| # taz.de -- Reliquien: Der Musenzauber ist nicht vorbei | |
| > Im Deutschen Literaturmuseum Marbach führt die Ausstellung "Ordnung. Eine | |
| > unendliche Geschichte" in den Maschinenraum des Schreibens. Und streut | |
| > ein wenig Weihrauch. | |
| Bild: Der Schriftsteller puzzelt: Hermann Hesse setzte seine Elise als Puzzle m… | |
| Der Abendhimmel begann prompt zu leuchten, als sich das Tempeltor wieder | |
| öffnete. Mehrere hundert Besucher traten allmählich heraus. Tief im Berg | |
| hatten sie soeben in dunklen, kühlen Hallen den Göttern des Wortes | |
| gehuldigt. Wenn in diesem Moment Rauch von Opferfeuern aufgestiegen wäre, | |
| dort auf der Schauterrasse oberhalb des Neckars, mit Panoramablick über das | |
| schwäbische Land, beschirmt vom Mond und schwächer werdenden Sonnenstrahlen | |
| - kaum jemand hätte sich darüber gewundert. | |
| Das Heiligtum, das auf der Schillerhöhe in Marbach Schauplatz dieser | |
| Szenerie war, ist das Literaturmuseum der Moderne. Am Abend des längsten | |
| Tages im Jahr präsentierte es seine große Sommerausstellung "Ordnung. Eine | |
| unendliche Geschichte". Nun ist die hohe Zeit der Kunstreligion lange | |
| vorbei. Tausendmal wurden ihre Ideologien dekonstruiert, ihre | |
| Propagandisten entlarvt und ihr Pathos wurde karikiert. Doch wie sehr man | |
| sich auch abgeklärt kopfschüttelnd verweigern möchte: Hier auf der | |
| Schillerhöhe stellen sich die abtrainierten sakralen Begriffe wie von | |
| selbst wieder ein, auch wenn es sich nur um die eigentlich profane | |
| Angelegenheit einer Ausstellungseröffnung handelt. Fluch und Segen der | |
| Veralltäglichung erleben wohl nur diejenigen, die ständig hier arbeiten. | |
| Lange Jahre war diese automatische Weihestimmung der Hinterlassenschaft | |
| deutscher Literatur- und Geistesgeschichte geschuldet. Nebenan in den | |
| Kellern des Deutschen Literaturarchivs lagern unzählige Nachlässe von | |
| Schriftstellern und Denkern vergangener Jahrhunderte: Eduard Mörike und | |
| Martin Heidegger, Paul Celan und Ernst Jünger, Gottfried Benn und | |
| Hans-Georg Gadamer. Permanent kommt Neues hinzu, beispielsweise der | |
| Nachlass des 2006 verstorbenen Büchner-Preisträgers Oskar Pastior. Die | |
| Verlagshäuser Rowohlt und Piper haben ihre älteren Unterlagen abgegeben; | |
| Sarah Kirsch, Fritz J. Raddatz und Marcel Reich-Ranicki stellten schon | |
| einmal sogenannte Vorlässe zu Lebzeiten dem Archiv zur Verfügung. Auch | |
| Martin Walsers Papiere kommen auf Umwegen nunmehr zu den Geistesgrößen in | |
| die Marbacher Unterwelt. Zum 25-jährigen Jubiläum der Institution hatte | |
| Walser 1980 in seiner Festrede vom "unterirdischen Himmel" gesprochen, der | |
| hier zu bestaunen sei: "Das Archiv ist seine Kirche." Ohne Pathos geht es | |
| eben nicht, auch wenn es leise ironisch daherkommt. | |
| Als weiterer Tempel ist zuletzt das Literaturmuseum der Moderne | |
| hinzugekommen, dessen Architektur die Auraproduktion noch einmal kräftig | |
| forciert. Wer auch immer Zweifel daran hat, dass der Architekt David | |
| Chipperfield der richtige Baumeister für die Berliner Museumsinsel ist, der | |
| wird sich vom Anblick dieses erhabenen und zugleich überraschend maßvoll | |
| wirkenden Baus bekehren lassen. Streng in der antikisierenden Form, | |
| schmiegt er sich jedoch fast zärtlich an den Hang. In seinem Innern | |
| beherbergt er die grandios inszenierte, nicht zuletzt deswegen umstrittene | |
| Dauerausstellung zur deutschen Literatur der letzten zweihundert Jahre. | |
| In der endlosen Reihung kalt illuminierter Glasvitrinen findet man das | |
| Taufkleid Thomas Manns ebenso wie das Manuskript besagter Walser-Rede aus | |
| dem Jahr 1980. In den Räumen für Sonderausstellungen kreist nunmehr alles | |
| um die Ordnungen des Schreibens. Ironiker können sich die beiden | |
| Kuratorinnen Heike Gfrereis und Helga Raulff umstandslos als | |
| Hohepriesterinnen des Chipperfield-Tempels vorstellen; Diademe und weiße, | |
| knöchellange Gewänder wären noch hinzuzuimaginieren. Doch die Ironie ist | |
| immer schon die Maske der Empfindsamkeit: Denn Gfrereis und Raulff ist eine | |
| wunderbare Ausstellung archivalischer Schätze gelungen, die den Weg nach | |
| Marbach lohnt. | |
| Wieder war es Martin Walser, der zur Eröffnung sprach, diesmal über sein | |
| persönliches Ordnungssystem des Schreibens: Im Herbst veröffentlicht er den | |
| zweiten Band seiner Tagebücher. Walser verteidigte die Unschuld dieser | |
| Notate. Sie seien nichts protokollarisch "Aufgeschriebenes", sondern in | |
| ihrer "Hingeschriebenheit" ein Arbeitsmittel für den Schriftsteller, das | |
| ursprünglich keineswegs mit dem Blick auf andere Leser verfasst wurde. | |
| Auch in der Ausstellung findet sich Walsers Tagebuch. Ordentlich erstellt | |
| der Autor am Ende jedes Bandes ein Register, um ihn auch künftig als | |
| Arbeitsmittel zu verwenden. Ein manischer Diarist war Arthur Schnitzler: | |
| Seine Tagebuchfixiertheit ging so weit, dass er aus seinen über die Jahre | |
| hinweg entstandenen Bänden später Dossiers erstellen ließ, um rasch | |
| nachschlagen zu können, über welche Person er wann was geschrieben hatte. | |
| Marie Luise Kaschnitz übertrug ganze Tagebuchauszüge in ihre Werke. | |
| Das Aufbewahren für später zwecks Wiederverwendung gehört ebenso zur | |
| literarischen Ordnung wie das Sammeln, Einpacken, Ablegen, Sortieren und | |
| Umsortieren. Am Anfang dieser Schau stößt man jedoch zunächst auf das | |
| Chaos, den bösen Geist jeder Ordnung: Nach dem Tod Schillers hatten die | |
| Verwandten das Fragment seines Dramas "Die Malteser" zerschnitten und in | |
| unzähligen Teilen als Trophäe unter die Leute gebracht: "Dieß ist des | |
| unsterblichen Schillers Handschrift." In mühsamer, hier zu studierender | |
| Puzzlearbeit wird heute versucht, die Teile wieder zusammenzusetzen. | |
| Einen Haufen vergilbter Ordner hat Peter O. Chotjewitz mit "Jugendscheiße | |
| und nicht realisierte Projekte" beschriftet. Martin Heidegger hat | |
| zeitlebens seine Notate in leere Buchschuber gestopft: "L.A. zu S und Z" | |
| steht auf einem (Laufende Anmerkungen zu "Sein und Zeit"). Gabriele Wohmann | |
| legt Manuskriptmappen an, grün für Romane, gelb für Erzählungen. Und Ernst | |
| Jünger gestaltet in liebevoller Hingabe seine Manuskriptschachteln, so die | |
| Lederschatulle für "Die Zwille" (1973), auf die er mit Tesafilm ein | |
| Hanfblatt klebt. | |
| Bär, Widder, Ziege: Der Zettelkasten des Romanisten Hans Robert Jauß kündet | |
| von Wortsammelei anlässlich seiner Habilitation 1959 über mittelalterliche | |
| Tierdichtung. "Man soll ruhig seine lichten, besten Momente sammeln u. sie | |
| nachher mit leichter Verschwendergeste ausstreuen", notierte Kurt | |
| Tucholsky. Langsam erwächst der Werkplan: Nicht jeder ist grafisch so schön | |
| wie der von Hubert Fichtes autobiografischem Roman "Versuch über die | |
| Pubertät" (1974). Friedrich Christian Delius enttarnt bereits Anfang der | |
| Siebzigerjahre mit feinen Verbindungslinien die Verflechtungen des | |
| rheinischen Kapitalismus am Beispiel der Siemens-AG ("Unsere | |
| Siemens-Welt"). Und Rudolf Borchardt entwirft schon mal vorab kunstvolle | |
| Titelblätter für seine ungeschriebenen Werke. | |
| Diese Schau ist in ihrer Fülle durchaus eindrucksvoll inszeniert. Manche | |
| Zwischentexte der Räume raunen allzu kräftig, was dem ästhetischen Konzept | |
| jedoch kaum schadet. Allegorien dienen hier der Erkenntnis. Im Mittelpunkt | |
| steht das bekritzelte Objekt in seiner seltsamen Magie, bis hinein in | |
| unsere Gegenwart: Büchner-Preisträger Martin Mosebach hat ein von Mäusen | |
| angefressenes, von ihm auf dem Dachboden gefundenes Textkonvolut des | |
| Abenteurers Theodor Lerner aus dem späten 19. Jahrhundert beigesteuert, das | |
| ihm als Material für seinen Roman "Der Nebelfürst" diente. Botho Strauss | |
| und Durs Grünbein verweisen gar auf Künftiges. Ihre Manuskripte, frisch vom | |
| Schreibtisch, gehören zu Büchern, die in diesem Herbst erscheinen werden. | |
| Ordnung ist eine unendliche Geschichte für fast jedermann. Das alltägliche | |
| Chaos will bewältigt werden, mehr oder minder erfolgreich. Darin besteht | |
| der Reiz dieser Ausstellung: Wie ordnet sich ein Autor bei der Arbeit? Dem | |
| ewigen Rätsel des Künstlers - "Wie macht der das nur?" - ihm kann man hier | |
| auf die Spur kommen. Hausherr Ulrich Raulff, der Direktor des Deutschen | |
| Literaturarchivs, hatte eingangs von dieser Sehnsucht gesprochen, die | |
| "Ordnung des schöpferischen Lebens" zu erkennen und darin den "Schlüssel | |
| zur schöpferischen Kreativität selbst" zu finden. Dies muss natürlich eine | |
| Illusion bleiben, auch nachdem man sich fasziniert über alle Vitrinen | |
| gebeugt hat. | |
| Die infizierten Literaturgläubigen, die hierher pilgern, können dem | |
| künstlerischen Prozess zuschauen, ohne allerdings hinter seine letzten | |
| Geheimnisse zu dringen. Sie bekommen eine leise Ahnung von den | |
| Mischungsverhältnissen zwischen Arbeit und Eingebung, Ablenkung und | |
| Konzentration, von Banalem und Genialem. Enthüllen kann die Ausstellung | |
| davon vieles, aber glücklicherweise nicht alles. Der Musenzauber ist nicht | |
| vorbei; der schöne Schein bleibt gewahrt. Trotz aller sichtbaren | |
| Ordnungsversuche ist die Kunst des Schreibens ein ewiges Mysterienspiel. | |
| Bis 21. Oktober, Literaturmuseum der Moderne, Marbach am Neckar, Di.-So., | |
| 10-18 Uhr, Mi., 10-20 Uhr, 9 Euro. Der Katalog zur Ausstellung kostet 20 | |
| Euro. | |
| 26 Jun 2007 | |
| ## AUTOREN | |
| Alexander Cammann | |
| ## TAGS | |
| Schiller | |
| Kulturkritik | |
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