, von der Polizei | |
geschlossen wurde. Angeblich hatte ein Nachbar Verdächtiges beobachtet. | |
Viktoria Morasch, 27, ist Redakteurin der taz.am wochenende | |
Annika Joeres, 37, ist freie Autorin in Nizza | |
Jannis Hagmann, 32, ist Redakteur bei taz.de | |
Khalid el Kaoutit, 40, ist freier Autor in Kairo | |
Yasemin Ergin, 38, ist freie Autorin in Hamburg | |
Alke Wierth, 50, ist Redakteurin der taz.berlin | |
21 Nov 2015 | |
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Annika Joeres | |
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