# taz.de -- Nachruf Rudi Thiessen: Der letzte Dandy West-Berlins | |
> Rock ’n’ Roll und Religion gehörten für Rudi Thiessen zusammen wie Dona… | |
> Duck und Thomas von Aquin. Der Religionswissenschaftler war ein Denker | |
> der Leidenschaft | |
Bild: Rudi Thiessen. | |
Wenn der Berliner Religionswissenschaftler Rudi Thiessen etwas verachtete, | |
dann war es neben dem Elfenbeinturm die Humorlosigkeit. Er war viel zu | |
klug, katholisch und antiautoritär, um solch niedere Instinkte sein Leben | |
bestimmen zu lassen. | |
Statt sich an der Universität auf eine ordentliche Professor hochzuboxen | |
und andere wegzubeißen, polemisierte er mit seinen Studierenden, ging | |
Fußball gucken oder in den Keller, um mit seiner Band die | |
Bob-Dylan-Tonlagen zu proben. Nie ohne Hut, Dreiteiler, Zigarillo und dem | |
Sportteil einer Tageszeitung unter dem Arm, war der 1950 in Ulm geborene | |
habilitierte Philosoph und Wirtschaftswissenschaftler der letzte | |
akademische Dandy Westberlins. | |
Rock’n’ Roll und Religionswissenschaft – was heute überaus naheliegend | |
erscheint, war in den 70er Jahren noch ein Skandal. Rudi Thiessens | |
Dissertation, beim Berliner Religionsphilosophen Klaus Heinrich | |
eingereicht, 1981 unter dem Titel „It’s only Rock’n’ Roll but I like it… | |
publiziert, war ein akademischer Aufreger. | |
Als einer der ersten in Deutschland hatte Thiessen im Aufbegehren der | |
Popkultur eine Erzählweise gesehen, die Kapitalismus, | |
Geschlechterverhältnis, Geschichtsbewusstsein und Mythos verhandelt und sie | |
als Gegenstand akademischer Forschung ernst genommen. | |
## Blasierte Intelligenz | |
Nur ein paar Jahre später wäre er damit Teil eines Denkens und Schreibens | |
geworden, das sich heute Kulturwissenschaft oder Popkritik nennt. So aber | |
war er nicht nur zu früh. Er verbaute sich auch seine Karriere an der | |
Universität. Er sah sich Zeit seines Lebens zweierlei Misstrauen | |
ausgesetzt, die er schon in seiner Doktorarbeit beschrieben hatte: „dem der | |
Rockkritiker, das in einem Intellektualismusvorwurf mündet, und dem von | |
Adorno in den Prismen unterstellten Kulturdefaitismus“. | |
Die einzige Blasiertheit, die ihn interessierte, war die Rolle, die sie | |
innerhalb der ästhetischen Theorie spielt. Als Verehrer Walter Benjamins | |
war Thiessens große Leidenschaft die Reaktion der Großstädter auf die Reize | |
des modernen Lebens, die Herausbildung von Intellektualität als Form des | |
Widerstands gegen die Zumutungen dieser Welt, die sich in Kunst, | |
Philosophie, Literatur, Dandytum und Protestbewegungen zeigte. | |
Von Thiessen lernen hieß: leidenschaftlich denken. Wenn Rudi Thiessen über | |
Martin Heidegger, Ernst Jünger, Carl Schmitt oder Jakob Taubes sprach, tat | |
er das nie ohne Verweise auf seine philosophischen Hausgötter Walter | |
Benjamin, Sigmund Freud oder Jacques Derrida. | |
Fast wichtiger aber waren ihm seine Fußnoten und Verschränkungen zu Texten | |
und Rhythmen von Bob Dylan, The Who, den Rolling Stones oder Tocotronic, zu | |
Zeilen von Saul Bellows, Thomas Pynchon, Edgar Allan Poe oder Thomas Mann, | |
zu Stichen von Piranesi, Filmszenen von Pasolini oder Wim Wenders, | |
Graffitis an Berliner Häuserwänden, Werbeslogans einer Supermarktkette oder | |
Bundestagsdebatten. | |
## Übersetzen und Stellung beziehen | |
Thiessen war ein Universalgelehrter. Was man dachte, das war für ihn nicht | |
allein abhängig von dem, was man las, sondern was man neben der Lektüre | |
ansonsten von der Welt wahrnahm. Bettler in Palermo, Ergebnisse der zweiten | |
Bundesliga, Punk- und Philharmoniekonzerte oder Bergwanderungen konnten das | |
genauso sein wie Donald-Duck-Comics und alles von Thomas von Aquin. | |
Für Thiessen bedeutete Denken zweierlei: übersetzen und Stellung beziehen. | |
So leise er auch sprach, so wichtig war es ihm, dass das, was er zu sagen | |
hatte, auch unterhielt. Seine Thesen waren aufs Genaueste radikal und aufs | |
Beste polemisch – immer mit vollem Einsatz, und immer mit dem Risiko, an | |
die Wand zu fahren. | |
Papst Benedikt XVI. unterstellte er in einem Beitrag für die taz einen | |
Vernunftbegriff, „wie ihn in der deutschen Philosophie zuletzt Max | |
Horkheimer und Theodor W. Adorno vertraten“. Die deutsche | |
Camping-Leidenschaft der Nachkriegsjahre erklärte er mit dem Wunsch, | |
nachzuempfinden, wie es sei, in einem Lager zu leben. | |
Der Klage der Nachkriegsdeutschen, dass es lebensgefährlich gewesen wäre, | |
Widerstand gegen die Nazis zu leisten, entgegnete er, dass man ja auch | |
einfach hätte im Bett liegen bleiben können, statt den Juden die Wohnungen | |
leer zu räumen. | |
Sein Geld hat Thiessen nie mit der Religionswissenschaft verdient, sondern | |
mit Lehraufträgen an der Hochschule für Wirtschaft und Recht, wo er | |
Vorlesungen zur Politischen Ökonomie hielt. Da hatte er zuletzt sogar mehr | |
Spaß als an der kannibalisierten Freien Universität. Die Schüler dort | |
hätten zwar keine Ahnung, wer Karl Marx gewesen sei, aber es würde sie | |
wenigsten noch interessieren, was der zu sagen habe. | |
Das erotische Verhältnis zur Universität, Bedingung für eine Lehre, die der | |
Gesellschaft ein Bewusstsein von sich selbst geben könnte, war längst | |
Geschichte geworden. Rudi Thiessen hinterlässt eine Geschichte voller | |
Leidenschaften. Vergangene Woche verstarb er im Alter von 65 Jahren in | |
Berlin. | |
29 Jul 2015 | |
## AUTOREN | |
Doris Akrap | |
## TAGS | |
Abriss | |
Hardcore-Punk | |
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