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# taz.de -- Interview: "Tarifpolitik ist keine Sozialpolitik"
> Der Gewerkschaftsexperte Hans-Peter Müller plädiert für differenzierte
> Lohnabschlüsse: Sonst könne man ja gleich den Einheitslohn einführen.
Bild: Parole ohne Zukunft.
taz: Herr Müller, die Gewerkschaft der Lokführer will einen eigenen
Tarifvertrag. Zerstört sie damit die Solidarität unter den Arbeitnehmern
der Deutschen Bahn?
Hans-Peter Müller: Bisher behaupten das eher die Arbeitgeber.
Wahrscheinlich sind viele Bahnangestellte, die keine Lokführer sind, sogar
froh, dass nach dreizehn Jahren andauernder Bahnreform sich mal jemand
traut, sich zu wehren. Die beiden anderen großen Gewerkschaften Transnet
und GDBA haben jedenfalls erklärt, sie würden ihre Mitglieder nicht als
Streikbrecher einsetzen lassen.
Es ist aber kein Geheimnis, dass die beiden großen Gewerkschaften nicht
begeistert sind vom Ausscheren der kleinen. Gefährden die Lokführer
eigennützig den gewerkschaftlichen Zusammenhalt?
Wenn wir über Solidarität sprechen, dann ist das auch immer eine Frage von
Geben und Nehmen. Und die Lokführer haben zu Recht den Eindruck, in den
vergangenen Jahren mehr gegeben als zurückbekommen zu haben. Die beiden
großen Gewerkschaften haben die Verträge ausgehandelt, und die Lokführer
durften dann nur noch unterschreiben. Dabei tragen sie viel mehr
Verantwortung als andere Bahnangestellte.
Aber der Grundgedanke von Gewerkschaften ist doch, dass sich Arbeitnehmer
in stärkerer und schwächerer Position zusammentun, um gemeinsam bessere
Arbeitsbedingungen zu erreichen.
In Deutschland gibt es diese Tradition der Industriegewerkschaften seit den
Zwanzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts, das ist richtig. Im
öffentlichen Dienst zum Beispiel konnten die Angestellten am Schreibtisch
ihre Forderungen nur dann durchsetzen, wenn die Müllfahrer auch streikten.
Aber dieses System hat einen Pferdefuß.
Welchen?
Solche Gewerkschaften müssen die Interessen aller Mitglieder, der
Besserverdienenden und der weniger gut Verdienenden, unter einen Hut
bringen. Das beinhaltet die Gefahr der Gleichmacherei. Der Lohnanstieg ist
für alle gleich, obwohl die Mitglieder unterschiedlich viel Verantwortung
tragen und leisten.
Also ist das Ausscheren der Lokführer berechtigt?
Ja, in der Tat.
Warum bricht dieser alte Konsens in den letzten Jahren auf? Nicht nur die
Lokführer, auch Piloten und Ärzte kämpfen lieber allein.
Es gibt derzeit wieder einen wirtschaftlichen Aufschwung, von dem alle gern
profitieren würden. Außerdem haben bestimmte Berufsgruppen die Nase voll
von den nivellierenden Lohnabschlüssen. Und es wirkt sich ein Manko der
Ver.di-Gründung aus: All die kleinen Gewerkschaften, über die wir hier
reden, mit Ausnahme der Lokführer, waren früher mit der Deutschen
Angestellten-Gewerkschaft assoziiert. Als die in der Großgewerkschaft
Ver.di aufging, machten viele dieser Berufsorganisationen nicht mit, weil
sie befürchteten, in der Riesenorganisation Ver.di einfach unterzugehen.
Die Idee, dass Arzt und Krankenschwester gemeinsam für einen besseren Lohn
kämpfen, ist am Ende?
Tarifpolitik ist keine Sozialpolitik, jedenfalls nicht in erster Linie. Das
sagen auch die Gewerkschaften. Sonst könnte man ja auch den Einheitslohn
einführen.Tarifpolitik hat etwas mit Leistung und entsprechender Bezahlung
zu tun. Gewerkschaften haben im Übrigen schon immer Vorrechte verteidigt.
Sie wurden auch gegründet, um die Interessen der qualifizierten
Facharbeiter gegen die der unterprivilegierten und schlecht ausgebildeten
Arbeiter zu verteidigen.
Trotzdem gab es Allianzen über die Berufsgruppen hinaus. Derzeit hingegen
scheint sich eine Rückkehr zu den Zünften abzuzeichnen. Jeder Berufsstand
kämpft für sich. Erleben wir einen Rückfall ins Mittelalter?
Viele behaupten das, aber das ist Polemik. Natürlich erreichen kleine
Gewerkschaften nur dann etwas, wenn ihre Mitglieder in Schlüsselpositionen
sitzen. Andere Berufsgruppen müssen weiterhin darauf setzen, dass ihre
Gewerkschaft große Massen mobilisieren kann.
INTERVIEW: DANIEL SCHULZ
8 Aug 2007
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