# taz.de -- Palästinensischer Analyst über „Intifada“: „Eine große Fru… | |
> Für den palästinensischen Analysten Sam Bahour fehlen trotz der | |
> derzeitigen Auseinandersetzungen die Voraussetzungen für eine dritte | |
> Intifada. | |
Bild: Am Kalandia-Checkpoint zwischen Jerusalem und Westjordanland. | |
taz: Herr Bahour, in diesen Tagen ist verstärkt von einer bevorstehenden | |
dritten Intifada die Rede. Wie schätzen Sie diese Möglichkeit ein, und | |
welche Form würde der Volksaufstand gegebenenfalls haben? | |
Sam Bahour: Was wir als die erste und die zweite Intifada bezeichnen, waren | |
recht unterschiedliche Phänomene. Ich persönlich würde nur den | |
Volksaufstand Ende der 80er Jahre als Intifada bezeichnen, denn nur er ging | |
von der palästinensischen Straße aus und hatte eine klare politische | |
Agenda. Die zweite Intifada ab Ende 2000 war demgegenüber ein bewaffneter | |
Konflikt, an dem das Volk kaum beteiligt war. Was wir heute sehen, ist eine | |
große Frustration, die sich in individuellen Gewaltakten und | |
Demonstrationen ausdrückt. | |
Der Unmut ist vor allem Folge der internationalen Unfähigkeit, die | |
israelische Regierung im Zaum zu halten. Israels Regierungschef Benjamin | |
Netanjahu provoziert die Gewalt, und das Ausland lässt es zu. Für eine | |
Intifada sind mehrere Grundvoraussetzungen nötig, die heute nicht gegeben | |
sind. Dazu gehört die palästinensische Einheit und eine starke Führung, | |
Geld und die klare Absage jeglicher Gewalt. | |
Während der ersten Intifada wurden Steine und Molotowcocktails geworfen, | |
sie war also auch gewaltsam. | |
Die Demonstrationen waren nur ein kleiner Teil der Intifada, der Teil, dem | |
die Medien die größte Aufmerksamkeit schenkten. Tatsächlich waren die | |
Generalstreiks und Boykottaktionen, die geschlossenen Universitäten und die | |
Debatten viel wichtiger. All das war aus dem Volk hervorgegangen, bis die | |
palästinensische Führung die Intifada kidnappte und sich zu eigen machte. | |
Rechnen Sie damit, dass die aktuelle Gewalt andauern wird? | |
Was heute geschieht, ist die permanente israelische Aggression, während die | |
palästinensische Führung buchstäblich auf die Knie geht und bettelt, den | |
Friedensprozess wieder aufzunehmen. Die Diplomatie hat versagt und die | |
internationale Gemeinschaft hat versagt. Das Volk hat guten Grund, | |
frustriert zu sein. Trotzdem fehlt eine klare politische Agenda. Ich glaube | |
nicht, dass die Mordanschläge andauern werden, hoffe aber darauf, dass die | |
Demonstrationen weitergehen, die Boykottaktionen und der zivile Ungehorsam. | |
All das sind legitime und gute Mittel im Kampf gegen die Besatzung, der auf | |
keinen Fall in einen bewaffneten Konflikt abrutschen darf, denn dabei | |
würden wir nur verlieren. | |
Präsident Mahmud Abbas hat eine Aufkündigung der Osloer | |
Friedensvereinbarungen, allen voran der Sicherheitskooperation mit Israel, | |
in Aussicht gestellt. Welche Folgen sehen Sie? | |
Bei den Osloer Vereinbarungen geht es nicht nur um die | |
Sicherheitskooperation, sondern sie sind ein ganzes Paket von Abmachungen. | |
Präsident Abbas hat bislang keine Details bekannt gegeben. Wir kennen ihn | |
als einen extrem geduldigen Mann, vielleicht zu geduldig. Für die | |
palästinensische Straße ist seit zehn Jahren klar, dass Israel nie die | |
Absicht hatte, zwei Staaten voranzutreiben. Die israelische Regierung hat | |
vom ersten Tag an ihre Verpflichtungen vernachlässigt, wie zum Beispiel die | |
Öffnung der Verbindungsstraße zwischen dem Westjordanland und dem | |
Gazastreifen. Hätte es eine Verbindung gegeben, würde der Gazastreifen | |
heute anders aussehen und wäre nicht von Hamas regiert. | |
Welche Teilabkommen könnte Abbas auflösen? | |
Er kann Israel zur Verantwortung ziehen, wenn Verträge nicht eingehalten | |
werden. Bewegungsfreiheit oder Anspruch auf Wasser – jetzt, wo wir den | |
Beobachterstatus bei der UNO haben, gibt es für uns völlig neue | |
Möglichkeiten. Wir haben rund ein Dutzend internationale Verträge | |
unterzeichnet und sind Mitglied beim Internationalen Strafgerichtshof. | |
Abbas hat auch den Rücktritt als PLO-Chef angekündigt. Was wird sich auf | |
der Führungsebene tun? | |
Das ist eine interne Angelegenheit, in die sich das Ausland nicht | |
einmischen sollte. Abbas ist kurz vor seinem Abgang, und wir haben gesehen, | |
wie vergangenes Jahr (der frühere palästinensischen Regierungschef) Salam | |
Fajad, ein Mann, der sich opferte für die palästinensische Sache, die | |
politische Bühne verließ, ohne etwas erreicht zu haben. | |
7 Oct 2015 | |
## AUTOREN | |
Susanne Knaul | |
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