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# taz.de -- Gruppe 47: Altrocker auf Abschiedstournee
> Die drei Ehrenspielführer der Literaturnationalmannschaft - Günter Grass,
> Martin Walser und Joachim Kaiser - erinnerten sich an die Gruppe 47.
Bild: Hängende Lider, dicker Schnäuzer, buschige Augenbrauen: Kaiser, Grass, …
Vielleicht ist es die erstaunlichste Abschiedstour der deutschen
Literaturgeschichte. Die Säle sind voll, wo immer sie auftreten, die
Stimmung ist bestens. Das in die Jahre gekommene Publikum liebt die alten
Hits, die Fans können alles mitsingen. Die Nachgeborenen halten sich die
Ohren zu: Wann hört das endlich auf? Doch sie touren einfach weiter, immer
weiter. Skandale pflastern ihren Weg, wie es sich für Altrocker gehört.
Allerdings werden keine Hotelzimmer verwüstet, und statt Koks in die Nase
gibt es nur reichlich Rotwein für die Kehle. Ihre Droge ist schärfer und
heißt Vergangenheit. Ihr Ich beherrscht den Lautstärkeregler: am besten
voll aufgedreht.
Günter Grass und Martin Walser zelebrieren auf diese Weise seit geraumer
Zeit ihren Abschied. Nun wäre die Annahme, diese beiden zeitlebens nie ein
Megafon benötigenden Schriftsteller würden irgendwann still und leise in
den Kulissen der Literaturgeschichte verschwinden, immer schon illusorisch
gewesen. Doch ihre beiden medialen Endkämpfe um Unsterblichkeit
entwickelten sich zu einem nicht vorhersehbaren Schauspiel. Ihre späten
Jahre sind nunmehr eine einzige Dauerperformance, bestehend aus Friedens-
und Nobelpreisen, aus Paulskirchen-, "Tod eines Kritikers"- und SS-
Skandalen, aus unablässig veröffentlichten Büchern und autobiografischen
Dokumenten, inklusive Dokumentarfilmen, aus Verlagswechseln mit Getöse, aus
Entsetzensschreien der Öffentlichkeit, aus Anklagen und Verfolgungswahn -
Freund und Feind bei alledem im Ritual polarisierter Debatten vereint.
Grass und Walser mutierten zu zwei Gesamtkunstwerken, für die literarische
Maßstäbe kaum mehr gelten können.
Denkwürdiger Höhepunkt dieser Entwicklung ist zweifellos das dreiseitige
Gespräch in der aktuellen Ausgabe der Zeit, zu dem sich die Solisten Walser
und Grass in dessen Garten zum Duett vereint hatten. Ein zwischen
Verrücktheit und Reflexion schwankender Altmännergesang aus kerligen
Kehlen, mit gegenseitigen Liebeserklärungen: Heilandsack!, kann man da nur
staunend mit Walser ausrufen.
Am Freitagabend folgte nun, perfektes Timing, der Live-Act vor
ausverkauftem Haus. Auf der Bühne des Berliner Ensembles erinnerten Grass
und Walser sich in sommerlich offenem Hemdkragen ihrer literarischen
Ursprünge in der legendären, künstlerisch und politisch stets heftig
umstrittenen Gruppe 47. Zu ihnen gesellte sich Joachim Kaiser, Jahrgang
1928, damals selbstbewusster Jungkritiker in der Gruppe, später
Großfeuilletonist der Süddeutschen Zeitung.
Es wurde ein frotzeliges Zeitzeugengespräch in verschiedenen Rollen, über
eine literarisch denkbar weit zurückliegende Epoche. Walser übernahm den
Part des wohlwollenden Kritikers. Er erinnerte an die "Tribunalstimmung",
die die spontane Kritik der in der Gruppe 47 vorgelesenen Texte begleitete.
Schon 1964 hatte Walser die Gruppe als intellektuellen "Markenartikel"
bezeichnet. Szenen "äußerster Peinlichkeit" fielen ihm ein, gerade im
ignoranten Umgang mit Emigranten. Für Grass hingegen ist die Gruppe 47, die
1967 das letzte Mal regulär getagt hatte, immer noch eine
identifikatorische Angelegenheit: "Ich habe ein Stück Sozialisierung dort
erfahren." Vehement verteidigte er die hermetische Einladungspolitik des
Gruppenchefs Hans Werner Richter gegen den Vorwurf der
Emigrantenfeindlichkeit und nachwirkender brauner Kontamination: "Wir waren
alle Beschädigte." Eingerahmt zwischen Kaiser, Walter Jens, Hans Mayer,
Walter Höllerer hätte Marcel Reich-Ranicki als Kritiker seine beste Zeit
gehabt. Jene Tagungen wollte Grass als bekennender Kleinbürger als
bundesrepublikanisches Erbe nicht missen: "Endlich kamen die Kleinbürger
zum Zug!"
Die Gruppe habe im Ausland Vertrauen in die junge intellektuelle Generation
befördert, glaubte rückblickend Kaiser. Mit Blick auf Klagenfurt meinte er
selbstbewusst, dass alle Preisträger der Gruppe "unvergleichlich viel
besser" gewesen seien als die Gewinner aller anderen literarischen
Wettbewerbe bis heute. Zudem: "Es hat enormen Spaß gemacht." Wie tief
dieser anekdotenselige Abend in die Vergangenheit führte, illustriert eine
denkwürdige Symbolik, die Jörg Magenau in seiner Walser-Biografie
überliefert hat. Genau an jenem Maiwochenende 1955, als Walser und Grass
sich bei einer Berliner Tagung der Gruppe 47 das erste Mal über den Weg
liefen, hielt der beinahe 80-jährige Thomas Mann seine Rede zum
Schiller-Jubiläum in Weimar. Eine geistige Wachablösung: Wenn man ein
halbes Jahrhundert später dem knorrigen 80-Jährigen dort oben auf der Bühne
lauschte, dann bekam solch eine zufällige literaturgeschichtliche
Koinzidenz unwillkürlich eine besondere historische Aura.
Symbolik gab es auch an diesem Abend: Wenige Kilometer entfernt
diskutierten just zum selben Zeitpunkt in der Akademie der Künste junge
Autoren, unter anderem Terézia Mora und Navid Kermani, miteinander - und im
Literaturhaus in der Fasanenstraße sezierte der Germanist Christoph König
kritisch-hermeneutisch die Strategien der Häme in Grass Erinnerungsbuch
"Beim Häuten der Zwiebel".
Und in fünfzig Jahren? Heute ist es schwer vorstellbar, dass dann Kathrin
Passig, Katharina Hacker und Daniel Kehlmann Veteranentreffen abhalten, vor
Fernsehkameras, mit VIP-Shuttle und unermüdlichen Fans. Welche ästhetischen
Gewinne und Verluste daher auch immer zu verbuchen sein werden: Die
buschigen Augenbrauen Walsers, den dicken Schnauzbart von Grass, die
hängenden Lider Kaisers - Heilandsack, wir werden sie vermissen,
irgendwann.
18 Jun 2007
## AUTOREN
Alexander Cammann
## TAGS
Nachkriegsliteratur
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