# taz.de -- Die Wahrheit: Honighauchs Frühling | |
> Es gibt noch ein anderes Leben als das auf dem Bock: die weite Welt der | |
> Poesie. Bekenntnisse eines dichtenden Lasterfahrers. | |
Bild: Im Stau bleibt Lasterfahrern viel Zeit, um Verse zu schmieden. | |
Als geborener Berufskraftfahrer war meine Welt nunmehr seit einigen Jahren | |
mehr oder minder eingefahren. Selbst Abwege von der Sauerlandlinie, die | |
meine Lebensader sein sollte, erschienen mir wie längst erkannte | |
Lebenslügen, die nicht darüber täuschen könnten, dass eines Tages der Tank | |
auch meines Daseins leer sein würde. Ob Meschede, Werdohl oder Plettenberg, | |
alle Wege führen zur großen Endladerampe. Irgendwann ist Feierabend. Was | |
also tun, wie herauskommen aus dem Lebensentwurf der Klasse zwei? | |
Ich tat einfach das, was jeder Kollege auf einem Vierzigtonner in meiner | |
Situation machen würde, ich wurde Online-Dichter auf dem zweiten | |
Bildungsabweg und loggte mich bei poetry.de ein. Ein Blick in den Spiegel | |
erleichterte mir die Wahl des Pseudonyms ungemein: grauer Bart, Bierbauch | |
und Glatze … was hätte da besser gepasst als „Honighauch“? | |
## In der elbenhaften Zauberwelt | |
Sofort bekam ich eine Mail, die bestätigte, dass ich von nun an der | |
elbenhaften Zauberwelt zugehörte, in der später „Sirius 43“, „freche He… | |
und „Mondkalb“ meine Freunde werden sollten. „Hallo Honighauch“, hieß … | |
da, „es ist schön, dass es dich gibt.“ Nur kurz bereute ich, ein | |
alternatives Alter ego wie „Hirntumor 88“ verworfen zu haben, das sich | |
deutlich kon- trastreicher in den Textbaukasten eingefügt hätte: „Hallo | |
Hirntumor, schön, dass es dich gibt“ hätte sicherlich dem einstigen Cowboy | |
der Landstraße ein verwegenes Lächeln ins bartbestoppelte Gesicht | |
gezaubert, doch ich war mit „Honighauch“ zufrieden, gewürzt mit den | |
pikanten Eckdaten „18, weiblich und traurig“ sogar hochzufrieden. | |
Ich fühlte mich frisch, weich, inspiriert und reichlich angetrunken, als | |
ich mich kopfüber in den sozialen Brennpunkt des Landes Poetry stürzte. Die | |
Zeilen von „Mondkalb“ beeindruckten mich sofort: „Die Tentakeln meines | |
immer wollenden Willens trocknen traurig an den goldenen Laternen von | |
Utopia.“ So die klangvolle Ouvertüre eines von Selbstmitleid und Raumschiff | |
Enterprise grundierten Epos. Ich las nicht weiter, aber kommentierte das | |
ganze Schaffen: „Am Anfang echt musste ich schlucken, liebes Mondkalb, aber | |
dann echt so wow!“, trieb ich meine soziale Integration zärtlich voran und | |
fühlte mich wie Brigitte Mohnhaupt, die, im Osten abgetaucht, einfach nur | |
Zigaretten kauft. | |
Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. „Ich weiß, lieber kleiner | |
Honighauch, aber so bin ich einfach. Heiß und dabei kalt, lachend und dabei | |
traurig.“ Alles klar, dachte ich mir, ich gehöre dazu. Ich nutzte meinen | |
Lauf und stellte mein erstes Gedicht ein: | |
Viel zu Frühling | |
Der Tag ist da, noch nicht bestellt, / heller und wärmer als Stunden zuvor. | |
/ Das Gemüt es ist noch nicht erhellt, / die Knospe fast geschlossen. / | |
Blüten und Sonne, Menschen und Gäste, / warten mit Geschenken am Tor. / Sie | |
bitten und fordern das schlafende Herz, / schau nicht so verdrossen. / Doch | |
was geht es mich an, das Spatzengelaber, / was kümmert mich der | |
Fruchtbarkeit Ruf, / wo ist der Schöpfer der jetzt auf gleich, / | |
Überschwang und Freude schuf? / Er sitzt in Pantinen gemütlich und faul, / | |
vor seiner Schöpfung und gähnt. / Der Menschheit Tanz ihn einst erfreut, / | |
auf Dauer ihn einfach nur lähmt. / So bewegt er die Welt, bewegt er das | |
Herz, / er selbst bewegt keinen Huf. / So lass ich die Gäste, die Spatzen | |
und ihn, / grimmig und faul nun wissen, / den Tag, ich hab ihn nicht | |
bestellt, / und bleib in meinen Kissen. | |
Ich konnte kaum glauben, was ich da geschrieben hatte. Als nächstes bekam | |
ich eine persönliche Post von „Tränen- asche“, die sich dafür entschuldi… | |
mich „Honigbauch“ statt „Honighauch“ genannt zu haben. Ich fragte sie, … | |
sie das witzig fände, und machte ihr klar, wie schlimm es sei, schon wieder | |
nicht verstanden zu werden, und dass es mir in der Klinik genauso gegangen | |
wäre. Die anschließenden Beteuerungen, meine Gefühle nicht verletzen zu | |
wollen, drohten meine Festplatte zu überfordern, gelesen habe ich sie | |
ebensowenig wie das komplette Werk von „Mondkalb“. Wie mir „Lichtsohn“ | |
jedoch versichern konnte, hatte sich „Tränenasche“ längst bei „freche H… | |
und „Sirius 43“ trösten lassen. | |
## Unter familiären Silbenschacherern | |
Beeindruckt von dem kellyfamiliären Zusammenhalt der digitalen | |
Silbenschacherer und dem nunmehr dritten Sixpack begann ich, | |
zugegebenermaßen recht spät, nachzudenken. Welch Zusammenhalt! Welche | |
Ehrlichkeit und welcher Mut, die Person, die auf dem Lichtbild des eigenen | |
Ausweises dargestellt ist, weit hinter sich zu lassen, um sie der Vision | |
einer besseren Welt zu opfern. Ich beschloss, es ihnen gleichzutun, ließ | |
„Honighauch“ auf ein Nummernschild stanzen und legte es hinter die | |
Windschutzscheibe meines Lkws. | |
Die Schmähungen meiner Kollegen stellten alle Boshaftigkeiten in den | |
Schatten, die ich je auf poetry.de verbreitet hatte. „Hirntumor 88“ wäre | |
die eindeutig bessere Wahl gewesen. Trost fand ich einzig bei meinem | |
Kollegen Dieter, der trotz eines Kampfgewichts von 130 Kilo und seiner | |
untätowierten Handinnenflächen die richtigen Worte fand: „Irgendwann ist | |
Feierabend.“ | |
3 Aug 2015 | |
## AUTOREN | |
Holger Engel | |
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