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# taz.de -- 10 Jahre Kanzlerin: Weltpolitikerin Merkelchen
> Merkels Karriere begann in einer Fischerhütte auf Rügen. Jetzt könnte sie
> sich da nützlich machen, findet der Bürgermeister. Ein Besuch.
Bild: Die Kanzlerin 1990 unter Fischern: Das Gebäude in Lobbe wird von Eingebo…
Lobbe taz | Ulrich Kliesow weiß eine Menge über Merkel, weil er sie seit
vielen Jahren kennt. Weil er ihren Anfang als Politikerin erlebt und sie
als CDU-Lokalpolitiker auch ein bisschen mitgefördert hat. Und weil er
meint, dass es nun, nach zehn Jahren, nicht mehr lange gut gehen wird mit
ihrer Kanzlerschaft. „Sie gilt als die mächtigste Frau der Welt. Aber das
ist natürlich eine Blödsinnigkeit.“ Ulrich Kliesow schaut herausfordernd
durch seine Brillengläser. Sie, das ist Angela Merkel, die Kanzlerin. Und
er ist der Bürgermeister von Middelhagen.
Dass Angela Merkel „Wir schaffen das“ gesagt hat, empört Ulrich Kliesow.
Verordnete Hilfsbereitschaft? Das ist für ihn eine absolutistische
Vorgehensweise. Er fühlt sich jedenfalls nicht gemeint, sagt er und
streicht mit seinen großen Händen über die Decke des Besprechungstischs in
der Gemeindeverwaltung. Nach Middelhagen hat es noch keinen einzigen
Flüchtling verschlagen. Dennoch.
Kliesow ist 68, Heimatforscher und Briefmarkensammler. Er hat eine laute
Stimme und trägt zu seinem Seemannsbart eine schwere Goldrandbrille. „Das
Merkelchen“ nennt er die Bundeskanzlerin. In dieser Verniedlichung steckt
viel drin: Vertrautheit, Nähe, Ironie. Auch Enttäuschung. Und eine ganz
eigene Auffassung von Politik. Nützlich muss ein Politiker sein. Sonst
taugt er nichts. Nützlich soll auch das Merkelchen sein. Werden Politiker
nicht genau dafür gewählt? Also.
In Kliesows Gemeinde – genauer gesagt in dem Dörfchen Lobbe – hat vor
fünfundzwanzig Jahren Angela Merkels Verwandlung in jene Politikerin
begonnen, die sie heute ist. Eine Weltpolitikerin. Anwärterin auf den
Friedensnobelpreis. Das Merkelchen. In diesen Tagen, da immer mal wieder
die Erosion ihrer Macht herbeigeschrieben wird, da sie kleiner wird,
menschlicher, auch fehlbarer, da schaut man schon mal, wie das alles
angefangen hat mit ihr.
Am 2. November 1990 öffnete Angela Merkel die Tür eines Fischerschuppens in
Lobbe. Sie war 36 Jahre alt und seit fünf Wochen die Kandidatin der CDU
Mecklenburg-Vorpommerns für die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl. Ihr
Wahlkreis hieß Stralsund-Rügen-Grimmen. Die Frau aus Templin, wohnhaft in
Berlin, kannte dort kaum jemanden. Wahlkreis 267 war der vielversprechenden
Frau Doktor rer. nat. von wohlmeinenden Parteifreunden verschafft worden.
Erobern musste sie ihn schon selbst.
Also machte sie sich im Spätherbst 1990 auf und ging, so kannte sie das aus
dem elterlichen Pfarrhaus, zu den Menschen. Zu fremden Menschen.
## Stille Zuwendung
Man kann dieses Fremdsein gut erkennen auf dem Foto, das an diesem Tag
aufgenommen wurde. Halb rechts im seitlich hereinbrechenden Licht sitzt die
Frau in Jeansrock, Strickjacke und weißem T-Shirt. Ihr Blick geht fragend,
suchend in die Runde. Um sie herum gruppiert: die Fischer in ihrer
Arbeitskluft. Sie schauen aus dem Fenster oder in die Luft. Sie reden, aber
nicht mit der Besucherin. An der Wand hängt das Ölzeug, auf den Tischen
stehen Aschenbecher. Rauch steigt auf.
Die Frau mit den zusammengenommenen Händen wartet ab. Sie ist keine
Bittstellerin. Eher eine Jägerin. Sie lauert. Aber das weiß an diesem
Novembertag noch niemand. Das Foto von diesem Moment jedenfalls steht
seither ikonografisch für Merkels Anfang als Politikerin. Ihr Habitus, der
Blick, die leicht gebeugte Haltung – all das vermittelt den Eindruck von
Passivität.
Heute, 25 Jahre später, weiß man, dass genau das der Denkfehler ist, den
viele begangen haben. Genau diese stille Zuwendung, das ungeheuchelte,
sachliche Interesse gelten längst als strategische Vorteile der
Machtpolitikerin Angela Merkel. Das, was ihr als Schwäche ausgelegt wurde,
hat sie groß gemacht.
Auch damals, im Jahr 1990, schaut sie hin und hört zu, sie fragt nach und
merkt, wo es hakt. Mit Meinungen hält sie sich zurück. Und drei Wochen,
nachdem in Lobbe das Foto gemacht wurde, wählen die Leute diese Unbekannte
aus Berlin tatsächlich mit 48,5 Prozent direkt in den Bundestag.
Offenbar hat sie es geschafft, Vertrauen zu wecken. Selbst in Lobbe, wo
heute noch der Schuppen steht und damals die wortkargen Männer an ihr
vorbeigestarrt haben, bekommt sie 122 von 273 Stimmen. Ulrich Kliesow hat
das mit kleiner Schrift auf einem Blatt Karopapier notiert. Sagenhaft war
das. Und so ist es seitdem immer gelaufen.
## „Krieg ist kein Spaß mehr“
Zweieinhalb Monate später wird Angela Merkel Helmut Kohls
Familienministerin. Sieben Jahre darauf CDU-Generalsekretärin, ab dem Jahr
2000 Parteivorsitzende. Schließlich, fast auf den Tag fünfzehn Jahre nach
ihrem Besuch in Lobbe, wird sie Bundeskanzlerin.
Zehn Jahre ist das an diesem Sonntag her. Und fast genauso lange ist Ulrich
Kliesow nicht mehr Mitglied in Angela Merkels Partei. „Das nimmt ihr keiner
übel, dass sie die Macht in ihre Hände genommen hat“, sagt der
Bürgermeister. Aber dass seine Parteivorsitzende den Irakkrieg befürwortet
hatte, das schon. „Erika, pass auf, das geht zu weit“, hat er zu seiner
Frau gesagt. „Krieg ist kein Spaß mehr.“ Er schrieb einen Brief an die
CDU-Kreisleitung in Bergen. Mit freundlichen Grüßen, und weg.
Sie hat ihm gleich geschrieben. Das könne es doch nicht gewesen sein, sie
wolle noch mal mit ihm reden. Er hat gewartet. Aber sie hat sich nicht mehr
gemeldet. Kliesow hat mit nichts anderem gerechnet. „Da war ich recht
zufrieden“, sagt er. Und: „Ich habe sie nie belästigt.“
Aber jetzt würde er sie ganz gern doch noch mal belästigen. Wegen des
Schuppens. Er steht ja noch immer. Nach dem Krieg sperrte der von der Roten
Armee abgestellte „Fischrusse“ darin manchmal die Lobber Fischer ein, wenn
sie ihre Fangquote nicht erfüllten. Heute nennen sie ihn auf Rügen den
„Merkel-Schuppen“.
## Vielleicht liest sie es
Aber von Geschichtsträchtigkeit ist nichts zu erkennen. Die Brettertür ist
verschlossen. Die Scheiben, durch die 1990 das goldene Novemberlicht
strömte, sind ausgeschlagen. Der Ostseewind pfeift hindurch. Drinnen lagert
ein Gastwirt Tische, Bänke, einen riesigen Grill. Eine schmucke Strandhütte
könnte das hier werden. So hat es Ulrich Kliesows Gemeindevertretung im
Januar beschlossen. Für die Touristen, auch für das eigene
Selbstverständnis. Vielleicht schrauben sie eine Tafel draußen an die Wand,
auf der das Foto zu sehen ist.
Aber es hakt gerade. Das Stalu, das Landesamt für Landwirtschaft und
Umwelt, macht Ärger. Der Schuppen nämlich steht auf einer Länge von drei
Metern auf dem Deich. Das ist verboten. Deshalb haben Kliesow und seine
Gemeindevertreter vorgeschlagen, die paar Meter hinten wegzunehmen, um sie
vorn wieder anzubauen. Aber das Stalu ist nicht zufrieden. Kliesow könnte
gerade ein bisschen Unterstützung brauchen. „Wenn’s nicht anders geht, muss
Merkelchen das regeln“, sagt er. Und dass man das ruhig genau so
aufschreiben soll. Vielleicht liest sie es ja.
Merkel hat noch einmal in dem Schuppen gesessen, da war sie schon
Bundeskanzlerin. Vor sechs Jahren hatte die Bild-Zeitung die Idee, Merkel
erneut auf die Fischer von damals treffen zu lassen. Bürgermeister Kliesow
denkt nicht gern daran zurück. Das Dach war undicht, die angeheuerte
Stralsunder Reinigungsfirma musste mit Vollschutz reingehen, so dreckig war
es darin. „Die Touristen hatten alles vollgeschissen.“ Merkel trug einen
ihrer kamelfarbenen Blazer. Von den beiden Männern, die sich schließlich
mit Merkel trafen, fuhr keiner mehr hinaus auf die Ostsee. Aus den
baumstarken Kerlen waren Wendeverlierer geworden.
Der eine, Eberhard Heuer, sagte: „Damals waren Sie noch jugendlicher. Heute
sind Sie etwas fraulicher.“ Merkel erwiderte: „Wir werden alle nicht
jünger.“
## Es ging um Macht
Es wurde ein gemeinsames Foto im Schuppen geschossen. Merkel und einer der
ehemaligen Fischer sitzen an einem wuchtigen Tisch auf Stahlrohrstühlen.
Beide lächeln. Es sieht ein bisschen so aus, als hätte Angela Merkel ihre
Möbel aus dem Kanzleramt in den grundgereinigten Schuppen mitgebracht.
Kliesow sagt: „Was dem einen sein Tod, ist dem anderen sein Brot.“ Auf
Platt hört sich der Satz lustig an, aber Kliesow meint ihn nicht so.
Er schaut wieder auf das alte Foto vor sich auf dem Tisch. Die Frau, die
Fischer, das Licht. Eine andere Zeit. „Für alle auf dem Bild war das der
Punkt null“, sagt er. Und dass ihr das keiner übel nimmt, dass sie die
Macht in ihre Hände genommen hat. Darum ging es doch damals: um Macht.
Für ihn war das mit Merkel immer ein Geben und Nehmen: Mal hat er sie kurz
vor einer Bundestagswahl den Frauen von der Fischereigenossenschaft
vorgestellt: „Ich will Moritz heißen, wenn die sie nicht gewählt haben“.
Ein anderes Mal bat er sie um Hilfe wegen eines Gemeindegrundstücks. Und er
brauchte Unterstützung wegen des Schulmuseums in Gager.
## Wütend auf die Kanzlerin
Nie hat sie was versprochen. Aber immer hat es danach funktioniert, und
Kliesow hatte dieses Gefühl: „Da hat doch Angie dran gedreht.“ Sie stieg
höher und höher. „Und dann war sie für uns entschwunden.“ Diese Erwartun…
dass Angela Merkel dazu da ist, um Probleme zu lösen. Die Herablassung, die
auch dahintersteckt. Und die Enttäuschung, wenn es mal nicht klappt:
Vielleicht lässt sich so verstehen, warum die Union und ihre Wähler nach
zehn Jahren Kanzlerschaft gerade so wütend auf Merkel sind.
Nach all den Jahren des politischen Pragmatismus fordert sie in der
Flüchtlingsfrage auch mal etwas ein: Haltung, Hilfe, Mitgefühl. Vor allem
Geduld. Aber sie hat versäumt, den Leuten all das beizubringen. Bisher hat
sie ihre Arbeit geräuschlos erledigt. Erklärt hat sie sich nie. Sie hat das
getan, was sie schon 1990 aus dieser Fischerhütte an die Spitze getragen
hat: zuhören, nachfragen, nichts versprechen. Und dann die Dinge regeln.
Das hat sie groß gemacht. Dass sie dieses Prinzip aufgegeben hat, macht sie
verwundbar.
22 Nov 2015
## AUTOREN
Anja Maier
## TAGS
Schwerpunkt Angela Merkel
Rügen
Schwerpunkt Angela Merkel
Union
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