# taz.de -- 60er Jahre-Buch: Das Hippie-Klassentreffen | |
> Manchmal öffnet man unversehens ein Buch - und findet sich unter | |
> Musterhippies, Acidheads und Heute-noch-Langhaarigen wieder. | |
Bild: Keiner habe die 60er "ti efer ausgelotet als Hendrix" - sagt einer der Be… | |
Ein Buch kam vorbei. Es heißt: "Alles schien möglich - 60 Sechziger über | |
die 60er Jahre und was aus ihnen wurde" und ist bei Werner Pieper & The | |
Grüne Kraft erschienen. Werner Pieper wohnt im schönen Löhrbach und verlegt | |
seit 36 Jahren Bücher aus dem Umfeld der Alternativkultur, mitbegründete | |
1972 die "Grüne Hilfe" (eine Dealer-Rechtshilfe, analog zur "Roten Hilfe") | |
und hatte Anfang der 80er eine Drogenkolumne in der taz, in deren | |
Frühzeiten es bekanntlich auch einen Redakteursposten für Drogen gegeben | |
hatte. In der von ihm herausgegebenen, umfangreichen Aufsatzsammlung | |
spricht ein vielfältiges Wir aus den Frühzeiten der deutschen Alternativ- | |
und Hippiekultur nebst versprengten Beatniks über die wilden 60er-Jahre, | |
die bis in die 70er hineinreichen. Schwierig, über dies Buch zu schreiben. | |
So viele Texte, die so viele Dinge berühren, mit denen man sich schon als | |
Teenager rumgeschlagen hat. | |
Deshalb hab ich mir dies Buch wie ein Klassentreffen vorgestellt (auch wenn | |
viele der AutorInnen in ihrer Schulzeit vermutlich eher zu den Außenseitern | |
gehörten). Veranstalter dieses Treffens wäre Werner Pieper, ein guter | |
Gastgeber, den alle mögen, auch wenn manche manchmal ein bisschen genervt | |
sind, weil er so überaus ordentlich und korrekt ist, ein Musterhippie | |
sozusagen, jahrelang auch in der Elternvertretung aktiv. Das Essen ist sehr | |
gut und gesund, denn Pieper ist gelernter Koch. | |
Das Treffen findet auf einer großen Wiese statt. In der Mitte sitzen und | |
stehen viele. Manche sehen ein bisschen freakig, die meisten aber eher | |
normal aus. Sie sind zwischen 53 und 75. Der Anteil derer, die ab und an | |
Hasch rauchen, dürfte ein wenig höher sein als in der Gesamtbevölkerung; | |
der Anteil derer, die ihr Leben nach gesundheitlichen und ethischen | |
Gesichtspunkten ausgerichtet haben, aber auch. Die meisten der ungefähr | |
sechzig Gäste sind zu Fuß oder mit dem Fahrrad gekommen. Nur drei Autos | |
stehen vor dem ländlichen Anwesen: zwei Ökomobile mit Hybridmotor und ein | |
schicker, dunkelroter Opel Kapitän. Der verbraucht 13 Liter und gehört | |
Jürgen Ploog. Der Schriftsteller, ehemaliger Pilot und Herausgeber der | |
Beatnikzeitung Gasolin, trägt Anzug und eine dunkle Sonnenbrille und sieht | |
recht elegant aus. Vor wenigen Wochen hatte ich Jörg Fausers Roman | |
"Rohstoff" gelesen, in dem er auch beschrieben ist. Er steht da jedenfalls | |
mit drei Leuten herum, die staunend an seinen Lippen hängen. Im Vorbeigehen | |
hört man ein paar Sätze: | |
"Konformität gibt sich heute befreit & liberalistisch, wie ein Blick aufs | |
Fernsehen beweist, wo eine kleine Zahl bereits kodifizierter Aussagen, die | |
Aussagen der herrschenden Realität sind, dazu dienen, diese Aussagen zu | |
Aussagen der individuellen Subjekte selbst zu machen." - "Der | |
individualisierten Subjekte!", wendet jemand ein. - "Meinetwegen. Auf diese | |
Weise jedenfalls wird die geistige Realität auf die herrschende reduziert & | |
die Ausdrucksfreiheit bleibt darauf beschränkt, zwischen bereits | |
kodifizierten Möglichkeiten zu wählen." - "Seh ich auch so." | |
Ein Langhaariger tippt mir auf die Schulter und sagt: "Du bist doch von der | |
taz." Früher habe er ganz viel mit der taz zu tun gehabt. Ob der und der | |
auch noch bei der taz sei? Die Namen sagen mir nichts. Ich schreibe ja erst | |
seit 18 Jahren für die taz. Auf einer kleinen Bühne hält eine Frau eine | |
Rede. Sie heißt Sabine Reichel, ist Journalistin. Von 1971 bis 1973 hatte | |
sie in einer Kommune bei Hamburg gewohnt. Sie sagt, sie sei so etwas wie | |
"ein kritischer Fan der Sechzigerjahre", die sie "so liebe wie ein | |
missratenes Kind". Manche grinsen oder gucken hilfesuchend in die Luft. | |
Ich gehe weiter und schnappe einen Satz auf: "Ich wusste, dass sich unsere | |
Spülhilfe im Seed-Restaurant auf dem Klo Heroin spritzte, aber fristlos | |
gefeuert habe ich sie erst, als ich sie in der Küche beim Cola-Trinken | |
erwischte." "Wer ist das?" "Gegory Sams.""???" "Der hatte in London so ein | |
makrobiotisches Restaurant. Da sind John Lennon und Yoko Ono oft | |
hingegangen. Seit den Neunzigern macht er was mit Fraktalen. Computer und | |
so." | |
Die meisten hier schimpfen auf die studentischen, politischen 68er. Die | |
seien "weitgehend humorlos", eine "beinahe fundamentalistische, bestimmt | |
jedoch eine engstirnige Bewegung", machtorientiert, kurz: "lustfeindliche | |
Protestpuritaner" gewesen. Conrad Schnitzler, der Ende der Sechzigerjahre | |
mit Dieter Moebius und Hans-Joachim Roedelius in der legendären Band | |
Cluster eine der frühesten Formen von Industrial-Musik entwickelt hatte, | |
poltert: "Studenten, nä, mit denen hatte ich nun wirklich nichts zu tun, | |
wat warn die doch fanatisch, rechthaberisch, herrisch, ja der Anführer von | |
diesen Deppen, der gebärdete sich doch glatt wie Jüppchen Jöbbels." Jemand | |
zitiert, immer noch wutentbrannt, einen Philosophen der Frankfurter Schule, | |
der Rockmusik doof fand und gesagt habe: "Die Musik ist die Hure des | |
Wortes." Also, hör mal | |
Eine Gruppe wirkt ein bisschen esoterisch, so als würden die gleich | |
losfliegen. Einer von ihnen erzählt von einem bizarren LSD-Trip, auf dem er | |
vor 30 oder 40 Jahren in Mexiko gewesen war. Ein anderer berichtet von dem | |
Kongress in Basel, Januar 2006, anlässlich des 100. Geburtstags von Albert | |
Hoffmann, "unseres Stammesfürsten". Ein anderer schwärmt von Timothy Leary | |
und anderen Acidheads, die sich gegen die "Herrschaft der grauen Männchen" | |
aufgebäumt und eine neue "Frohbotschaft" verkündigt hätten. "Die Flamme | |
schwelt noch, aber heute in einer verborgenen Gralshöhe", raunt jemand. Und | |
was sind das nun wieder für Leute? | |
Der da würde Seminare leiten, der andere sei Medienkünstler, erklärt mir | |
jemand, der am Rande wie ich schweigend zuhört. Das ist Uli Trepte, ein | |
schlanker Künstlertyp, der Ende der 60er die Gruppe Guru Guru mitbegründet | |
und bei vielen anderen Krautrock-Formationen mitgespielt hatte. Uli sagt, | |
er befände sich immer noch "tief im Untergrund, als einzig erträglicher | |
Daseinsform in einem geist-, traum- und drogenfeindlich eingestellten | |
Grützestaat, den ich niemals bejahen werde". - "Sind die Drogen wirklich so | |
wichtig gewesen?" - Klar! "Sie waren der Treibstoff eines neuen Zeitalters, | |
gegen dessen Grundlage sich das Establishment bis heute eisern wehrt, wobei | |
diese Lehre nicht zu stoppen ist." - "Aber die Leute nehmen doch heutzutage | |
wahrscheinlich mehr Drogen als Ende der 60er." Das sei etwas anderes. | |
Heutzutage würden Drogen ja zur Flucht- und Freizeitgestaltung genommen. | |
Sie dagegen hätten Drogen aus spirituellen Gründen genommen. Oder um als | |
Künstler besser arbeiten zu können. Vielleicht auch andersrum, denke ich. | |
Vielleicht auch, weil ich grad an dem Pfeifchen gezogen hatte, das mir ein | |
netter ehemaliger Haschrebell gegeben hatte. | |
Dann gehe ich weiter zu einer Gruppe, in der Werner Pieper über Rolf Ulrich | |
Kaiser erzählt, einen berühmten Mentor der psychedelischen Musik, der in | |
den 70ern in der Schweiz obskure LSD-Platten von Ashra Temple produziert | |
hatte und seitdem verschwunden ist. Fast sei es ihm also gelungen, den | |
berühmten Mann, der sich irgendwann in "Christallis" umbenannt und | |
astrologiegläubig geworden sei, wiederzufinden. Aber nur fast. | |
Ich erinnere mich an eine endlose WDR-Fernsehdiskussion von 1971, die bei | |
einer Veranstaltung von Bettina Allamoda, Ted Gaier und Claudia Basrawi mal | |
im Rahmen einer Arbeit über die Siebzigerjahre gezeigt wurde. Kaiser war | |
dabei gewesen, und ein Musiker von Ton, Steine, Scherben hatte plötzlich | |
eine Axt herausgeholt und den Tisch, an dem sie saßen, zerhackt. Wahnsinn. | |
Dann erzählt Pieper noch lachend von einer britischen Umfrage. 27 Prozent | |
derer, die Ende der Sechzigerjahre jung gewesen waren, hätten behauptet, | |
damals Hippies gewesen zu sein. Auf Nachfrage erklärten sie aber auch, ihre | |
Biografie modifiziert zu haben, um vor ihren eigenen Kindern als cool zu | |
erscheinen. Diese Kinder waren dann Punks geworden, weil sie das | |
Hippiegelaber der Alten nicht mehr ertragen konnten. Das heißt: Die, die | |
nie echte Hippies waren, haben die echten Hippies in Misskredit gebracht. | |
Mir fallen 68er-Lehrer ein, denen Mitschüler vorgeworfen hatten, sich bei | |
ihnen einschleimen zu wollen, oder eine Kollegin, die zur Anti-68erin | |
wurde, weil der Oberkiffer Wolfgang Neuss im Elternhaus oft zu Besuch | |
gewesen war. Auch denke ich an einen Freund, der zum harten Punk geworden | |
war, weil sein Vater ständig Amon Düül und den "LSD-Marsch" von Guru Guru | |
gehört hatte. | |
Bernd Brummbär, der mit Timothy Leary, John C. Lilly und den Helden aus | |
Bernd Caillouxs "Das Geschäftsjahr 1968/69" gut befreundet war und seit | |
20Jahren in L. A. lebt, hält eine launige Rede über "die Stellung des | |
Samstagnachmittags im Universum". In den Sechzigerjahren wollte er so gerne | |
Beatnik sein, hatte sich also auch nicht so ganz zu Hause in seinem | |
Jahrzehnt gefühlt. Ein paar bunte Freaks haben angefangen, | |
Trance-beeinflusste Weltmusik zu machen. | |
Die ganzen Eindrücke sind mir doch ein bisschen zu viel. Ich entferne mich | |
von den 60ern, die immer noch aufgeregt über die Sixties sprechen. Da | |
hinten stehen drei Leute etwas unschlüssig herum. Das sind doch..., genau: | |
Günter Amendt, Günter Wallraff und Renée Zucker. Wallraff erzählt, dass er | |
sich immer eher als Außenseiter und zu den Außenseitern hingezogen gefühlt | |
hatte. In den 60ern hätte er übrigens ein Buch über Meskalin geschrieben. | |
"Echt?" - "Echt!" Günter Amendt sagt, er hätte nur mal kurz vorbeischauen | |
wollen, weil er die Arbeit von Werner Pieper schätze. Aber irgendwie sei er | |
auch genervt von seinen Generationsgenossen, die "in diesem Jahrzehnt | |
verharren, so als sei in ihrem Leben danach nichts mehr von Bedeutung | |
geschehen", und von den Drogenesoterikern, die die Rolle von LSD völlig | |
überbewerten würden. Seine eigenen Drogenerfahrungen nennt er zwar auch | |
"Bewusstseinserweiterung", hat aber keine Lust, "öffentlich darüber zu | |
räsonieren, wie ich selbst als Person diese Zeit erlebt habe. () Ich will | |
mich nicht zum Historiker meines eigenen Lebens machen." Um die | |
Sechzigerjahre richtig zu verstehen, sollte ich mir unbedingt alte | |
Jimi-Hendrix-Platten anhören. Keiner hätte die 60er "tiefer ausgelotet als | |
Hendrix". | |
Die taz-Kollegin Renée Zucker erzählt, dass sie zunächst auch einen Beitrag | |
für das Buch geschrieben hätte. Da wäre aber zu viel Wut drin gewesen, ein | |
falscher Ton, den sie beim Redigieren auch nicht mehr rausgekriegt hätte. | |
Deshalb habe sie den Text dann wieder zurückgezogen und Werner Pieper | |
geschrieben: "Weißt du, mich interessiert dieses Thema überhaupt nicht. Ich | |
habs eigentlich nur dir zuliebe getan, aber jetzt merke ich auch, dass das | |
nicht ausreicht." | |
Die Zitate sind entnommen aus: Werner Pieper (Hg.): "Alles schien möglich | |
60 Sechziger über die 60er Jahre und was aus ihnen wurde". Grüne Kraft | |
Verlag, Löhrbach 2007, 252 S., 19,68 Euro | |
28 Sep 2007 | |
## AUTOREN | |
Detlef Kuhlbrodt | |
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