| # taz.de -- Musiklabel Bear Family Records: Schallplatten sind sein Honig | |
| > Das Label „Bear Family Records“ kämpft seit 40 Jahren gegen das Vergessen | |
| > in der Popkultur. Jetzt verabschiedet sich Gründer Richard Weize. | |
| Bild: Richard Weize vor fünfzehn Jahren. | |
| Das Teufelsmoor ist nicht für jeden. Plattes Land, hier und da ein paar | |
| Hügel, ansonsten Weiden und Felder, dazwischen Bäume, Entwässerungsgräben | |
| und Kanäle. „Ein grausiges Land, in dem ihr da lebt“, lautete das Urteil | |
| des empfindsamen Dichters Rainer Maria Rilke, als er 1900 seine | |
| Künstlerfreunde in Worpswede besuchte. | |
| Ganz so weit braucht man nicht zu gehen, doch wer große Gesten der Natur | |
| sucht, wird in dieser Gegend kaum fündig werden – das einzig Extreme sind | |
| die verstreuten ursprünglichen Reste des Moors mit seinem | |
| menschenabweisenden Wildwuchs. Die Schönheit, die immerhin mal eine | |
| stattliche Künstlerkolonie anlockte, liegt in der Ambivalenz und einer | |
| nuancierten Monotonie. | |
| In unmittelbarer Nähe von Worpswede, am Rand des Teufelsmoors, liegt das | |
| Dorf Vollersode. Zur international bekannten Adresse wurde die Gemeinde mit | |
| ihren knapp 3.000 Einwohnern allerdings nicht durch die Ansiedlung von | |
| Malern, sondern durch den Zuzug eines manischen Plattensammlers, der zuvor | |
| in Bremen gewohnt hatte: Richard Weize betreibt hier von einem Fachwerkhaus | |
| aus sein Label Bear Family Records, das er vor 40 Jahren gründete. | |
| Abgeschieden liegt der ehemalige Bauernhof, an einer Straße mit nur wenigen | |
| Häusern und viel Wald ringsum. Bären gibt es auch, die sind aber | |
| ungefährlich, da aus Holz, aus kalifornischem Redwood, um genau zu sein. | |
| Weize gab die Skulptur 1994 in Auftrag, inzwischen hat sich das anfänglich | |
| noch rötliche Naturmaterial den Farben seiner Umgebung angepasst und | |
| präsentiert die Bärenmutter mit ihren beiden Jungen in grün-grauen Tönen. | |
| ## Perverse Arbeitswut | |
| Richard Weizes Büro ist untergebracht im ehemaligen Schweinestall, er | |
| empfängt den Besuch hinter seinem wuchtigen Schreibtisch, den Telefonhörer | |
| am Ohr. Es ist Montagvormittag, den 70-Jährigen, grau-weißer Pferdeschwanz, | |
| Dienstkleidung Latzhose und T-Shirt, beschäftigen gerade Probleme bei der | |
| Herstellung einer neuen CD, die dringend gelöst werden müssen. Weizes | |
| Arbeitswut wird gern anekdotisch beschworen, er selbst spricht von | |
| „Perversität“, wenn es um seine Neigung zu hundertprozentiger Genauigkeit | |
| geht. | |
| Das internationale Renommee von Bear Family Records als Reissue-Label für | |
| Vergessenes und Übersehenes aus Country, Rock’n’ Roll und Schlager fußt a… | |
| Weizes Perfektionismus: „Damit das Produkt gut ist, gehe ich über Leichen, | |
| auch über meine eigene“, lautet seine selbstbewusst-selbstironische | |
| Einschätzung. | |
| Da Weize schon früh im elterlichen Betrieb, einer Buchbinderei, mitanpacken | |
| musste, geht seine Kompromisslosigkeit auf eine Art frühkindliche Prägung | |
| zurück. „Bei uns wurde immer gearbeitet. Es gab niemals eine Zeit, wo nicht | |
| gearbeitet wurde. Insofern hatte ich nie das Gefühl, es ist jetzt fünf und | |
| ich muss nach Hause. Ich habe als Kind Bücher gebunden, ich war voll | |
| integriert. Dass man am Wochenende arbeitet, das hat mich gar nicht | |
| gestört.“ | |
| Diese Haltung rächt sich mitunter an ihm. Bear Family Records | |
| veröffentlichen nicht einfach nur Tonträger, sondern in regelmäßigen | |
| Abständen auch üppig ausgestattete Boxen zu einzelnen Künstlern oder | |
| bestimmten historischen Epochen. Ende 2013 erschien etwa die Box „Black | |
| Europe. The Sounds and Images of Black People pre-1927“. Nach der | |
| Entstehungsdauer gefragt, verdreht Weize die Augen. “‚Black Europe‘ hat | |
| vier, fünf, sechs, vielleicht sieben Jahre gedauert. Das krichste einfach | |
| nicht fertig.“ | |
| Als ihm das Thema vorgeschlagen wurde, habe er gedacht: „Na ja, 1899 bis | |
| 1927, schwarze Aufnahmen in Europa, das ist’ne 4-CD-Box, das kann man | |
| verkraften.“ Am Ende waren es 44 CDs und zwei dicke Bücher dazu. „Ich hät… | |
| nie gedacht, dass es allein so viele Illustrationen gibt.“ Besonders stolz | |
| ist er etwa auf die Boxen „Vorbei – Beyond Recall“ mit jüdischer Musik a… | |
| Nazideutschland, „Next Stop Is Vietnam“ und „Spanien im Herzen – Lieder… | |
| Spanischen Bürgerkrieges.“ | |
| ## Vor- und Frühgeschichte | |
| Weizes Fixierung auf die Vor- und Frühgeschichte der Popkultur führt ihn | |
| regelmäßig in die Plattenarchive des Capitol Tower in Los Angeles oder von | |
| RCA in New York. Als verloren geglaubte Original-Masterbänder fand er dort | |
| ordentlich einsortiert in den Regalen vor sich hin gammelnd. Seine | |
| wissenschaftliche Akribie folgt keinen ökonomischen Überlegungen, sondern | |
| lässt sich allein mit Selbstausbeutung aus Leidenschaft erklären. „Ich war | |
| nie an Geld interessiert“, lautet sein Credo. „Ich wollte eigentlich immer | |
| nur, dass ich davon leben kann.“ Auch seine Erklärung, warum ihm große | |
| Profite gar nicht genutzt hätten, klingt unmittelbar einleuchtend. „Was | |
| hätte ich denn gemacht mit mehr Geld? Ich hätte nur mehr Platten gemacht, | |
| und dazu hatte ich keine Zeit.“ Projekte abgeben ist seine Sache nicht. | |
| „Dann macht es keinen Spaß mehr.“ | |
| Angefangen hat seine Begeisterung für Musik im zarten Alter von zehn | |
| Jahren, Mitte der Fünfziger. Er war in den Plattenladen gegangen, um eine | |
| Single von Bill Haley mit dem Titel „R.O.C.K.“ zu erstehen. Der Händler | |
| hatte aber nur „Rock Around the Clock“. Also nahm Weize halt die mit nach | |
| Hause. Und wollte von da an immer mehr von dem Zeug. Bald schon entwickelte | |
| er erste Ansätze von Geschäftssinn, bestellte mit dem Briefkopf des | |
| Buchladens seiner Mutter in den USA Schallplatten zu Großhandelspreisen für | |
| sich und seine Freunde und ließ sich für die Platten eine | |
| Vermittlungsgebühr zahlen, womit er die eigenen Plattenwünsche finanzierte. | |
| Auf verschlungenen Pfaden – zwischenzeitig war er Weinvertreter in London – | |
| kam er in den siebziger Jahren zu dem Entschluss, ein eigenes Label zu | |
| gründen. Er hatte zu dem Zeitpunkt schon eine Frau und zwei Kinder, aber | |
| weder Job noch Einkommen. „Das war das Einzige, wovon ich etwas verstand.“ | |
| Anfangs brachte er Country-Musiker wie Bill Clifton und Hedy West heraus, | |
| nicht eben ein Mainstream-Programm. Mit der Platte „The Unissued Johnny | |
| Cash“ erschien 1978 dann der erste Titel, der von einer großen Plattenfirma | |
| lizenziert war, mit unveröffentlichten frühen Aufnahmen aus den Archiven | |
| von Columbia Records. | |
| Da es heute scheinbar alles an Musik aus vergangenen Epochen im Internet | |
| gibt – sofern als Tonaufzeichnung vorhanden –, wirkt ein Label wie Bear | |
| Family ein bisschen wie ein Anachronismus. Downloads gibt es keine, sie | |
| würden dem Geschäftsmodell ohnehin zuwiderlaufen: Eine Box wie zum Beispiel | |
| „West Indian Rhythm“ mit Calypso-Aufnahmen aus Trinidad aus den dreißiger | |
| Jahren ist ein Liebhaberobjekt, das als bloßer Datensatz – immerhin zehn | |
| CDs – wenig von der Mühe ahnen ließe, die auf ihre Zusammenstellung | |
| verwendet wurde. | |
| ## Der Sammler stirbt aus | |
| Bei der Suche zu der Box war auch etwas Glück im Spiel. 300 Aufnahmen | |
| stammen aus Trinidad. „Da gab es eine ganze Menge unveröffentlichte, die | |
| auch alle noch da waren, bis auf zwei“, so Weize. Der Calypso-Experte John | |
| Cowley, der die Box betreute, erfuhr über einen Freund dann von einer Witwe | |
| in Schottland, die alte Platten ihres Bruders im Keller stehen hatte. | |
| Darunter auch eine der beiden verschollenen Aufnahmen aus Trinidad. | |
| „Wie kommt das von Trinidad nach England?“ Weizes Erklärung: „Der Bruder | |
| war bei der Armee in Trinidad, ist nach Indien versetzt worden und dann | |
| nach Haus gekommen und hat seinen ganzen Kram mitgebracht. Der landete bei | |
| der Schwester im Keller.“ | |
| Bei aller Besessenheit macht sich Weize wenig Illusionen, was die fernere | |
| Zukunft seines Labels angeht. „Im Prinzip ist es so: Der Sammler im | |
| weitesten Sinne, der stirbt aus.“ Er selbst hat in diesem Jahr seine Firma | |
| mit ihren rund 20 Mitarbeitern abgegeben an den Geschäftsführer Detlev | |
| Hoegen und Michael „Ohlly“ Ohlhoff. Die soeben erschienene Jubiläums-CD �… | |
| Years Bear Family Records“ ist zugleich ein Abschiedsgruß. Musiker von Ry | |
| Cooder bis zu Bela Felsenheimer und Gunter Gabriel erweisen dem scheidenden | |
| Chef darauf mit nicht immer ganz ernst gemeinten Bären-Songs die Ehre. | |
| Weize fürchtet bei dem Generationswechsel in seinem Hause schon um sein | |
| Erbe, jedoch mit Augenzwinkern: „Also diese Sorgfalt, die ich an den Tag | |
| lege, passiert dann sicher nicht mehr. Wenn ich 100 Prozent anstrebe, | |
| werden vielleicht nur 90 Prozent angestrebt. Aber das ist immer noch mehr | |
| als bei anderen Firmen.“ | |
| 2 Aug 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Tim Caspar Boehme | |
| ## TAGS | |
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