| # taz.de -- Victor Serges' Roman über Stalinismus: Die gestohlene Revolution | |
| > Um Anarchismus und Stalinismus geht es in Victor Serges Buch „Schwarze | |
| > Wasser“. Die Neuausgabe erweist sich als interessante zeithistorische | |
| > Quelle. | |
| Bild: Stalin-Bild in Georgien: Serges' Roman stellt er eine unschätzbare Lekt�… | |
| Ob auch er, wie viele Trotzkisten, manche Anarchisten oder sonstige Linke, | |
| nach dem Zweiten Weltkrieg zum prowestlichen Kalten Krieger geworden wäre, | |
| wissen wir nicht. Dass er jedoch einer der Ersten war, der literarisch und | |
| politisch gegen die von Stalin gestohlene russische Revolution ankämpfte, | |
| ist gewiss. Victor Serge, 1890 als Wiktor Lwowitsch Kibaltschitsch in | |
| Brüssel geboren und 1947 gestorben, schloss sich, obwohl Anarchist, 1919 in | |
| Petersburg den Bolschewiki an. | |
| Als Angehöriger der linken Opposition 1933 zur Verbannung im Ural | |
| verurteilt, nach internationalen Protesten entlassen und 1936 nach Belgien | |
| zurückgekehrt, verließ er 1940 Europa. In Mexiko wurde er zum Freund der | |
| Witwe des ermordeten Trotzki und starb dort 1947. | |
| Noch vor Arthur Koestler, der seinen Roman „Sonnenfinsternis“ über die | |
| stalinistischen Säuberungen 1940 auf Englisch publizierte, vor George | |
| Orwells Romanen über den Totalitarismus, „Farm der Tiere“ und „1984“, | |
| erschienen 1945 und 1949, gab Serge dem Scheitern der russischen Revolution | |
| literarischen Ausdruck. 1938 veröffentlichte er im Frankreich der | |
| Volksfront seinen Roman „Schwarze Wasser“, der sich in einer nicht immer | |
| gelungenen Mischung aus dokumentarischer Erzählung, ökonomischen Exkursen | |
| sowie theoretischen Reflexionen dem Schicksal konsequenter Linker unter dem | |
| Stalinismus zuwendet. | |
| Freilich – und das ist die erste Überraschung dieser Lektüre – wird häuf… | |
| der Begriff des „Konzentrationslagers“ verwendet, ohne dass doch jene | |
| Lagerwelt geschildert wird, die aus den Romanen Solschenizyns oder | |
| Schalamows bekannt ist. Vielmehr liest man mit Erstaunen, wie sich noch in | |
| der Verbannung Parteiangehörige, Führungspersonal und gutgläubige, | |
| konsequente Kommunisten wechselseitig bespitzelten, aufrichtig aneinander | |
| Interesse nahmen, um am Ende einander doch zu verraten – eine Situation, | |
| die nur noch eine in eine Verhörszene eingeschaltete Metapher aus der | |
| Landschaft der Verbannung angemessen schildern kann: „Ein Mann geht über | |
| die Ebene, und mit einem Mal gibt der Boden unter seinen Füßen nach, der | |
| Sumpf packt ihn, der Schlamm steigt ihm bis zu den Knien, den Hüften, er | |
| fühlt sich von seinem eigenen Gewicht hinabgezogen …“ | |
| ## Die Beine der Stenotypistin | |
| Dabei schreibt der unter heftigen Zweifeln mit den Bolschewiki | |
| sympathisierende Anarchist Serge nicht mit künstlerischem Ehrgeiz, mit | |
| konsequentem Interesse an literarischer Form, vielmehr nutzt er alle | |
| Formen, um sein politisches Anliegen zu verdeutlichen. | |
| ## | |
| So ist er als auktorialer Erzähler überall dabei, auch bei Sitzungen des | |
| Moskauer Politbüros, wo er dem Hochkommissar der Staatssicherheit, der eben | |
| mit Stalin konferiert, einen Gedanken zuschreibt: „Ich bin das Auge und die | |
| Hand der Partei … Die Hand, die durchsucht. Die Hand, die die Handschellen | |
| hält. Die Hand, die das Gift einschenkt. Die Hand, die im Dienst der | |
| Revolution den Revolver hält.“ | |
| Leider erweist sich manche Schilderung als purer Kitsch, der womöglich auf | |
| die sexuelle Not in der Verbannung verweist. Welchen Grund gäbe es sonst, | |
| solche Bilder mit stalinistischen Verhören zu verbinden: So hat etwa die | |
| „Stenotypistin des Geheimdienstes nach hinten gekämmtes, flachsgelbes Haar, | |
| einen rosigen Teint, glanzlose blaue Augen. Sie schlägt ihre in | |
| fleischfarbener Seide gehüllten langen Beine sehr hoch übereinander, öffnet | |
| den Schreibblock auf ihren Knien …“ | |
| ## Mehr zeithistorisches Dokument als Kunstwerk | |
| Allerdings erfährt das Lesepublikum hier auch von Themen, die erst sehr | |
| viel später virulent wurden – etwa von der Feindschaft zwischen Bolschewiki | |
| und Zionisten, die seit Lenin als „konterrevolutionäre Sekte“ galten. | |
| Serges Sympathie gilt ihnen keineswegs: Seine wohl auf persönlich Gehörtem | |
| beruhende Schilderung einer Diskussion zwischen zwei verbannten Zionisten | |
| über „verkommene Elemente der jüdischen Nation, völlig verkommen wie eine | |
| durch Lepra abgestorbene Hand, wie eine in einer syphilitischen Wunde | |
| eingesunkene Nase“ stellt mehr als nur eine Karikatur dar. | |
| Serges Roman „Schwarze Wasser“ erweist sich somit eher als eine | |
| zeithistorische Quelle denn als ein sprachliches Kunstwerk – gleichwohl | |
| stellt er eine unschätzbare Lektüre dar, wenn es um das Verständnis des | |
| Stalinismus geht. Stalinismus 1938 – noch will Serge nicht so weit gehen, | |
| Lenin in die Verantwortung für die gestohlene Revolution zu ziehen. In | |
| Abwandlung eines Wortes von Horkheimer ließe sich freilich fragen, ob von | |
| Lenin schweigen darf, wer von Stalin sprechen will. | |
| 18 May 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Micha Brumlik | |
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