# taz.de -- Theaterfestival: Das Leben ist kurz und traurig | |
> Deutsche Schauspieler spielen finnische Klischees und die Finnen lachen | |
> Tränen beim 39. Theaterfestival in Tampere. | |
Bild: Bei mediterranen Temperaturen gehen die Finnen doch lieber ins Theater | |
Weiße Nächte, schwarze Blutwürstchen (Mustamakkara) und zwei Seen, die im | |
Stadtzentrum in einem Wasserfall zusammentreffen: Das ist des Setting des | |
39. Theaterfestivals im finnischen Tampere. Alte Industrieanlagen aus | |
rötlichem Backstein, stilvoll umgebaut zu Kulturzentren, flirrendes | |
Birkenlaub und überall "Teatteri", wie es auf Finnisch heißt: in Kellern, | |
Kneipen, Zelten, in den Straßen und sogar in der öffentlichen Sauna, obwohl | |
die niemand benutzen mochte bei den mediterranen Temperaturen, die in der | |
vergangenen Woche im hohen Norden herrschten. - So viel zu den angenehmen | |
Seiten eines Besuchs des größten Theaterfestival im nordischen Raum, knappe | |
zwei Zugstunden nördlich von Helsinki gelegen. | |
Die ehemalige Arbeiterstadt, mit 200 000 Einwohnern, die drittgrößte | |
Finnlands, verfügt nebst der Textilfabrik Finlayson und einem Leninmuseum, | |
das sich rühmt, das Einzige der Welt zu sein, über mehr als ein Dutzend | |
Bühnen. Und die seien nicht nur während des Festivals gut besucht, wie die | |
Finnen dem auswärtigen Gast versichern; in Tampere nehme das Theater einen | |
festen Platz im öffentlichen Leben ein. Selbst die finnische Präsidentin | |
Tarja Halonen reist jährlich im August an, um sich einige Aufführungen | |
anzuschauen. Zusätzlich zu den rund 20 finnischen Produktionen, die aus der | |
vergangenen Spielzeit ausgewählt werden, sind 6 internationale Gastspiele | |
eingeladen. Für die gab es sogar eine Untertitelung, allerdings in | |
Finnisch. | |
Für ausländische Besucher bedeutet die Begegnung mit dem finnischen Theater | |
ein permanentes "Lost-in-Translation"-Gefühl, zumal in diesem Jahr | |
mehrheitlich klassisches Sprechtheater zu sehen war. Dass die geplante | |
Übersetzung ins Englische am Geld scheiterte, bedauert Jukka-Pekka Pajunen | |
von der Festivalorganisation besonders, weil der Austausch mit den | |
skandinavischen und nordosteuropäischen Nachbarländern eine wichtige | |
Funktion des Festivals ist; hier treffen estnische, schwedische, lettische | |
und russische Theatersprachen zusammen. | |
In diesem Jahr gab es drei heiß begehrte Produktionen, die seit einiger | |
Zeit auf verschiedenen Festivals touren und bereits in Deutschland zu sehen | |
waren: "Platform", inszeniert von Johan Simons nach dem Roman von Michel | |
Houellebecq, "Vita Mia" von Emma Dante aus Sizilien und "Sonja" des | |
lettischen Regisseurs Alvis Hermanis nach einer Erzählung von Tatjana | |
Tolstaja. | |
Die Sprache nimmt im finnischen Theater einen so zentralen Platz ein. Ein | |
Grund dafür ist, glaubt Pajunen, dass die Geschichte von Finnland als | |
Kulturnation noch jung ist. Sprache ist ein wesentlicher Faktor für die | |
Identität der kleinen Nation am Nordrand Europas, eingeklemmt zwischen | |
Russland und Skandinavien. Tatsächlich fiel beim diesjährigen Programm die | |
große Zahl der Stücke finnischer Autoren auf. Nur gerade ein Klassiker | |
schaffte es ins Programm: Tschechows "Möwe", inszeniert von Kristian Smeds | |
am Von Krahl Theater in Estland. | |
Die Dominanz der finnischen Dramatik ist auf den Spielplänen nichts | |
Ungewöhnliches, sagt auch Riita Seppälä, Direktorin des | |
Informationszentrums für finnisches Theater. In den letzten zehn Jahren | |
wurde die Gegenwartsdramatik stark gefördert, und allein in der vergangenen | |
Spielzeit erschienen mehr als 60 neue Stücke. Ein zentrales Thema: der | |
Mensch im zwiespältigen Verhältnis zu Technik und Natur. So etwa in | |
"Yksinen" von Laura Ruohonen, Finnlands bekanntester | |
Gegenwartsdramatikerin. Das Stück spielt auf einer unbewohnten Insel in der | |
Ostsee, wo Frauen aus zwei verschiedenen Generationen in Konflikt darüber | |
geraten, wie mit natürlichen Ressourcen umzugehen sei; im entscheidenden | |
Moment versagt die Technik, und sie sitzen auf der Insel fest. | |
Finnland in der Sicht der Außenwelt - das ist ein Thema, das in der | |
Randlage offenbar besonders interessiert, denn gleich zwei herausragende | |
Produktionen im Hauptprogramm setzten sich mit dem Gastland auseinander. | |
Die estnische Inszenierung von "Kokkola", einer Tragikomödie von Leea | |
Klemola, die zum besten finnischen Stück des Jahres 2005 gewählt wurde, | |
spielt weit jenseits des Wodkagürtels - so heißt im Norden jener | |
Breitengrad, hinter dem eine Trinkkultur beginnt, die weniger mit | |
Alkoholismus als mit einer Lebenseinstellung zu tun hat. "Betrunken zu sein | |
ist auch nur eine Art, die Welt zu betrachten", sagt Piano tröstend zu | |
Reejo, der im Suff am Straßenrand liegt. In seinem vollgestopften Bus, | |
geschmückt mit einem Elchgeweih, unterhält er sein "Unternehmen für private | |
Transporte", das immer dort zum Einsatz kommt, wo gerade jemand in einem | |
Eis- oder Kommunikationsloch zu verschwinden droht. In der Welt der | |
klimatischen Extreme äußern sich auch Gefühle entweder unmäßig oder gar | |
nicht. Und weil alle, ähnlich wie bei Tschechow, immer den Falschen | |
nachrennen, kann das manchmal lebensgefährlich werden. Am Ende begibt sich | |
die Schicksalsgemeinschaft auf eine Busreise nach Grönland, dazu erklingt | |
getragen die Finlandia. | |
Offenbar lachen die Finnen gerne über sich selbst, denn auch die zweite | |
Inszenierung, die liebevoll mit Klischees über das Gastland spielte, wurde | |
vom Publikum geradezu umarmt: "Wolken ziehen vorüber", eine Adaption nach | |
dem gleichnamigen Film von Aki Kaurismäki, inszeniert von Stephanie Sewella | |
am Schauspiel Essen (Tamperes Partnerstadt), veranlasste sogar die | |
finnische Präsidentin zu einer spontanen Dankesrede. | |
Absurder Humor, wortkarge Figuren und ein schauspielerischer Minimalismus, | |
der jedem Lidschlag tiefste Bedeutung verleiht: Diese Merkmale kennzeichnen | |
die Filme Aki Kaurismäkis, die im eigenen Land höchst umstritten sind, weil | |
sie angeblich ein allzu düsteres Bild des finnischen Alltags vermitteln. | |
"Wolken ziehen vorüber" erzählt indirekt von einer glücklich überwundenen | |
Krise in der jüngsten finnischen Vergangenheit: In der Geschichte über die | |
Oberkellnerin Illona und ihren Mann Lauri, die beide ihren Job verlieren | |
und nach einer demütigenden Zeit des sozialen Abstiegs erfolgreich ein | |
Restaurant eröffnen, reflektierte der Kinofilm den unvermuteten | |
wirtschaftlichen Einbruch in Finnland nach dem Zusammenbruch des Ostblocks; | |
eine angstbesetzte Periode, die mit dem Aufstieg der Firma Nokia unerwartet | |
schnell überwunden wurde. | |
Leichtfüßig, manchmal auch slapstickartig, aber ohne die Tiefe der Vorlage | |
ganz aus den Augen zu verlieren, spielt die Essener Adaption mit den | |
finnischen Nationalklischees, um untergründig viel über deutsche Ängste vor | |
Arbeitslosigkeit und sozialem Abstieg zu erzählen. Im nostalgischen Schein | |
roter Lampen, finnischer Tango im Hintergrund, schenkt Bettina Engelhardt | |
in einer urhässlichen lila Uniform zwei Gästen Alkohol nach und wetteifert | |
mit ihrem Vorbild, der Filmschauspielerin Kati Outinen, um einen möglichst | |
stoischen Gesichtsausdruck. Andreas Grothgar spielt den beschwipsten | |
Schlagersänger in Schräglage, den schmierigen Koch mit Rock-n-Roll-Toupet, | |
den entlassenen Busfahrer, der nur noch über die Schwelle kippt. | |
Selbst im tiefsten Suff behalten diese Figuren ihre Würde, sitzen mit | |
Fellmützen in der Sauna und verlangen mit undurchdringlicher Schwermut nach | |
einem Aufguss, den eine kleine Nebelmaschine unter dem Kühlschrank | |
hervorpustet. Warum ihnen dieses merkwürdige Leben zustößt, wird diesen | |
Figuren nie recht klar, aber sie meistern es mit größtmöglicher Würde. "Das | |
Leben ist kurz und traurig", erklärt Lauri mit ausdrucksloser Miene. Und | |
das finnische Publikum, das sich sonst so höflich still verhält, dass man | |
sich flegelhaft vorkommt, wenn man mehr als zweimal pro Stunde die | |
Beinstellung wechselt, jauchzt an dieser Stelle laut auf vor Lachen. | |
14 Aug 2007 | |
## AUTOREN | |
Irene Grüter | |
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Filmfest Bremen | |
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