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# taz.de -- Nachruf: Vollender der Formen
> Michelangelo Antonioni wurde nicht müde, sein Publikum herauszufordern.
> Mit "Blow Up" hatte er einen Schlüsselmoment des Kinos geschaffen. Er
> starb am Montag im Alter von 94 Jahren in Rom.
Bild: Michelangelo Antonioni: Er wurde 94 Jahre alt.
Am Ende bleiben Bilder von Dingen. Häuserfronten, Laternen, Fensterrahmen,
Balkonbrüstungen, angeordnet in geometrischer Strenge. Wie Standbilder
folgen sie aufeinander, minutenlang. Der Film "Leclisse" schafft hier, an
seinem Ende, ein Kino ohne Menschen, starr und teilnahmslos, nüchtern und
leergefegt wie das, was sich aus den einzelnen Einstellungen zusammensetzt:
die Straßen und Häuser einer frisch errichteten römischen Vorstadt im
Hochsommer, vermutlich zur Mittagszeit. Die Figuren Vittoria und Piero hat
der Film an dieser Stelle längst aus den Augen verloren. Er wird nicht mehr
zu ihnen zurückkehren.
Bei einem anderen Regisseur als Michelangelo Antonioni wären Vittoria
(Monica Vitti) und Piero (Alain Delon) ein Paar geworden. Die schöne,
schlanke, von unergründlichem Ennui getriebene Frau, der junge, tatkräftige
Börsenmakler - sind sie nicht allein ihrer Jugend, ihrer Schönheit wegen
wie geschaffen füreinander? Doch schon in einer der ersten Einstellungen,
die die beiden zusammen ins Bild bringt - es ist eine Szene im hektischen
Getriebe der römischen Börse -, drängt sich eine riesige Rundsäule zwischen
die beiden. Ein einfaches, aber umso wirkmächtigeres Statement: Die
Entfremdung ist schon da, bevor Nähe überhaupt entsteht.
"Leclisse" ("Liebe 1962" lautet der deutsche Titel) ist der letzte Teil
einer lockeren, in Schwarz-Weiß gedrehten Trilogie, an der Michelangelo
Antonioni Ende der 50er-, Anfang der 60er-Jahre arbeitete. "Lavventura"
("Die mit der Liebe spielen", 1959) und "La notte" ("Die Nacht", 1961)
bilden die ersten beiden Teile. In allen drei Filmen geht es um ausgeglühte
Lieben, um Bindungen, die entweder an ihrem Ende angekommen sind oder es
überhaupt nie zu einem Anfang bringen. Unvergesslich, wie etwa Jeanne
Moreau in "La notte" durch eine Mailänder Villa streift, in der eine Party
stattfindet, durch den Garten, an den anderen Gästen vorbei. Es scheint sie
nichts anzugehen, sie ist eine Fremde, mit ihrem von Marcello Mastroianni
gespielten Ehemann verbindet sie nichts.
Um von solchen Zuständen der Isolation und der Entfremdung zu erzählen,
brauchte Antonioni keine geradlinige Handlung und kein schlüssiges
Psychogramm der Figuren. Er hatte vielmehr den Mut, Leerlauf, Stille und
Ambivalenz zuzulassen. Struktur stellte er her, indem er genuin filmische
Mittel wählte: etwa den Gegensatz zwischen dem heiteren Treiben der Party
und der für sich bleibenden, somnambulen Moreau in "La notte" oder den
Gegensatz zwischen den langsamen, ziellosen Bewegungen Vittis in "Leclisse"
und der entfesselten Betriebsamkeit des Börsenparketts. Es sind Kontraste
des Tons und der Temperatur. Gegensätze von Intensität und Nüchternheit,
von Bewegung und Ruhe, von Lärm und Stille.
20 Jahre später, in "Identificazione di una donna" ist es noch genauso:
Wieder legt Antonioni die Entfremdung eines Paares in eine einzige
Einstellung. In einer Szene sieht man Ida (Christine Boisson) und Niccolò
(Tomas Milian), doch ihn nur als Reflexion in einem Spiegel und deshalb
seitenverkehrt. Man ahnt, dass sein Blick die andere Figur sucht, die
Kamera freilich zeigt, weil sich im Spiegel die Blickrichtung ändert, das
Gegenteil davon, den abgewandten Blick. Ein Bild, und alles ist gesagt über
das Paar, das keines wird.
Aber nur scheinbar. Denn bei all dieser Meisterschaft, diesem genuin
filmischen Vermögen wurde Antonioni nicht müde, sein Publikum mit
rätselhaften Arrangements herauszufordern - etwa mit dem Film, der auf die
Trilogie folgte. "Il desserto rosso" ("Die rote Wüste"), entstand 1964, es
war der erste Farbfilm Antonionis - und was für ein Farbfilm, was für ein
Auskosten der Möglichkeiten von Technicolor! Wieder spielt Monica Vitti die
Hauptrolle, diesmal gibt sie eine Frau, die nach einem Autounfall aus ihrem
Alltag und ihrem Leben fällt, ohne dass man je genau erführe, was dieser
Alltag, was dieses Leben ist. Ziellos streift sie durch ein
Industriegebiet, begleitet von ihrem vier Jahre alten Sohn. Die Schlote
stoßen schwefelgelben Rauch aus, einmal nimmt sie, die doch aus besten
Verhältnissen stammt, den Arbeitern das Pausenbrot weg. Das Grün ihres
Mantels setzt sich von den Ockertönen der dystopischen Landschaft ab. Man
sollte diese Bilder nicht, wie es zeitgenössische Kommentatoren gerne
taten, mit Kulturpessimismus oder gar Ekel vor der Moderne erklären. Eher
schulden sie sich einem Blick, der sich seinem Gegenstand gegenüber mal
skeptisch, mal fasziniert verhält. Einem nüchternen Starren, vielleicht.
In einem Interview mit den Cahiers du cinéma hat Jean-Luc Godard drei Jahre
nach dem Entstehen des Filmes gesagt: "In 'Die rote Wüste' hatte ich den
Eindruck, daß die Farben nicht vor der Kamera, sondern in der Kamera
seien." Und die deutsche Filmkritikerin Frieda Grafe nutzte den Film, um
sich allgemeine Gedanken über Farbe im Film zu machen - um eine Theorie von
"Innenfarben", von "Affektfarben" zu skizzieren, von Farben also, die von
denen der äußeren Wirklichkeit weit abweichen. Vom ästhetischen Programm
des Neorealismus, das den 1912 geborenen Antonioni bei seinen ersten
Schritten als Regisseur noch begleitete, bei dem Dokumentarfilm "Gente del
Po" (1943) etwa, ist hier nichts mehr zu spüren.
In "Blow Up" (1966), der berühmten Verfilmung einer Kurzgeschichte Julio
Cortázars, hat Antonioni schließlich etwas in Szene gesetzt, was als
Schlüsselmoment der Fotografie und des Kinos gelten muss. Thomas, ein
Fotograf (David Hemmings), schießt Modefotos in einem Londoner Park. Als er
in seinem Atelier die Negative entwickelt und Vergrößerungen anfertigt,
bemerkt er etwas Verstörendes im grobkörnigen Bildhintergrund. Zwischen den
Büschen ist ein Mord geschehen. Das Kameraauge hat ihn bezeugt, das
menschliche Auge nicht. Jenes kann in die Tiefe gehen, kann eine erste
Schicht der Wirklichkeit durchbohren und so die tiefer liegenden Schichten
zutage fördern. Dieses ist dazu nicht in der Lage. Die Apparate verändern
und erweitern die Wahrnehmung; sind sie einmal in der Welt, wird ein Auge
nicht mehr schauen können wie zuvor.
Es ist eine seltsame Koinzidenz. Wenn Ingmar Bergman Filme drehte, in denen
man Paaren in der Krise zuschauen konnte, wie sie zu retten versuchen, was
zu retten ist, dann drehte Michelangelo Antonioni zur selben Zeit Filme,
die die Möglichkeit, ein Paar zu sein, erst gar nicht aufkommen ließen.
Dass sie nun fast zeitgleich starben, der eine, 89-jährig, am Montagmorgen
auf der Ostseeinsel Fårö, der andere, 94-jährig, am Montagabend in seinem
Haus in Rom, das wäre im Film zu viel des Zufalls. Im wirklichen Leben
gehört es wohl zu jener Kontingenz, mit der umzugehen noch jeden von uns
überfordert.
1 Aug 2007
## AUTOREN
Cristina Nord
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Nach Ingmar Bergman ist nun eine weitere Filmlegende verstorben:
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Kein anderer 68er-Regisseur hat die Werbe- und Logokultur so zu einer fast
chiliastischen Kapitalismuskritik zugespitzt wie Michelangelo Antonioni.
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