# taz.de -- Politikwissenschaftler Benedict Anderson: "Es gibt einen Diaspora-N… | |
> Fern der Heimat entwickeln Gruppen oft einen rigiden Nationalismus, sagt | |
> Benedict Anderson. Aus der Distanz ist es leicht, sich die alte Heimat | |
> passend zurechtzuträumen - das kann zu Problemen führen | |
Bild: In Verdun fand eine der bedeutendsten Schlachten des 1. Weltkriegs statt.… | |
taz: Herr Anderson, "Die Erfindung der Nation", Ihr Buch über den | |
Nationalismus, ist längst zum Klassiker, ihre Definition der Nation als | |
"imaginäre Gemeinschaft" zum geflügelten Wort geworden. Wie schätzen Sie | |
die Globalisierung ein, bedeutet sie nicht das Ende der Ära des | |
Nationalismus? | |
Benedict Anderson: Das ist das, was viele Leute erhofften. Aber was | |
tatsächlich geschieht, ist eher, dass der Nationalismus seine Form | |
verändert. Es ist nicht mehr unbedingt nötig, dass man in dem Land lebt, an | |
das man national gebunden ist. Man kann anderswo leben, und dann ist es oft | |
so, dass man nationalistischer wird als vorher. Ich glaube also, dass der | |
große Wandel, den die Globalisierung hervorruft, ein Wandel im Charakter | |
des Nationalismus ist. | |
Heißt das, heute findet man paradoxerweise Nationalismus vor allem bei | |
Diasporagemeinschaften? | |
Es gibt heute einen Long-Distance-Nationalismus jener Leute, die in anderen | |
Ländern leben und sich selbst als nicht völlig akzeptierte Minderheit | |
fühlen. Das versuchen sie oft zu kompensieren durch den Stolz auf das Land, | |
aus dem sie kommen. Durch die Massenkommunikation ist das viel leichter | |
geworden. Man kann "heimisches" Radio hören, DVDs sehen, telefonieren, mit | |
billigen Flügen Besuche machen und so weiter. Das bringt ein Bild des | |
Herkunftslandes mit sich, das sie emotional oft mehr interessiert als das | |
Land, in dem sie leben. Es gibt viele Beispiele dafür in Kanada, in | |
Australien, in England, in Asien. | |
Wie funktionieren solche Diasporagemeinschaften dann? Durch Abschottung? | |
Sind das geschlossene Gruppen? | |
Es hängt davon ab, wie das jeweilige politische System funktioniert. Oft | |
partizipieren diese Leute an der lokalen Politik und wissen gleichzeitig, | |
dass sie keinen Einfluss auf nationaler Ebene haben. Das heißt, sie müssen | |
Allianzen mit anderen lokalen Gruppen eingehen. So etwas findet man häufig, | |
etwa in Kalifornien. Anders gesagt: Die Beteiligung an lokaler Politik holt | |
sie raus aus den geschlossenen Gemeinschaften. Aber wenn die nationale | |
Regierung zu viel Macht hat und die lokale zu wenig, dann passiert das | |
genaue Gegenteil. | |
Kann die Differenz auch so beschrieben werden, dass der gängige | |
Nationalismus große Einheiten, gemischte, heterogene Gruppen hervorbringt, | |
der Diasporanationalismus hingegen eher homogene Milieus, Nischen? | |
Es gibt sicher viele Fälle, wo das zutrifft. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. | |
Ich habe einen Freund in Australien, der Sikh ist. Er ist aus der lokalen | |
Sikhcommunity ausgeschlossen, weil er weder langes Haar noch Turban trägt. | |
Es ist schwer für ihn. Aber er sagt: Wenn er nach Indien fährt, kümmert | |
sich niemand darum. Dort hat er keine Probleme. Die Sikhcommunity in | |
Australien ist viel rigider, viel engstirniger als die ursprüngliche | |
Sikhgemeinschaft in der Heimat. Das ist ein sehr gängiges Muster. | |
In Europa sind die Diasporagemeinschaften eher durch eine gebrochene, | |
gespaltene Identität bestimmt. | |
Da muss man sehen, wie sich das bei den nachfolgenden Generationen | |
verändert. Die zweite Generation mag noch eine gespaltene Identität haben, | |
bei der dritten wird sich das verändern. Das wissen wir noch nicht. | |
Sie haben geschrieben, Sie seien der Einzige, der über die Nation schreibt, | |
ohne schlecht von ihr zu denken. Ist dieser Long-Distance-Nationalismus, | |
also einer aus der Ferne, nun etwas, das sie begrüßen? | |
Man muss zwischen Mehrheits- und Minderheitsnationalismus unterscheiden. | |
Das Positive am Nationalismus ist: Du folgst den Gesetzen, weil es deine | |
Gesetze sind. Du musst dazu nicht aufgefordert werden. Der Grund, warum du | |
es tust, ist, dass du zu dieser Gemeinschaft gehörst und es deine Pflicht | |
ist. Und das lässt sich natürlich viel schwerer aufrechterhalten, wenn | |
jemand hunderte oder tausende Kilometer entfernt ist. Sehr wichtig für den | |
Charakter des Diasporanationalismus ist die Art des Mehrheitsnationalismus. | |
Denken Sie etwa an die niederländische oder die französische Zurückweisung | |
der europäischen Verfassung. Die Leute denken, dass ihre Politiker sich | |
nicht ausreichend auf die nationale Gemeinschaft beziehen, dass sie sich | |
nur auf Brüssel beziehen und die nationale Identität sekundär wird. Es ist | |
aber sehr schwer, eine tiefe Loyalität zu Europa als solches zu haben: Es | |
ist zu groß, es ist zu kompliziert, und es ist zu undemokratisch. Die | |
Nation ist meiner Meinung nach die größte Einheit, die noch gewisse | |
demokratische Formen haben kann. | |
Und was kennzeichnet den Minderheitsnationalismus? | |
Der entscheidende Unterschied ist die Abwesenheit von Verantwortung. Diese | |
Leute wollen oft in ihren Herkunftsländern politisch partizipieren, aber | |
sie müssen sich nicht an deren Gesetze halten, sie müssen keine Steuern | |
zahlen, sie sind gewissermaßen eigenständig Handelnde. Personen, die solche | |
Long-Distance-Politik betreiben, müssen also nicht die Verantwortung für | |
deren Folgen übernehmen. Sie können glücklich anderswo sitzen und dies und | |
jenes fordern. Und sie können manchmal einen Einfluss gewinnen, der etwas | |
besorgniserregend ist. | |
Aber muss diese Diasporasituation notwendigerweise zu solch einer | |
Radikalisierung führen? | |
Nein, unter bestimmten Bedingungen kann es auch progressive | |
Diasporagemeinschaften geben. Etwa die Filipinos in den USA, die dort | |
permanent leben und sich sehr in der Anti-Marcos-Bewegung engagiert haben. | |
Das Problem ist aber meistens, dass Leute, die anderswo leben, nicht genau | |
verstehen, was in ihren Herkunftsländern vor sich geht. Es ist leicht für | |
sie, durch Träume zu leben - ohne das Korrektiv der tagtäglichen Erfahrung. | |
Wobei es schwer zu sagen ist, was fortschrittlich ist. In den Niederlanden | |
überlegt man die Einrichtung islamischer Krankenhäuser. Wie würden Sie das | |
einschätzen: Ist das nun fortschrittlich oder nicht? | |
Was soll es genau bedeuten? Heißt das, die Ärzte müssen Muslime sein oder | |
nur die Patienten? | |
Es heißt, die Patienten werden nach islamischen Vorschriften behandelt, vor | |
allem was das Geschlecht des gesamten Pflegepersonals betrifft. | |
Das klingt nicht sehr gut. Aber auf der anderen Seite gab es etwa jüdische | |
Spitäler in den USA, die nur für Juden bestimmt waren. Anfänglich waren sie | |
sehr ausschließend, aber mit der Zeit wurden sie offener und integrierten | |
sich mehr in die Gesellschaft. Ich glaube allgemein, die Leute haben die | |
falsche Erwartung, dass solche Integrationen schnell stattfinden. Aber ich | |
denke andererseits, dass es nicht möglich ist, an einem Ort wie etwa | |
Deutschland drei Generationen lang zu leben und so zu bleiben, wie die | |
Großeltern ursprünglich waren. Die Kraft der modernen Gesellschaft ist zu | |
stark. Man sollte also diese Art von Spitälern nicht ablehnen. Es ist | |
besser, flexibel zu sein und zu sagen: Wir werden sehen. Ein Freund, der | |
kroatische Familien in Australien erforscht, zeigt auf, dass die alte | |
Generation sehr rechts, sehr abgeschlossen und engstirnig ist, die Kinder | |
aber, die australische Schulen besuchen, sehr zerrissen sind. Das erzeugt | |
sehr oft einen Bruch in der Familie. Die Kinder wollen Australier sein, | |
während die Alten nostalgisch von ihrem Führer Ante Pavelic schwärmen. Das | |
Drama spielt sich oft innerhalb der Familien ab. | |
INTERVIEW: ISOLDE CHARIM | |
5 Aug 2007 | |
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USA | |
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