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# taz.de -- Frankfurter Buchmesse 2015: Die Traumaforscherin
> Die kanadische Schriftstellerin Madeleine Thien schreibt über den
> Massenmord in Kambodscha. Dafür bekommt sie jetzt einen Preis.
Bild: Gebete an einem Massengrab der Roten Khmer.
Wenn es zu den Aufgaben von SchriftstellerInnen gehört, in Abgründe zu
schauen und dort vor schwierigen Entdeckungen nicht zurückzuschrecken, dann
nimmt Madeleine Thien diese Aufgabe sehr ernst. Ihr Debütroman, „Jene
Sehnsucht nach Gewissheit“, handelt von der Beschäftigung mit
Vergangenheit, Trauer und Verlust.
Ihr zweiter Roman, „Flüchtige Seelen“, der nun auf der Frankfurter
Buchmesse mit dem LiBeraturpreis ausgezeichnet wird, widmet sich der
Auseinandersetzung mit traumatischen Erinnerungen – Erinnerungen der
Protagonistin an die Schreckensherrschaft der Roten Khmer im Kambodscha der
1970er Jahre. Weder hat Thien also Angst vor „schwerem“ Stoff noch vor
literarisch bisher spärlich behandelten Themen.
Diese Furchtlosigkeit geht bei Thien jedoch nicht mit nach außen
kommuniziertem Sendebewusstsein einher, sondern eher mit einem nach innen
gerichteten, philosophischen Interesse an elementaren Gefühlen und
Gedanken. Über ihren Roman „Flüchtige Seelen“ sagt sie: „Ich habe viel …
das Schweigen nachgedacht, das den Genozid in Kambodscha umgibt. Erst viel
später entschloss ich mich dazu, meine privaten Aufzeichnungen zu einem
Roman zu verarbeiten.“
So geht es Thien auch weniger darum, mit „Flüchtige Seelen“ ein Zeichen zu
setzen und dem Genozid in Kambodscha mit über einer Million Opfern einen
angemessenen Platz in der kollektiven Erinnerung des Westens zu erstreiten.
Thien interessiert vielmehr der Zusammenhang zwischen Identität und
Erinnerung: „Der Roman fragt: Ist das, was wir sind, untrennbar mit dem
verbunden, was und wie wir erinnern?“, sagt sie.
## Mit Phantasie der Realität nahekommen
Philosophische Fragen wie diese spielen für Thiens Arbeit als
Schriftstellerin eine wichtige Rolle und bringen keine einfachen Antworten
mit sich. Thiens Sprache ist deshalb eine poetische, erforschende,
tastende. Nur selten werden in linearem Sinne Vorgänge oder Handlungen
beschrieben. Thien wählt die Fiktion als eine Weise, sich mit der Realität
auseinanderzusetzen: „Mit Phantasie kann man den verschiedenen
Wirklichkeiten dieser Welt nahekommen“, meint sie.
Thien ist in Kanada als Kind malaiisch-chinesischer Einwanderer
aufgewachsen. Auch ihre Romane bewegen sich zwischen verschiedenen Welten.
Ihr Debütroman spielt in nicht weniger als fünf Ländern: Kanada,
Indonesien, Malaysia, Australien, China und den Niederlanden.
Auch in „Flüchtige Seelen“ ist die innere Zerrissenheit der Protagonistin
zwischen ihrem Herkunftsland Kambodscha und ihrer Heimat Kanada ein
Hauptmotiv. Und ihr neuer Roman, der nächstes Jahr erscheint, handelt von
chinesischen Studenten, die in den 1960er Jahren europäische klassische
Musik am Schanghaier Konservatorium studieren.
## Begründung der Jury
Die Auseinandersetzung mit kulturell geprägten Werten, Geschichten und
Ideen zieht sich wie ein roter Faden durch Thiens Werk und hat auch die
Jury von Litprom, ein Verein zur Förderung der Literatur aus Asien, Afrika
und Lateinamerika, überzeugt. In der Begründung für die Wahl von „Flüchti…
Seelen“ heißt es: „Ein psychologisch tiefgründiger und poetisch erzählter
Roman, der Gegenwart und Vergangenheit komplex verwebt.“
Madeleine Thien hat den Preis auch deshalb verdient, weil ihr Roman
„Flüchtige Seelen“ in Bezug auf aktuelle Themen gelesen werden kann.
Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht vor Krieg und ihren eigenen
traumatischen Erlebnissen. Ihr neues Leben beginnt auf dem kalten Boden
einer zur Erstaufnahme umfunktionierten Lagerhalle.
Wie man eigene Erlebnisse zu einer konsistenten Geschichte verarbeiten, wie
man mit traumatischen Erfahrungen leben lernen kann, ob man selbst ein
anderer wird, wenn man die Vergangenheit hinter sich lässt – das sind
Fragen, die sich heute viele Menschen stellen müssen. Thien zeigt, dass
Literatur ein Weg sein kann, sich ihnen zu nähern.
15 Oct 2015
## TAGS
Kambodscha
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024
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