Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Tod eines dreimonatigen Babys: Republik Rabenland. Ansicht einer ar…
> Niemand weiß, wie viele Fälle von Misshandlung und Vernachlässigung es in
> Deutschland exakt gibt. Nur wenn Kinder sterben, ist die Öffentlichkeit
> alarmiert und die Politik mit Rezepten schnell bei der Hand. Doch
> Experten fordern nachhaltige Lösungen. Die ganze Gesellschaft ist in der
> Pflicht
Bild: Ein Kindstod sollte laut Enquete-Kommission kein Anlass sein, um politisc…
Dennis aus Cottbus, Jessica aus Hamburg und nun Kevin aus Bremen. Jeder
dieser Namen steht für das Schicksal eines Kindes, das starb, weil die
Eltern es misshandelten und vernachlässigten, es verhungern ließen oder
schwerkrank zu Hause einsperrten. Brauchen wir mehr Kontrolle? Müssen wir
Kinder früher aus problematischen Familien herausnehmen? Das fragen sich
danach jedes Mal wieder Politiker wie Experten. Vergessen wird dabei rasch,
dass es auch andere Namen gibt: Etwa Nicole und Corinna aus Osnabrück oder
die sieben Kinder der Familie Haase aus Nordwalde bei Münster. Deren Eltern
wurden die Söhne und Töchter weggenommen, weil Vater und Mutter angeblich
zu dumm oder zu lieblos waren, sie großzuziehen. Als der Europäische
Gerichtshof die Kinder in diesen Fällen wieder zurückbeorderte, musste sich
das Jugendamt öffentlich Kritik an hören, es entscheide nur nach dem Motto:
"Im Zweifel gegen die leiblichen Eltern". Elternrecht oder Kindeswohl -
zwischen diesen Polen bewegt sich die Diskussion über den Umgang mit
Kindern in Deutschland. Mehr Staat oder mehr Eigenverantwortung? Diese
Frage muss gestellt werden, wenn es tragfähige Antworten auf die Frage
geben soll, welche die Fälle Kevin und Nicole an die Gesellschaft stellen.
Doch wie sollen wir die beantworten, wenn wir selbst über die
Vernachlässigung und Misshandlungen nicht allzu viel wissen? Wir wissen
nicht einmal viel über Kinder. Die umfassende Studie über das, was Drei-
bis Zehnjährige über die Welt denken, welche Träume und Wünsche sie haben,
wurde eben erst von der Hilfsorganisation World Vision in Auftrag gegeben.
Über Misshandlungen und Vernachlässigungen gibt es nur eine Reihe
vereinzelter Untersuchungen (siehe Kasten). Zwei Kinder sterben pro Woche
in Deutschland an Misshandlungen, hat die Unicef herausgefunden. Doch was
ist mit der großen Zahl an nicht tödlichen oder nicht sichtbaren
Misshandlungen? Wie sieht es mit Vernachlässigungen aus? Hier können
Experten nur mit Hilfe der Kriminalstatistik schätzen: Etwa ein Prozent der
jährlich geborenen Kinder sind von Verwahrlosung bedroht, glauben sie. Das
wären in der Altersgruppe der bis zu Zehnjährigen etwa 80.000 Kinder.
Bei der Berliner Polizei vergleicht man das Dunkelfeld verschiedener
Straftaten und zieht daraus Rückschlüsse. "Bei Sexualdelikten gegen Kinder
liegt das Verhältnis von einem aufgeklärtem Fall zu einem nicht
polizeibekannten in einer Spannbreite von eins zu sechs bis eins zu
zwanzig", sagt Michael Havemann, Leiter des Dezernats 12, das auch für
Kindesmisshandlungen zuständig ist. "Und weil die Hemmschwelle für
Vernachlässigung und Misshandlung wohl höher ist als bei sexuellem
Missbrauch liegt die Dunkelziffer wahrscheinlich eher am oberen Ende dieses
Spektrums." 2005 ermittelte die Berliner Polizei in 314 Fällen wegen
Vernachlässigung und in 472 wegen Misshandlung. Diese Zahlen müsste man
wohl mit zwanzig multiplizieren um sich eine Vorstellung vom Ausmaß des
Leidens von Kindern zu machen.
***
Die Berliner Polizei ist bundesweit die einzige, die ein eigenes
Kommissariat zur Bekämpfung von Kindesmisshandlung und -vernachlässigung
unterhält. Die Beamten wissen genau, wie verharmlosend diese beiden
Begriffe eigentlich sind. "Viele stellen sich unter Misshandlungen einfach
nur ein paar blaue Flecke vor", sagt Havemann und blättert Bilder aus
Ermittlungsakten auf den Tisch: ausgehungerte Säuglinge, dunkle Striemen
von Kleiderbügeln, Glutnarben von Zigaretten, Knochenbrüche, Verbrühungen
durch heißes Wasser, Flecken, die von heißen Bügeleisen stammen. Und er
erzählt von Kindern, die geschüttelt werden, wenn sie zu viel schreien.
Dabei reißen leicht die Brückenvenen, die zwischen Gehirn und Hirnhaut
verlaufen. An den Blutungen kann ein Kleinkind durchaus sterben. Häufiger
jedoch sind Spätfolgen - schwerste Behinderungen beispielsweise. Dann
zitiert Havemann Aussagen von Eltern: "Ich habe dieses Kind in die Welt
gesetzt, ich kann damit machen, was ich will", sagen sie. Oder: "Mir tat
die Hand vom Schlagen so weh, da musste ich einen Bügel nehmen."
Es sind nicht einmal solche schlimmen Fotos, mit denen Havemanns Dezernat
2004 eine Plakataktion gestaltete. Nur eine Babyflasche vor einem Grab
zeigt eines der Bilder. Außerdem schaltete die Polizei eine Hotline, bei
der Menschen anrufen sollten, die beobachten, dass Eltern ihre Kinder
misshandeln oder sich nicht genug, um sie kümmern. Intern hatte es darum
zuvor harte Diskussionen gegeben, die Beamten fürchteten von einer Welle
von Denunziationen überrollt zu werden. Doch sie blieb aus. Aber die Zahl
der Fälle, in denen die Polizei ermittelte stieg von 2004 auf 2005 um ein
Fünftel auf insgesamt 786. Dieser bundesweite Höchstwert brachte Berlin in
den Zeitungsspalten das Prädikat "Hauptstadt der Kindesmisshandlungen" ein.
In Hamburg, nur etwa halb so groß, wurden 2005 insgesamt nur 44
Misshandlungen und Vernachlässigungen bekannt.
Die meisten Fälle, sind sich fast alle Experten einig, geschehen in armen
Familien. "Vernachlässigung und Misshandlung sind fast ausschließlich ein
Phänomen der Unterschicht", sagen unisono der Kriminologe Christian
Pfeiffer und der Soziologe Klaus Hurrelmann (siehe Interview). LKA-Chef
Havemann hat da andere Erfahrungen. Bei Misshandlungen, sagt er, stammen
die Täter aus einem "breiten gesellschaftlichen Spektrum". Der Unterschied
sei nur: Grausamkeiten gegen Kinder in Mittel- und Oberschicht äußere sich
weniger häufig in körperlicher Gewalt: "Wenn eine Mutter den Hamster der
Tochter im Klo runterspült, dann ist das eine seelische Misshandlung, aber
dem Kind sieht man nichts an." Auch was Migrantenfamilien betrifft,
sprechen die Zahlen der Berliner Polizei eine andere Sprache als die der
Forscher. Die meinen, dass dort die Eltern öfter zuschlagen, die Beamten
stellen bisher "keine diesbezüglichen Auffälligkeiten" fest. Den logisch
scheinenden Befund, dass Drogensucht der Eltern ein erhöhtes
Misshandlungsrisiko für Kinder sei, stellt eine noch nicht veröffentlichte
Studie aus Leipzig ebenfalls in Frage. "Es besteht noch viel
Forschungsbedarf", sagt Heinz Hilger, Präsident des Kinderschutzbundes. Er
wehrt sich aber dagegen, eine "Ablenkungsdebatte" über
Wohlstandsvernachlässigung zu führen. "Zu 90 Prozent sind Misshandlung und
Vernachlässigung ein Problem armer Familien." Wo es Armut gebe, sei nun
einmal weniger zu verteilen. Zudem hätten Eltern kaum Möglichkeiten, sich
von der Kindererziehung zu entlasten, weil der Babysitter oder ein
Kindermädchen zu teuer sind.
***
Geldsorgen hat aber auch die Jugendhilfe. "Viele Fälle von schlimmster
Vernachlässigung hat es in den letzte Monaten auch deshalb gegeben, weil
die Kommunen so viel gespart haben", sagt die grüne Familienexpertin Ekin
Deligöz. Und tatsächlich: Flossen in Berlin 2002 noch 451 Millionen in die
Jugendhilfe, werden es im nächsten Jahr nur 290 Millionen sein. Die meisten
deutschen Kommunen haben wenige Einnahmen, viele sind pleite und suchen
deshalb allseits nach Möglichkeiten zum Sparen. Sie kürzen auch beim Geld
für Kinder und Jugendliche. Ein Platz in einem Kinderheim kostet
durchschnittlich 3.000 bis 4.000 Euro im Monat. In Bremen gab der Senat
daher im August diesen Jahres die Anweisung, "die Zahl der
Fremdplatzierungen auf keinen Fall zu steigern." Vielleicht hätte sich
Kevins Leben retten lassen, wäre er in ein Heim gekommen. Nach seinem Tod
wollen viele Gemeinden die Jugendhilfe von Einschnitten ausnehmen.
Doch das Jugendamt oder Behörden im Allgemein können Kinder nicht allein
vor prügelnden Eltern schützen. "So abgedroschen das für manche klingen
mag, die ganze Gesellschaft muss dieses Problem lösen", sagt der Leiter des
Cottbusser Jugendamtes, Bernd Weiße. Und darin weiß er sich einig mit
Kinderschützern, Politikern, Polizisten und Wissenschaftlern. Uneins sind
sie sich aber darüber, wie sich die Gesellschaft kümmern soll. Mehr Gesetze
und mehr Staatsmacht, das ist der eine Weg. So wie ihn Bayerns
Ministerpräsident Edmund Stoiber fordert. Er will die Beschneidung von
"vermeintlichen Rechten völlig aus der Bahn geratener Eltern" und plädiert
dafür, die sogenannten Vorsorgeuntersuchungen für Kinder zur Pflicht
machen. Laut einer Umfrage im Magazin Stern befürworten das 85 Prozent der
Deutschen. Und mehrere von Stoibers Unionskollegen wollen, dass Jugendämter
mehr Daten über eventuelle Vorstrafen von Eltern abrufen können. Die
Praktiker halten von solchen Vorschlägen aber wenig. Jugendamtsleiter Weiße
und Polizist Havemann wollen nicht mehr Kompetenzen für ihre Behörden. Wir
sind nur das Ende der Kette, sagen sie. Wir können nur dann helfen, wenn
alle anderen bereits versagt haben. Erweiterte Befugnisse hat das Jugendamt
seit dem Oktober vergangenen Jahres ohnehin. Es kann Eltern gegen deren
Willen die Kinder wegnehmen, wenn es die Gefahr der Vernachlässigung
gegeben sieht. Für die Familienexperten von Grünen, SPD und Linkspartei ist
das ausreichend. "Das Gesetz müsste nur konsequent angewendet werden",
meinen sie.
Ein anderer Vorschlag ist, Eltern das Kindergeld zu streichen, wenn sie
sich zu wenig um ihren Nachwuchs kümmern. Das fordert etwa der Soziologe
Klaus Hurrelmann. Der Vorschlag birgt viele Abers. In mehreren Urteilen hat
das Bundesverfassungsgericht das Kindergeld als Geldbetrag geschützt, der
das Existenzminimum des Kindes sichern soll. Er kann daher nicht der Strafe
halber einfach gestrichen werden. Außerdem: Wenn Armut wirklich eine
Hauptursache für Verwahrlosung von Kindern ist, dann würde das Minus beim
Kindergeld vor allem ALG-II-Empfänger treffen. Doch das Kindergeld wird auf
diese staatliche Zahlung angerechnet. Wenn man also das Kindergeld
streichen würde, müsste man das Arbeitslosengeld zugleich wieder erhöhen,
damit Eltern nicht gegenüber anderen ALG-II-Empfängern benachteiligt sind.
Der Präsident des Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers wendet zudem ein, dass
die Maßnahme am Ende die Kinder träfe. "Gespart würde doch nicht am
Alkohol, sondern am Kind."
Die Ideen für eine stärkere staatliche Intervention treffen aber nicht nur
auf diese konkreten Vorbehalte, sondern wegen der deutschen Geschichte auch
auf ein ganz pauschales Misstrauen. Sowohl die NS-Diktatur als auch das
DDR-Regime griffen mit Zwangsadoptionen und Kontrollbesuchen immer wieder
in die Rechte von Familien und Eltern ein. Das Misstrauen gegen staatliche
Kontrolle und Bevormundung ist groß.
Anders als in Finnland, wo es seit Jahren das Neuvola-System gibt. Eigens
ausgebildete Hebammen und Krankenschwestern besuchen bereits die werdenden
Mütter und versuchen in Gesprächen ein Vertrauensverhältnis herzustellen.
99 Prozent aller Familien lassen eine Betreuung durch Neuvola zu.
"Entscheidend dafür ist, dass alle Familien besucht werden", sagt Marjaana
Pelkonen vom finnischen Gesundheitsministerium. "Auf diese Weise wird
niemand diskriminiert." Sie sagt das aber auch, weil nach finnischen
Untersuchungen Kindesmisshandlung kein Phänomen der Unterschicht ist.
Aufgrund der "unterschiedlichen historischen Erfahrungen", hält selbst der
Familienexperte der sonst recht staatsfixierten Linkspartei, Jörg
Wunderlich, Neuvola nicht nach Deutschland für übertragbar. Völlig
unmöglich ist es aber nicht.
***
Einige kleine Graswurzel-Finnlands existieren seit einigen Jahren in der
tiefsten Provinz: Zwei Beispiele sind die Stadt Dormagen bei Köln und der
Landkreis Oberspreewald-Lausitz im Süden Brandenburgs.
Ekib (Eltern und Kinder in Beziehung) entstand am Klinikum Niederlausitz,
nachdem dort dreijähriges Kind an schweren Hirnverletzungen starb,
wahrscheinlich durch Misshandlung. Inzwischen besuchen 50 ehrenamtliche,
extra ausgebildete Paten die Familien in der Region um Cottbus und helfen
Eltern bei der Betreuung. Zehn Visiten in drei Jahren sind im Vertrag
festgeschrieben, die meisten kommen aber öfter. Den Betreuern macht die
Aufgabe Spaß, manche finden hier eine Aufgabe oder die Familie, die sie
sonst nicht haben. "Aufsuchende Hilfe" heißt das im Fachdeutsch.
Staatlicher Druck wird ersetzt durch sanfte soziale Kontrolle. Zudem werden
nicht nur sozial schwache Familien besucht, sondern alle. Das sorgt dafür,
dass sich diejenigen, die einen Paten ins Haus lassen, sich nicht als
Problemfamilie fühlen müssen. "Großartig ist das", meint
SPD-Familienexpertin Christel Humme, "keine Frau lässt sich gern als
schlechte Mutter stigmatisieren, darum verweigern viele auch den Besuch
durch das Jugendamt."
Ähnlich geht es auch Heinz Hilgers, der nicht nur Präsident des
Kinderschutzbunds ist, sondern auch Bürgermeister von Dormagen: "Auch wir
glauben, dass Vorsorge und Vernetzung vor Ort die beste Möglichkeit sind,
das Los von Kindern zu verbessern", sagt Hilgers. In Dormagen gibt es zwar
keine ehrenamtlichen Paten. Aber dafür besuchen dort zwölf
Jugendamtsmitarbeiter ebenfalls alle Familien. Zusätzlich werden die Ärzte
und die freien Träger von Kitas geschult, Kindesmisshandlungen zu erkennen
und sich darüber untereinander auch zu verständigen. "Wichtig ist, dass das
alles ohne Zwang abläuft", sagt Hilgers. Und: Die Hilfe muss von denen
kommen, die sich vor Ort auskennen. Darum lehnt er auch alles ab, was
danach aussieht, als könne man einen guten Kinderschutz zentral von Berlin
aus machen. Seine Erfahrung ist: Es zahlt sich aus, wenn die eigentlichen
Aufgaben von den kleinsten Einheiten vor Ort übernommen werden: auf dem
Lande von den Kommunen, in Großstädten von den Bezirken. Und die müssen
ihre Arbeit kontinuierlich machen, damit sie Akzeptanz in der Bevölkerung
findet. "Früher waren unsere Mitarbeiter meist nicht willkommen, denn wer
vom Jugendamt besucht wurde, hatte einen schlechten Ruf. Heute sind die
meisten Familien freundlich."
Sowohl Dormagen als auch die Lausitz sind Beispiele dafür, wie mehr Staat
im Kinderschutz auch aussehen kann: umfassend, regional verwurzelt und
sanft kontrollierend. Die Frage ist vielleicht nicht: mehr Staat oder mehr
Eigenverantwortung? Sondern: mehr Staat - und mehr Eigenverantwortung!
28 Oct 2006
## AUTOREN
Daniel Schulz
Cosima Schmitt
## TAGS
Kindstod
Hebammen
## ARTIKEL ZUM THEMA
Tod eines dreimonatigen Babys: Arztbesuch unterlassen
Nach dem Tod eines dreimonatigen Babys in Hamburg müssen sich die Eltern
vor Gericht verantworten. Ihnen wird Tötung durch Unterlassen vorgeworfen.
Medizinethiker über Hebammen: „Geburt braucht Raum“
Keine Hebamme kann eine Garantie für eine problemlose Geburt geben, sagt
Giovanni Maio. Der Medizinethiker findet aber: Das müssen sie auch nicht.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.