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# taz.de -- Fernsehen als Einschlafhilfe: Hitler ist mein Sandmann
> Der Fernseher begleitet unseren Autor in den Schlaf. Am besten
> funktionieren Dokus über das Dritte Reich. Doch was macht das mit der
> Psyche?
Bild: Wer bringt den Schlaf?
Musikkassette rein, Playknopf drücken, ab ins Bett. Wenn es gut lief, war
ich bis zum Ende der ersten Seite eingeschlafen. Zu Bibi Blocksberg, den
Drei Fragezeichen oder Benjamin Blümchen. Kindereinschlafhilfen eben.
Später habe ich mich immer wieder von der tiefen Stimme des Satirikers Max
Goldt in den Schlaf wiegen lassen. Nach ein paar Monaten kannte ich beinahe
alle seine Hörbücher, das machte das Einschlafen noch leichter. Bloß nicht
zu viel Spannung aufbauen, kaum mehr hinhören, Inhalte überwinden.
Dann kam der Fernseher. Das Programm zum Einschlafen war beliebig,
zunächst. Talkshows, Actionfilme, Dauerwerbesendungen, Heimatschmonzetten.
Vor einer Weile bin ich auf härtere Kost umgestiegen: Hitler-Dokus. Eine
Freundin erzählte mir, dass Hitler ihr Sandmännchen sei. Und ja, er wurde
auch meins. Abends, nachts blieb ich immer wieder hängen auf N24, ZDFinfo,
Phoenix. „Hitler und die Frauen“, „Hitler und das Geld“, „Heil Hitler…
Alaaf“, „Hitlers nützliche Idole“, „Krankenakte Hitler“.
Allein in den ersten vier Monaten 2014 liefen 242 Dokus im deutschen
Fernsehen mit „Hitler“ im Titel, so hat es jedenfalls das
Forschungsinstitut Media Control ermittelt. Jeden Tag also im Schnitt zwei.
Ein unerschöpflicher Vorrat an Sandmännchen-Geschichten. Ausreichend für
Jahre.
## Die heimliche Obsession
Seitdem die Mediatheken dank Smart-TV noch einfacher per Knopfdruck auf der
Fernbedienung zu erreichen sind, kann die Einschlafhilfe – wie damals bei
Bibi, Benjamin und Justus Jonas – jederzeit aktiviert werden.
Ich spreche mit Kollegen, Freunden, Bekannten über meine heimliche
Obsession. Viele schütteln den Kopf, sind verwirrt, denken nicht
Ausgesprochenes über mich. Aber einige offenbaren sich. Ich bin nicht
allein. Eine profunde Statistik gibt es nicht, nur Ich-Empirie. Die aber
besagt klar: Hitler-Dokus zum Einschlafen sind ein weit verbreitetes
Phänomen, nur spricht kaum jemand darüber. Ist ja auch nicht so sexy. Und
man will ja auch nichts verharmlosen.
Aber ist es gesund, sich von Weltkriegsbildern einschläfern zu lassen?
Hans-Günter Weeß beruhigt. Er ist Psychologe und Vorstandsmitglied bei der
Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin. Ein wahrer
Experte also. Ist es problematisch, sich von Hitler in den Schlaf begleiten
zu lassen?
„Die innere Haltung ist wichtig. Je langweiliger das Programm, desto besser
ist es als Einschlafhilfe geeignet. Stimulierende Reize stören, es muss öde
sein.“ Hitler ist also langweilig? Stimmt. Irgendwie. Also nicht
bagatellisierend langweilig, sondern befreiend langweilig. Neue Wendungen
sind ausgeschlossen, alles ist bekannt. Die geschichtliche Epoche ist
vorbei, abgeschlossen.
„Wir können besonders gut einschlafen, wenn wir uns in einer monotonen
Situation befinden, das ist beruhigend“, sagt Weeß dann. Auch das passt zu
den Hitler-Dokus. Meist leitet eine sonore, männliche Stimme durch die
Filmaufnahmen. Ab und zu ein paar orchestrale Musikeinlagen, dann
Zeitzeugen und Experten, die unaufgeregt berichten. Einzig Hitlers
aufgeregte Stimme stört die Monotonie.
Wirken sich die Inhalte, die zum Einschlafen auf uns einprasseln, auf den
Schlaf aus? „Es kommt eher selten vor, dass man psychischen Schaden
davonträgt, der Schlaf schlechter wird, weniger erholsam“, sagt Weeß.
Allerdings ist der Schlaf vor dem Fernseher ganz allgemein oberflächlicher.
Klingt, als könne ich weitermachen wie bisher. Sorgen vor psychischen
Folgen, vor unverarbeiteten Traumata scheinen unbegründet.
## Sonore Stimmen, seltene Schnitte
Kritischer ist Psychoanalytiker Stephan Hau. „Besonders affektiv-belastende
Bilder und Inhalte sind problematisch“, sagt er. Und: „Hitler-Dokus sind
mit Sicherheit affektiv-belastend, extrem belastend.“
Mist.
Ich erzähle von sonoren Stimmen, von beendeten Epochen, von den Drei
Fragezeichen – die ja auch oft beunruhigende Dinge erleben – von
beruhigender Musik und seltenen Schnitten. Versuche den Psychoanalytiker zu
überzeugen.
Es funktioniert. Ein bisschen.
„Wenn Sie das so erzählen, dann klingt das tatsächlich nach einer
Gute-Nacht-Geschichte für Erwachsene, wie früher Märchen für Kinder. Mit
Schreck und Blut getränkt.“ Hitler-Dokus als Fantasiehilfe im geschütztem
Rahmen, sagt Hau noch. Ohne dass die Gefahr bestünde, dass alles
Wirklichkeit wird. Eine Art Beruhigungsmittel also, die man sich selbst
verabreicht. „Aber das müssen Sie doch nicht unbedingt vor dem Einschlafen
machen.“
Was sagt die Hitler-Doku-Obsession über mich aus? Warum nicht einfach Dokus
übers Meer oder die Müllabfuhr? Hau will sich jeder wilden Spekulation
enthalten, will mich besser kennenlernen. Nur so sei eine fundierte
Psychoanalyse möglich.
Hat er Tipps für alternative Einschlafhilfen?
Rituale seien gut, sagt Hau. Schlafen im Schlafzimmer, nicht dort, wo man
isst oder sonst was macht. Den Schlafplatz deutlich abgrenzen vom Rest des
Alltags. Kein TV, kein Tablet, kein PC. Lieber lesen, nicht zu schwer essen
und nicht zu viel Alkohol trinken. Sich verlangsamen.
„Gedankliche Distraktion, innerliche Entpflichtung vom Alltag“, rät
Schlafforscher Weeß. Und ganz konkret? „Erinnerungen an schöne Erlebnisse
des Lebens, die das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit geben.“ Oder
Fantasiereisen, Wanderungen am Strand, sich vorstellen, wie sich das Moos
anfühlt, welche Vogelstimmen man hört. Mit allen Sinnen erleben.
Meine Fantasie kreiert sofort neuen Einschlafstoff. „Hitler und das Meer“,
„Hitlers Tierwelt“, „Hitlers siebter Sinn“.
16 Jun 2015
## AUTOREN
Paul Wrusch
## TAGS
Schlaf
Fernsehen
Adolf Hitler
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Spiegel Online
Tschechien
Schlaf
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