# taz.de -- Nikolaiviertel: Berlins Disneyland lebt | |
> Das Nikolaiviertel wird 20 Jahre alt und lockt die Touristen. Für den | |
> Architekten Günter Stahn ist das eine Genugtuung. Er hatte damals den | |
> Historismus im DDR-Städtebau hoffähig gemacht. | |
Bild: Großes Vorbild Disneyland: So lustig kann Kitsch sein | |
Am Ende war es richtig knapp. Erst zwei Wochen vor dem geplanten Baubeginn | |
trafen die Bauteile des Ephraimpalais aus Westberlin ein. Zwar hatte sich | |
das Abgeordnetenhaus im Rathaus Schöneberg schon vorher für die Rückgabe | |
des vor dem Krieg abgetragenen und eingelagerten Denkmals ausgesprochen. | |
Doch erst Berlins Regierender Bürgermeister Richard von Weizsäcker hatte | |
die Mauer überspringende Geste möglich gemacht. So wurde rechtzeitig zur | |
750-Jahr-Feier 1987 in Ostberlin nicht nur das Nikolaiviertel fertig, auch | |
sein bedeutendstes Gebäude, das der Bankier Veitel Heine Ephraim 1762 bauen | |
ließ, strahlte in neuem Glanz. | |
Die deutsch-deutsche Versöhnungsgeste aus Anlass des mit Pomp auf beiden | |
Seiten gefeierten Stadtgeburtstages trägt schon alle Symbolik in sich, die | |
das Nikolaiviertel zwischen Rotem Rathaus und Spree bis heute begleitet. Es | |
geht um die Rückgewinnung der Stadtgeschichte für die Berliner Identität - | |
und um deren Inszenierung. Das Ephraimpalais, 1936 wegen der Verbreiterung | |
des Mühlendamms abgetragen, steht heute nicht an seinem alten Platz, | |
sondern 12 Meter nördlich davon. Nicht zuletzt diese historische | |
Ungenauigkeit hat Günter Stahn, dem Architekten des Nikolaiviertels, den | |
Ruf eingebrockt, ein Berliner Disneyland geschaffen zu haben. | |
Günter Stahn, heute 68 Jahre alt, sitzt bei Tomatensaft in der | |
Gerichtslaube in der Postraße. Auch der gotische Profanbau aus dem 13. | |
Jahrhundert steht nicht mehr wie dereinst an der Spandauer Straße. Als das | |
alte Rathaus 1871 dem heutigen Rathaus weichen musste, brauchte auch die | |
Gerichtslaube einen neuen Ort - und fand ihn auf der Lenné-Höhe im | |
Schlosspark Babelsberg. "Mit dem Wiederaufbau des Nikolaiviertels fand die | |
Gerichtslaube wieder einen städtischen Platz", freut sich Stahn. | |
Dass dieser Platz, ähnlich wie beim Ephraimpalais, nicht authentisch ist, | |
stört Stahn nicht. "Uns ging es nicht um die Rekonstruktion der Berliner | |
Altstadt, sondern um die Rekonstruktion eines städtischen Raums, der das | |
alte Berlin erlebbar macht." Man kann es auch so sagen: Mit diesem Credo | |
des "Anything goes" war Günter Stahn einer der Väter der Ostberliner | |
Postmoderne. | |
Als der Wettbewerb zur Wiederbebauung des Nikolaiviertels 1979 | |
ausgeschrieben wurde, befand sich das Bauen in der DDR in einer | |
Umbruchphase. | |
Zwar wurden die meisten Wohnungen immer noch in Plattenbauweise | |
hergestellt, gleichzeitig hatte mit der Sanierung des Arnimplatzes in | |
Prenzlauer Berg aber auch ein Umdenken stattgefunden. Die gründerzeitlichen | |
Straßenzüge galten nicht mehr ausschließlich als Zeugnisse kapitalistischen | |
Profitstrebens. Mit behutsamen Entkernungen konnten sogar neue, moderne | |
Wohnungen entstehen. Schließlich warf die 750-Jahr-Feier auch in Ostberlin | |
ihre Schatten voraus. "Das war ein Wettbewerb zwischen Ost und West", | |
erinnert sich Stahn. "Beide wollten vorne sein." | |
Und beide Seiten spielten die Geschichtskarte. Im Westteil Berlins brachte | |
die Internationale Bauaustellung IBA die Sanierung in Kreuzberg voran. Die | |
Ausstellung "Mythos Berlin" erinnerte derweil an alte Berliner Herrlichkeit | |
und versuchte, Moderne und Vergangenheit einander näher zu bringen. In | |
Ostberlin wurden die Sophienstraße in Mitte und die Husemannstraße in | |
Prenzlauer Berg saniert. In der Husemannstraße entstand - als Ausgleich für | |
die Rehabilitierung der Mietskasernenstadt - das Museum Arbeiterleben im | |
19. Jahrhundert. Zuvor schon war Unter den Linden das Reiterstandbild | |
Friedrichs des Großen aufgestellt worden. Preußische Geschichte galt | |
plötzlich wieder etwas im Arbeiter-und-Bauern-Staat. | |
Doch nirgendwo zeigt sich die inszenierte Erinnerung an die Berliner | |
Geschichte besser als im Nikolaiviertel, jener Brache im Zentrum von | |
"Berlin, Hauptstadt der DDR", auf der nur noch sechs historische Gebäude | |
standen, unter ihnen die Nikolaikirche und das Kurfürstenhaus mit seiner | |
Neorenaissance-Fassade zur Spree. Der Plan von 1959, aus dem Gründungsort | |
Berlin eine Hafenanlage für die Weiße Flotte zu machen, war schon lange | |
aufgegeben. "Beim Wettbewerb 1979 ging es darum, wie man um die Kirche | |
herum Urbanität schafft, und das mit den Mitteln des damaligen Bauens", | |
erinnert sich Stahn. | |
Bei dieser gewaltigen Aufgabe wollte der in Magdeburg geborene Architekt, | |
der in Ostberlin auch den Berliner Dom saniert und das FEZ in der Wuhlheide | |
gebaut hat, nicht kleckern, sondern klotzen. "Eine Vorgabe lautete, eine | |
Gaststätte zu bauen. Ich habe gesagt, wir bauen 22 Gaststätten und 22 | |
Ladengeschäfte noch dazu. Das war neu damals." | |
Neu war auch, die "neue Altstadt" mit allerlei historischen Accessoires | |
aufzumöbeln. "Um den Straßen und Plätzen Sinn zu geben, haben wir in den | |
Depots der Staatlichen Museen Plastiken gesucht, die dem Publikum nicht | |
mehr zugänglich waren." | |
So kamen unter anderem der Heilige Georg und sein Kampf gegen den Drachen | |
ins Nikolaiviertel - auf einer Straße zur Spree, die es vor dem Krieg nicht | |
gegeben hat. Auch die Zunftzeichen, die an den neuen Bürgerhäusern | |
angebracht wurden, hatten - wie die barocken Häuser selbst - keinerlei | |
historisches Vorbild an dem Ort. Aber das spielte keine Rolle, schließlich | |
war das Nikolaiviertel auch ein Kontrapunkt zur Betontristesse auf der | |
gegenüberliegenden Fischerinsel. Kein Wunder, dass das Disneyland schon zu | |
DDR-Zeiten ein Renner war. Pünktlich zur 750-Jahr-Feier war rund um die | |
Nikolaikirche ein Stück Geschichte fürs Volk entstanden, das erste Urban | |
Entertainment Center Berlins. | |
Nur eines schaffte Günter Stahn nicht: Disney pur. Schon die Kopien der | |
barocken Bürgerhäuser rund um die Kirche waren so teuer, dass der Architekt | |
beim Rat der Stadt antanzen musste. "Dort konnte ich darauf hinweisen, dass | |
zumindest die Häuser am Marx-Engels-Forum im Kostenrahmen waren", sagt er. | |
Auch an der Vorgabe, mindestens 2.000 Wohnungen zu bauen, ließ sich nicht | |
rütteln. | |
Die wilde Mischung aus historischem Baukasten und serieller Fertigung, die | |
die Touristenströme immer wieder aufs Neue entzückt, ist also einem | |
strikten sozialistischen Wirtschaftlichkeitsdenken geschuldet. Wenigstens | |
dieser Teil der Baugeschichte ist authentisch. | |
Inzwischen hat Günter Stahn auch einen Stadtführer übers Nikolaiviertel | |
geschrieben, herausgegeben vom Historiker Wolfgang Ribbe, Berlins | |
Großgeschichtsschreiber. Dass das wilde Sammelsurium auch nach der Wende | |
Bestand hatte und das Nikolaiviertel zum Muss für Berlin-Touristen gehört, | |
wundert kaum. Der Historismus, den Günter Stahn in Ostberlin hoffähig | |
gemacht hat, findet sich inzwischen überall - von den neuen Hackeschen | |
Höfen über die Townhouses am Friedrichswerder bis zum "Kolle Belle" am | |
Kollwitzplatz. | |
Günter Stahn, ein entschiedener Befürworter des Wiederaufbaus des Berliner | |
Stadtschlosses, hätte es auch gut gefunden, wenn am Marx-Engels-Forum und | |
rund um die Marienkirche "das alte Berlin" wieder entstanden wäre. "Das | |
wäre keine Konkurrenz zum Nikolaiviertel gewesen, sondern eine Ergänzung". | |
Doch das ist vom Tisch - und damit auch die städtebauliche Anbindung des | |
Nikolaiviertels an die nähere Umgebung. Aber vielleicht ist es das, was das | |
Quartier heute so attraktiv macht. Wer am Alex parkt und sich der | |
Nikolaikirche von weitem nähert, mag sich schon einmal an wirkliche | |
Disneystädte erinnert fühlen. Die liegen in den USA am Stadtrand inmitten | |
riesiger Parkplatzflächen und türmen sich auf wie eine Fata Morgana. | |
Zumindest bei diesem Wettbewerb zur 750-Jahr-Feier hat Ostberlin den Westen | |
geschlagen. Oder kann der Breitscheidplatz von sich behaupten, in den USA | |
Nachahmer gefunden zu haben? | |
16 Aug 2007 | |
## AUTOREN | |
Uwe Rada | |
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Film | |
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