# taz.de -- Adorno & Horkheimer: Großes Rindvieh an Mammut | |
> Der vierte Band des Briefwechsels zwischen Theodor W. Adorno und Max | |
> Horkheimer dokumentiert die Etablierung der Kritischen Theorie in der | |
> Bundesrepublik | |
Bild: Schreiben ist vergeblich? Das hinderte Adorno nicht daran, Brieffreund Ho… | |
Am Ende konnte Herbert Marcuse die Worte des Freundes nicht mehr | |
entziffern. "Daß er meine Schrift nicht lesen kann, finde ich | |
unfreundlich", notierte Theodor W. Adorno Anfang August 1969 für Max | |
Horkheimer, als er diesem jenen Brief zusandte, in dem soeben Freund | |
Herbert um eine abgetippte Version eines Schreibens von Adorno gebeten | |
hatte ("Auch mit der Lupe ging es nicht."). Es sollte die letzte Botschaft | |
sein, die "Teddie" an Max schickte. Am 6. August 1969 starb Adorno. Nach | |
weit mehr als 1.000 Briefen, die Adorno und Horkheimer über vier Jahrzehnte | |
lang miteinander wechselten, erscheint der Schluss dieses Zwiegesprächs in | |
seltsam symbolischer Ironie: Immerhin bedeutet Nichtlesbarkeit auch die | |
Vergeblichkeit des Schreibens. Und entzifferbar war Adorno für den nicht | |
nur in dieser Hinsicht mit plötzlicher Blindheit geschlagenen Freund | |
Marcuse tatsächlich seit geraumer Zeit kaum noch. Denn Marcuse schwamm als | |
charismatische Leitfigur ganz oben auf der Welle der weltweiten | |
Studentenproteste Ende der 60er-Jahre, während Adorno und Horkheimer von | |
den rebellierenden Studenten attackiert wurden. Die große Verweigerung | |
entzweite in der Praxis auch die Kritische Theorie. | |
Wer den letzten Band der Adorno-Horkheimer-Korrespondenz zur Hand nimmt, | |
erfährt viel über diesen späten grundsätzlichen Dissens. Zugleich bekommt | |
er eine Ahnung davon, was einst die Aura der Kritischen Theorie erzeugte, | |
bevor sie nach 1968 und im Fun-Stahlbad der Postmoderne unterging. Es war | |
die existenzielle Beglaubigung diverser Schreibtischschlachten, ein | |
miteinander verwobenes Geflecht von Leben und Denken. Vor der tödlichen | |
Bedrohung durch Hitler 1933 ins Exil geflohen, hatten Adorno, Horkheimer, | |
Marcuse, aber auch Walter Benjamin, Siegfried Kracauer, Ernst Bloch, Erich | |
Fromm und viele andere unter schwierigsten Bedingungen ihre geistige | |
Produktion vorangetrieben. Diese Pariaexistenzen im Überlebenskampf, im | |
intellektuellen und wortwörtlichen Sinne, boten das intellektuelle Drama | |
auf der Bühne des 20. Jahrhunderts - ein heroisches Schauspiel für die | |
Nachgeborenen, das zunächst, anders als die braun infizierte | |
Elterngeneration in Deutschland, signalisierte: Es gibt ein wahres Leben | |
jenseits des Falschen. | |
Adornos Welt verwandelt sich nunmehr seit vielen Jahren zu einem Gegenstand | |
der Ideengeschichte; Historisierung statt Fortentwicklung der Kritischen | |
Theorie lautet das Programm. Diverse Briefeditionen haben daran großen | |
Anteil: mit Thomas Mann, mit Alban Berg, mit Elisabeth Lenk, mit seinen | |
Eltern, mit seinen Verlegern Peter Suhrkamp und Siegfried Unseld. Der 1994 | |
publizierte Briefwechsel mit Walter Benjamin erschien jüngst zur Freude | |
aller verbliebenen Adorniten sogar in einer Hörbuchfassung, gesprochen von | |
Martin Wuttke und Hanns Zischler: ein Korrespondenz-Kunstwerk im Zeitalter | |
seiner akustischen Reproduzierbarkeit (3 CDs, speak low, 23,90 Euro). "Wir | |
müssen sehen, unser Bestes in die Briefe zu legen; denn nichts deutet | |
darauf hin, dass der Augenblick unseres Wiedersehens nahe ist." So hatte | |
Benjamin ("Detlef") Anfang Mai 1940 wenige Wochen vor seinem Selbstmord an | |
die vertraute Freundin Gretel ("Felizitas") Adorno geschrieben. Seit 2003 | |
erschienen in rascher Folge, mit ausführlichen Kommentaren der Herausgeber | |
versehen, die vier Bände Adorno-Horkheimer-Korrespondenz: ein zentrales | |
Dokument für die Intellektuellengeschichte. Findet sich beider Bestes auch | |
in diesen Briefen, zwischen dem "Großen Rindvieh" (Adorno, der gerne auch | |
mit "G.R." unterzeichnete) und dem "Mammut" (Horkheimer)? | |
Zwar beeindruckte die kraftvolle Kontinuität, mit der sie auch unter den | |
prekären Bedingungen am gemeinsamen Projekt einer kritischen | |
Gesellschaftstheorie arbeiteten und ihr altes Frankfurter Institut für | |
Sozialforschung im Exil fortleben ließen. Doch Adorno, dem gewisse | |
Brutalitäten nicht fremd waren, offenbarte immense denunziatorische | |
Fähigkeiten, die das übliche Klatschbedürfnis unter Emigranten weit | |
übertraf. Es galt vorzugsweise Nahestehenden und Mitarbeitern, die er vor | |
Institutschef Horkheimer schlechtmachte: Marcuse hält er "für einen durch | |
Judentum verhinderten Faszisten", Benjamin hat etwas "von einem wahnsinnig | |
gewordenen Wandervogel", von dem Soziologen Karl Mannheim gelte "etwas sehr | |
Elementares: er ist einfach dumm". Gerne zieht er auch über Kracauer und | |
Bloch her. Welche Gründe es jeweils gegeben haben mag und wie sehr man auch | |
private Bemerkungen relativieren kann: Abstoßende Züge auf dem Antlitz der | |
Frankfurter Schule traten deutlich hervor. | |
Der vierte Band umfasst die Korrespondenz der Jahre 1950 bis 1969. Es sind | |
die Jahre der sukzessiven Rückkehr aus den USA nach Frankfurt und der | |
Etablierung an der Universität und in der deutschen soziologischen Zunft. | |
Adorno und Horkheimer werden zu den wirkmächtigsten öffentlichen | |
Intellektuellen, präsent im Rundfunk und in diversen Zeitungen und | |
Zeitschriften. Die "Dialektik der Aufklärung" war 1947 erschienen; 1951 | |
publizieren sie ihre "Minima Moralia", 1966 erscheint Adornos "Negative | |
Dialektik". Es ist die Zeit der Entfaltung und der Ernte. Zwar kann man mit | |
den Herausgebern das "resignative Moment" gegenüber der ursprünglichen | |
theoretischen Mission bedauern. Doch dieser Briefwechsel offenbart, wie | |
beide erfolgreich eine neue Mission umsetzten: die Integration ihrer | |
intellektuellen Tradition in die deutsche Geistesgeschichte. | |
Feinsinnig gehen sie auch jetzt nicht vor; akademische Intrigen finden sich | |
zuhauf. Horkheimer verlangte 1953 von Adorno ein jubelndes Gutachten - über | |
Adorno. Dieser lieferte "errötend", damit jener es unter seinem Namen in | |
Hamburg im Sinne Adornos verwendete. Den Ruf für den NS-kontaminierten | |
Soziologen Arnold Gehlen nach Heidelberg verhinderten 1958 die Gutachten | |
von Horkheimer und Adorno (in Wahrheit beide von Adorno), für die Jürgen | |
Habermas einschlägige Zitate exzerpiert hatte: "Wie schlimm Gehlen ist, | |
davon haben wir uns kaum eine Vorstellung gemacht", so Adorno. Das hinderte | |
ihn später nicht daran, trotz aller Gegensätze ein Verhältnis auf Augenhöhe | |
zum schlimmen Gehlen aufzubauen. Zahlreiche gemeinsame Rundfunkauftritte | |
und eine achtungsvolle Korrespondenz zeugen davon. Und als 1954 der | |
24-jährige Ralf Dahrendorf nach zwei Monaten am IfS wieder kündigte, hatte | |
Adorno die selbstbewusste Diagnose parat: "Er ist ein sehr begabter Mensch, | |
aber verzehrt sich geradezu vor Ehrgeiz, und vor allem: er haßt im Grunde | |
das, wofür wir einstehen." Er "ist wohl der stärkste Beweis für unsere | |
These, dass in einem strengen Sinn nichts nach uns kommt". Horkheimer | |
wiederum schrieb 1958 seinen berühmt-berüchtigten Abrechnungsbrief über den | |
jungen Institutsmitarbeiter Jürgen Habermas ("die Eitelkeit seines Denkens, | |
die Unfähigkeit zur Versöhnung mit sich selbst"), hier mit den kritischen | |
Anstreichungen Adornos ediert. Die bundesrepublikanische | |
Intellektuellengeschichte bekommt viele Fußnoten - aber zugleich wird in | |
diesen Briefen vorgeführt, wie rasch die Frankfurter Theoretiker mächtige | |
Herrscher über die Diskurse wurden. Ausgrenzung von Remigranten sieht | |
anders aus. | |
Die herkömmliche Lesart besagt, dass der alte Horkheimer zwischen | |
Gastprofessuren in Chicago und seinem Alterssitz im schweizerischen | |
Montagnola immer konservativer geworden sei. Adorno hingegen habe die linke | |
Tradition des Instituts für Sozialforschung mit einigen dialektischen | |
Windungen bis zu seinem Tod hochgehalten. Doch dass Adorno bis zuletzt sein | |
politisches Zuhause bei der Linken fand, darf man nach der Lektüre | |
bezweifeln. Im Dezember 1966 hatten Hans Magnus Enzensberger und Karl | |
Markus Michel - 1955 bis 1958 Mitarbeiter am IfS - ihn gedrängt, eine | |
Kritik des Godesberger Programms der SPD zu schreiben. Im ratsuchenden | |
Brief an Horkheimer beklagte er sich über den "massiven Druck", ist | |
unsicher - und ist erleichtert über das ablehnende Telefonat von Max mit | |
Gretel. Deprimiert ist er nach einer Fachschaftsvollversammlung, nach der | |
einem "angst und bange" werden kann: "Gott schütze einen vor solchen | |
Freunden." Zwar gab er in seiner Vorlesung am 6. Juni 1967 eine deutliche | |
Erklärung zum Tod Benno Ohnesorgs ab und ließ die Studenten sich zum | |
Gedächtnis "unseres Berliner Kommilitonen" erheben. Doch bereits im Mai | |
1967 sah er bei den Studenten "puren begriffslosen Praktizismus" am Werk. | |
Er versuchte immer wieder verzweifelt und vergeblich, Marcuse vor dem | |
studentischen Radikalismus zu warnen: ein Dezisionismus schaue bei ihnen | |
heraus, "der ans Grauen erinnert". Die linke Revolte und das Verhältnis zu | |
Herbert Marcuse sind Adornos Hauptsorgen in seinen letzten Lebensjahren. | |
Das ist nicht neu, wird jedoch hier nochmals deutlich. Nach einer Heimat | |
auf der politischen Linken sieht das alles nicht aus. Es ist vielmehr | |
erneute Heimatlosigkeit, die bei Adorno erkennbar wird - nachdem gerade die | |
Jüngeren ihm lange das Gefühl vermittelt hatten, in Deutschland wieder eine | |
Heimstatt gefunden zu haben. | |
Das verkitschte Diktum, Adorno sei an gebrochenem Herzen gestorben, hat | |
insofern einen realistischen Kern: Mit diesen Gegnern hatte er nicht | |
gerechnet. Bereits 1967 tauchte im Brief an Horkheimer jene Formel auf, die | |
die beiden Unbehausten in den letzten Jahrzehnten oft getröstet hatte: "Wir | |
haben buchstäblich niemanden als uns selber." | |
Theodor W. Adorno/Max Horkheimer: "Briefwechsel 1927-1969". Hg. von | |
Christoph Gödde und Henri Lonitz. Band IV: 1950-1969, Suhrkamp, Frankfurt | |
a. M. 2006, 1.077 Seiten, 49,90 Euro. | |
30 Jul 2007 | |
## AUTOREN | |
Alexander Cammann | |
## TAGS | |
DDR | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Todesschütze von Ohnesorg: Karl-Heinz Kurras ist tot | |
Der Tod von Benno Ohnesorg gilt als einer der Gründe für die | |
Radikalisierung der Studentenbewegnung. Sein Todesschütze starb knapp 50 | |
Jahre später - als freier Mann. |