# taz.de -- Bildungsprotest in Chile: Jetzt muss sie liefern | |
> Die Proteste für bessere Bildung in Chile flammen wieder auf. Die | |
> Mitte-Links-Regierung hat viel versprochen und wenig gehalten. | |
Bild: Die Polizei ging zuletzt heftig gegen Demonstranten in Santiago vor. Die … | |
BUENOS AIRES taz | Wenn Chiles Präsidentin Michelle Bachelet am Donnerstag | |
im Kongress ihre Rede zur Lage der Nation hält, dann werden die | |
Studierenden und Beschäftigten im Bildungssystem genau zuhören. Bachelet | |
hatte versprochen, das staatliche und kostenlose Bildungsangebot wieder | |
auszubauen. | |
„Am 21. Mai erwarten wir von der Präsidentin, dass sie sagt, was bei der | |
Bildungsreform ihre wirklichen Absichten sind“, so Valentina Saavedra, die | |
Vorsitzende der chilenischen Studierendenvereinigung Fech. Allzu groß sind | |
die Hoffnungen der Studierenden jedoch nicht. Schon jetzt ist für das | |
kommende Wochenende ein Treffen vereinbart, um die weiteren Schritte nach | |
der Rede der Präsidentin zu beraten. | |
Erst vergangenen Donnerstag hatten wieder Zehntausende Lernende und | |
Lehrende landesweit für mehr Mitsprache bei der Bildungsreform | |
demonstriert. Allein in der Hauptstadt Santiago gingen nach den Angaben der | |
aufrufenden Studierendenverbände rund 150.000 Lernende und Lehrende auf die | |
Straße. Die Polizei sprach dagegen von 50.000. | |
## Zwei Menschen erschossen | |
Überschattet wurden die Demonstrationen vom Tod zweier Demonstranten in der | |
Hafenstadt Valparaíso. Die 18 und 24 Jahre alten Studenten wurden | |
erschossen, als sie Plakate an einer Hauswand befestigen wollten. Der | |
mutmaßliche Schütze, der Sohn des Hausbesitzers, wurde festgenommen. | |
„Bildung ist ein Konsumgut.“ Dieser Satz schlüpfte dem damaligen | |
Präsidenten Sebastián Piñera auf dem Höhepunkt der Studentenproteste 2011 | |
aus dem Mund. Er zeigte nicht nur die Einstellung von Bachelets | |
konservativem Amtsvorgänger, sondern spiegelt die Einstellung großer Teile | |
der Bevölkerung gegenüber dem Erziehungswesen wider. Damals gingen die | |
Studierenden auf die Straßen und forderten erstmals ein kostenloses | |
Universitätsstudium. | |
Die neoliberale Politik während der Pinochet-Diktatur von 1973 bis 1990 und | |
in den Folgejahren hat die Mentalität der Bevölkerung tief geprägt. Alles | |
ist Ware und hat seinen Preis. Schule, Universität, Ausbildung machen da | |
keine Ausnahme. Unter Pinochet waren die Schulen und Hochschulen weithin | |
privatisiert worden. | |
## Ausbildung ist Privatsache | |
Bildung gilt vielen ChilenInnen wie selbstverständlich als private | |
Angelegenheit. Demnach muss sich der Einzelne oder seine Familie um die | |
Finanzierung kümmern. Nach Angaben der OECD geben chilenische Eltern | |
durchschnittlich 22 Prozent ihres Einkommens für die Bildung ihrer Kinder | |
aus. Mehr als doppelt so viel wie in den USA und ein Vielfaches mehr als | |
europäische Eltern. | |
Wenn die Studierenden gegen diese Einstellung protestieren und ein | |
staatlich finanziertes kostenloses Bildungssystem fordern, dann lehnen sie | |
sich auch gegen dieses verinnerlichte neoliberale Wertesystem auf. | |
Bildungsprotest in Chile ist mehr als das Einfordern einer guten | |
Ausbildung. | |
Ende Januar 2015 hatte sich der Kongress nach zähen Verhandlungen endlich | |
auf eine Teilreform geeinigt. Ab März 2016 dürfen staatlich subventionierte | |
Bildungseinrichtungen keine Gewinne mehr erzielen. Die staatlichen | |
Zuwendungen sollen allmählich erhöht werden, gleichzeitig müssen die | |
Schulgebühren sinken. Finanziert wird das Vorhaben durch eine ebenfalls | |
verabschiedete Steuerreform. | |
Der wichtigste Punkt ist jedoch, dass den Schulen ab diesem Zeitpunkt die | |
Auswahl der Schüler nach finanziellen Kriterien untersagt ist. „Damit | |
beenden wir ein System, das uns von der Diktatur auf dem Rücken des Volkes | |
aufgezwungen wurde“, begrüßte der damalige Bildungsminister Nicolás | |
Eyzaguirre die Entscheidung. | |
Doch trotz dieses Reformfortschritts herrscht unter den Lernenden vor allem | |
das Misstrauen vor. Schon zu Beginn von Bachelets ersten Amtszeit im Jahr | |
2006, war es zu wochenlangen Schulstreik und -besetzungen gekommen. Schon | |
damals hatte vor allem die Lehrenden an den Oberschulen für eine | |
umfassenden Reform des Bildungssystems und Mitsprache bei deren | |
Ausarbeitung protestiert. Versprochen wurde viel, konkret umgesetzt wurde | |
kaum etwas. Nicht wenige, die diese Erfahrungen im Schulalter machten, | |
studieren heute an den Universitäten oder sind dort beschäftigt. | |
## Druck von der Straße | |
Zwar wird durchaus öffentlich gestritten, aber in den Gremien, in denen die | |
Weichen tatsächlich gestellt werden, sind die Studierenden nicht vertreten. | |
Außen vor sehen sich aber nicht nur die Lernenden, sondern auch die | |
Lehrenden. Diese fühlen sich bei der Reform der Dozentenausbildung | |
übergangen, die die Regierung Mitte 2014 auf den Weg bracht und im | |
vergangenen Monat mit der Unterschrift der Präsidentin dem Kongress zur | |
Abstimmung vorlegte. | |
Hatten die Lehrenden sich nach dem Amtsantritt Bachelets noch | |
zurückgehalten und die Reformbemühungen der Regierung zunächst unterstützt, | |
so zeigen sie seit dem vergangenen Jahr öffentlich ihren Dissens mit der | |
Regierung. 2014 legten sie mehrfach mit Streiks und Demonstrationen den | |
Bildungsbereich lahm. Vorausgegangen waren harte interne | |
Auseinandersetzungen zwischen den Regierungsbefürwortern und jenen, die die | |
Position der Studierenden teilten, die Regierung müsse auch weiterhin den | |
Druck von der Straße spüren. | |
Jaime Gajardo, Vorsitzender der Lehrergewerkschaft Colegio de Profesores de | |
Chile, fasst es so zusammen: „Eine Einigung mit dem Bildungsminister war | |
nicht möglich.“ Und während die Präsidentin in der Reform der | |
Dozentenausbildung ein „Meilenstein“ auf dem Weg zu einer besseren Bildung | |
sieht, fördert sie nach Auffassung der Gewerkschaft die | |
Ellenbogenmentalität. Auch das geplante Bewertungssystem diene lediglich | |
als Disziplinierungsinstrument. | |
21 May 2015 | |
## AUTOREN | |
Jürgen Vogt | |
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Chile | |
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