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# taz.de -- Neupräsentation: Mehr als verspielte Ornamente
> Das Museum für Kunst und Gewerbe hat seine Jugendstilsammlung neu
> interpretiert. Das Ergebnis: Die Sonderschau „Jugendstil. Die große
> Utopie“.
Bild: Neue Medien, neue Ideen: Szene aus dem Film „Le Faune“ von 1908
HAMBURG taz | Verspielt? Vielleicht. Und irgendwie steckt auch die
geschwungene Linie drin. Aber was haben diese Schlangenlinien tanzenden
Nackedeis mit all dem zu tun, was die Kunstgeschichte Jugendstil nennt? Und
was mit den floralen, dekorativen Ornamenten, die man heute gemeinhin damit
verbindet? Ganz unbeschwert jedenfalls kommen sie einem gleich hinter dem
Eingang zur neuen Sonderausstellung „Jugendstil. Die große Utopie“ im
Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe auf der Leinwand entgegen: Hand in
Hand läuft ein Reigen nackter Freilufttänzerinnen durch die unberührte
Natur am Monte Verità im Schweizer Tessin.
Eine der bedeutendsten Wiegen der Alternativkultur war die „Vegetarische
Cooperative“, die der deutsch-österreichische Künstler und Aussteiger Gusto
Gräser gemeinsam mit seinem Bruder Karl im Herbst 1900 dort gegründet
hatte. Vegetarismus, Freikörperkultur und Ausdruckstanz; Theosophie,
Anthroposophie und nietzscheanische Lebensbejahung; Pazifismus und
Anarchismus; die gerade entstehende Psychoanalyse und ein neues Interesse
an östlichen Weisheiten. All das trifft in der lebensreformerischen
Künstlerkolonie aufeinander: Ein gemeinschaftlich gelebtes Experiment für
kulturelle Erneuerung jenseits der zunehmend als negativ erlebten
Auswirkungen der Industrialisierung – eine große Utopie und so etwas wie
die Urszene des Jugendstils.
Seit vergangener Woche begleitet die Sonderschau die Neueinrichtung der
Jugendstilsammlung des Hauses. Weltweit gehört sie zu den bedeutendsten
ihrer Art. Nun lässt Kuratorin Claudia Banz sie mit neuen Fragestellungen
und Themen und zugleich in Auseinandersetzung mit den ursprünglichen
Präsentationsformen aus der Zeit ihrer Erwerbung im neuen Licht erscheinen.
Seit ein paar Jahren krempeln Banz und ihre KollegInnen das Museum um,
interpretieren die Sammlung neu, zeigen die Dinge im Kontext, reduzieren
sie statt mit der Masse der Objekte zu protzen.
Begründet hat die Jugendstilsammlung des Hauses der Gründungsdirektor des
Museums Justus Brinckmann in ebenjener Zeit der Umbrüche und
Neudefinitionen, im Sommer 1900 – das Jahr, in dem auch die Kommune am
Monte Verità gegründet wurde. Brinckmann reiste zur Weltausstellung nach
Paris, kaufte Möbel und Teppiche, Keramiken, Glasgegenstände und
Schmuckstücke, Bucheinbände und Plakate. Ganze Raumensembles wie den
„Pariser Saal“ erwarb Brinckmann, der nun im Mittelpunkt der Neueinrichtung
der Dauerausstellung steht.
Es waren umfangreiche, ganz gezielt getätigte Neuerwerbungen, die einem
neuen Konzept folgten: nicht mehr historisch, sondern zeitgenössisch
sammelte Brinckmann, richtete das Museum auf innovative Gegenwartstendenzen
aus, wollte es von der pädagogischen Vorbildersammlung zum Sammlermuseum
und zum aktiven Teilnehmer an zeitgenössischen Diskussionen machen.
Die von Leonie Beiersdorf kuratierte Sonderschau stellt der neu
eingerichteten Welt der Objekte in acht thematischen Gruppen im Mittelgang
dazu bis Anfang 2016 die Welt der Ideen gegenüber. Sie rückt die Motivation
der Künstler, die gesellschaftspolitischen Impulse ins Zentrum. Einen
weiten Bogen spannt die Sonderschau, von den Lebensreformern über Karl
Marx’„Kapital“ und die gesellschaftskritische Novelle „Kunde vom Nirgen…
des britischen Reformkünstlers und Mitgründers der „Arts and
Crafts“-Bewegung William Morris bis zur Bedeutung Nietzsches und der
zarathustrischen Verehrung für den alle Werte umwertenden Philosophen. Von
der Inspiration durch Kunsthandwerk und Malerei aus Japan über Ernst
Haeckels „Kunstformen der Natur“ bis zur Pariser Affichomanie und Plakaten
aus dem Salon des Cent und für die Münchener, Wiener und Darmstädter
Sezessionen.
Mit wenigen, dafür umso beeindruckenderen Versatzstücken vermittelt die
Schau einen guten Eindruck von der Aufbruchstimmung, die die Protagonisten
der nur ein paar Jahre später schon wieder zu Ende gehenden kurzen Epoche
motiviert hat.
Dass das Licht neben der Bewegung einer der Leitbegriffe der künstlerischen
und reformerischen Neuorientierung war, das wird immer wieder deutlich. Den
neuen Kult um die Gesundung des Körpers in und an der Natur, die Suche nach
größtmöglicher Natürlichkeit bebildert neben Fotos von gemeinschaftlich
landarbeitenden Nackedeis oder einem aus Ästen gebogenen Stuhl aus der
Zimmereinrichtung Karl Gräsers ein heute naiv anmutender Apparat: Ein
hygienisches Lichtbad, das den Körper des Stadtmenschen auch dort mit Licht
und Wärme versorgen sollte, wo die konventionelle Kleidung das Sonnenlicht
nicht durchlässt. So etwas wie der Vorläufer der Biosauna in heutigen
Wellness-Tempeln.
Dass die technischen Errungenschaften der Jahrhundertwende nicht für alle
Protagonisten der kulturellen Neuorientierung Ausdruck gefährlicher
sozialer Vermassung war, das zeigt auch die Themengruppe, die der als „Fée
de l‘Electricité“ bekannten Tänzerin Loïe Fuller gewidmet ist. Um 1900 w…
sie in Paris ein Idol, tanzte körperbetont in schleierartigen Gewändern,
auf die sie nach genauer Regie buntes Licht projizieren ließ.
Es ist nicht die umfassende kunstgeschichtliche Einordnung, die die
Sonderschau sich vornimmt. Statt zu erklären, lässt sie Kontexte
nachempfinden und neue Perspektiven auf den oft eben auf hübsches Dekor
reduzierten Jugendstil gewinnen: als große Utopie, deren Impulse bis heute
weiterwirken. Das macht sie zur spannenden Ouvertüre für den Gang durch die
neu eingerichtete Jugendstilsammlung.
24 Oct 2015
## AUTOREN
Robert Matthies
## TAGS
Fußball-EM 2024
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