# taz.de -- Iris Berben-Hörbuch: Dunkler Hauch von Heiserkeit | |
> Anna Gmeyner hat im Exil einen der eindrucksvollsten Romane der | |
> Dreißigerjahre geschrieben - heute vergessen, wie sie selbst. Iris Berben | |
> soll das ändern. | |
Bild: Jedes Wort, jedes Bild, jeder Ton klingt vertraut - der Autor ist schwer … | |
Über die Literatur des Exils sei - dachten wir - fast alles gesagt, fast | |
alles geschrieben, die wichtigsten Bücher (und manche nicht ganz so | |
wichtigen) neu aufgelegt, in Seminaren durchleuchtet, in | |
siebentausendsiebenundsiebzig Magisterarbeiten und Dissertationstexten | |
analysiert: dachten wir, dachte ich. Hätte mir jemand vor vier Wochen den | |
Namen Anna Gmeyner genannt - "e - ypsilon wohlgemerkt!" - , hätte ich | |
höchstens fragend die Stirn hochgezogen: "Anna who?". Hätte die Person | |
obendrein noch bemerkt, jene gewisse Anna Gmeyner alias Anna Reiner habe in | |
der Emigration einen der eindrucksvollsten Romane der Dreißigerjahre beim | |
legendären Querido-Verlag in Amsterdam vorgelegt, hätte ich (vielleicht) | |
höflich geschwiegen und im Stillen gedacht, in den sogenannten | |
literarischen Kreisen reiße man das Maul allzu oft allzu weit auf. Aber es | |
fügte sich, dass mir ein freundlicher Geist ein Päckchen mit einem vollen | |
Dutzend CDs ins Haus schickte, adrett verpackt, die ich zunächst in ihrer | |
hübschen Hülle liegen ließ, eingeschüchtert durch die Spieldauer von | |
achthundertdreiundsiebzig Minuten, also vierzehn Stunden und fünfundfünfzig | |
Minuten. | |
Hätte mich nicht die Stimme von Iris Berben mit dem dunkel grundierten | |
Hauch von Heiserkeit gelockt, hätte ich mich kaum entschlossen, eines | |
späten Abends denn doch die erste der zwölf Scheiben in den Schlitz des | |
Bose zu schieben. Die Worte, die mich den Kopf heben ließen, schienen aus | |
einer merkwürdig vertrauten Sprache zu stammen, die ich kannte, fast von | |
jeher, und doch lange nicht gehört hatte: "Einen Augenblick lang war die | |
Kassiopeia deutlich mit ihren fünf strahlenden Endsternen über dem | |
Kirchturm gestanden. Nun verschwand sie sehr schnell hinter den treibenden | |
Wolken. Es war plötzlich sehr dunkel. Nur vom Fluss her schimmerten das | |
Leuchtband der Brücke und die Lichter der Stadt. Aber der Wiesenhang lag | |
unkenntlich in der Finsternis, die Bäume standen schwarz und fremd, und die | |
vier Kinder, die still nahe beieinander auf der Mauer saßen, konnten die | |
Gesichter der anderen nicht mehr erkennen. Von Heinis gesenktem Kopf war | |
nur das helle Haar sichtbar. Harry sah mit seiner großen Nase und der | |
Brille darauf aus wie ein seltsamer Nachtvogel. Karl hatte die Arme | |
aufgestützt, und sein runder Kopf auf den geschlossenen Händen war wie ein | |
großer schwarzer Kreis. Franz war der Einzige, der sich bewegte. Die | |
Absätze seiner Schuhe hackten gegen die Mauer und bröckelten Steinchen ab. | |
Manja war nicht da, nur das zerfetzte Tüchlein, das sie an die kleine Birke | |
gebunden hatte, die auf der Mauer wuchs. Es war nass vom Regen von vier | |
Nächten. Und plötzlich wussten die Kinder gar nicht mehr, warum sie | |
hergekommen waren, unverabredet, mittwochs abends wie sonst, als sei an der | |
Mauer das, was sie suchten " | |
"Ende als Vorspiel", schrieb die Autorin, deren Name mir fremd war, über | |
die ersten zwei Seiten. Die unscheinbare Mauer am Fluss, an der sich die | |
Knaben trafen, ist die Mitte der Ereignisse, die das Geschick der Kinder | |
bestimmten, alle vier nicht weit vom Stimmbruch entfernt, grundverschieden | |
ihre Temperamente und Charaktere, ihre Familien, die Milieus, denen sie | |
zugehörten: Freunde dank des Mädchens Manja, das an jenem Abend nicht kam, | |
und das nie mehr kommen sollte, jenes grazile, auf eigenwillige Weise | |
schöne Geschöpf, das sie allesamt liebten, mit seiner singenden Stimme, dem | |
hellen Lachen, dem dunklen Haar, den raschen Händen, die am Klavier ein so | |
ungewöhnliches Talent bewiesen - die kleine Jüdin, vor nicht zu langer Zeit | |
mit einem Bruder und ihrer polnischen Mutter in die Stadt gekommen, deren | |
Name niemals genannt wird. | |
So hatten früher, dachte ich beim Zuhören, die Romane begonnen, die mir von | |
1945 an (nach der Klassik, nach den Poesien der Romantik, nach den | |
Geschichten der gezähmten Vormoderne, die erlaubt war) die Welten der | |
neueren deutschen Literatur erschlossen hatten, jedes Wort, jeder Satz, | |
jedes Bild, jeder Ton vertraut: die Bücher von Joseph Roth oder Franz | |
Werfel, Anna Seghers oder Arnold Zweig oder auch von Ina Seidel, die nicht | |
emigrierte, ein huldigendes Friedensgedicht für den Führer geschrieben hat | |
und dennoch eine große Autorin war (nur an ihre verzauberte | |
Novalis-Geschichte "Unser Freund Peregrin" zu denken). Das war die Sprache, | |
die ich im Roman der Anna Gmeyner wieder entdeckte. Die Geschichte der fünf | |
Kinder, von denen es am Ende nur noch vier gab, lässt sich in einem Dutzend | |
gedrängter Zeilen nicht nacherzählen: Sie braucht zwölf CDs, um die Gemüter | |
der Kinder und der Personen ihres Milieus auszuformen, an die vierhundert | |
eng bedruckte Seiten in der Ausgabe des Persona Verlages von Lisette | |
Buchholz in Mannheim von 1984, die ich durch den antiquarischen | |
Bücherdienst im Netz fand, nachdem ich zwölf Nächte lang den zwölf CDs der | |
Produktion "Hörkultur Medien AG" gelauscht hatte. | |
Und nach jeder CD fragte ich mich, ehe ich das Licht löschte, wie die | |
Schauspielerin Iris Berben, die sozusagen Tag und Nacht vor der Kamera | |
steht, an das unbekannte Buch einer unbekannten Autorin geraten sein | |
könnte, das vor mehr als zwei Jahrzehnten in einem unbekannten kleinen | |
Verlag erschienen ist (und dennoch vergessen blieb), woher sie die Zeit | |
nahm, den Roman zu lesen (im Flugzeug? In den Drehpausen, in den kurzen | |
Nächten?). Wie sies angestellt haben mag, einen Produzenten zu finden, der | |
bereit war, den Band in weiß der Himmel wie vielen Studioterminen in ein | |
Hörbuch umzuschmelzen, an dem sie vermutlich keinen roten Heller verdient. | |
(Im Gegenteil, sie wird, durch den beträchtlichen Aufwand an Arbeit, bei | |
diesem literarischen Exkurs nicht anders als bei so vielen ihrer | |
öffentlichen Lesungen, einen gehörigen Batzen verlieren). | |
Fragte mich auch, wie sie es - da sie keine gelernte Sprecherin ist - | |
zuwege gebracht hat, die Modulationen der vier Kinderstimmen und die | |
akustischen Eigentümlichkeiten von Hinterhofwohnküche, Schlossgut und | |
Großbürgervilla, von Salon, Polizeirevier und Naziwirtshaus zu vereinen, | |
ohne die eigene Stimme zu verlieren. Wie es ihr gelang, den "Sound" (wie | |
man heutzutage sagt) der späten Zwanzigerjahre, die ganz gewiss keine | |
"goldenen" waren, wieder zum Leben zu erwecken, ihre frechen Freiheiten, | |
ihre Not und ihre würgende Armut, danach die scharfe Tonalität der | |
anbrechenden Diktatur, zugleich die schönen und wilden Träume jener Knaben | |
an der Schwelle zur Männlichkeit und hernach die böse Stille des lauernden | |
und das Gebrüll des schließlich zuschlagenden Terrors (ohne jede | |
Unterstützung durch Musik der Epoche und ohne Leihgaben aus dem | |
Geräuscharchiv). Wie sie die Persönlichkeiten des grundhonorigen Arztes, | |
des nicht ganz arischen und so anpassungswilligen Kapitalisten, des | |
Nazischergen, des HJ-Rabauken, des gejagten Kommunisten, der vergrämten | |
Frauen auszuformen vermochte, und wie sie dennoch immer wieder mit der | |
Stimme der kleinen Manja gleichsam zu sich selber zurückkam, zur hellen | |
Mädchenhaftigkeit des jungen Geschöpfes, zu den leisen Melancholien der | |
Entdeckung ihrer Weiblichkeit und den Sehnsüchten, die sie zu wecken | |
verstand, auch des gefährlichen Begehrens durch den Hitlerjugendrabauken, | |
der sie das Grauen lehrte, zugleich die Wahrnehmung der wachsenden | |
Isolation, der lauernden Feindseligkeit, der immer unverschämteren | |
Diskriminierung, des Terrors, an dem sie schließlich zugrunde ging. | |
Dieser Roman ist - wenngleich von draußen beobachtet - ein beklemmend | |
genaues Protokoll des rassistisch-totalitären Wahns, der die Gesellschaft | |
immer gnadenloser in den Griff nahm, der kriechenden Anpassung, der Angst | |
und der Arroganz, mit einem Wort: des deprimierenden Verfalls der deutschen | |
Zivilisation, wie ihn Victor Klemperer in seinen Tagebüchern beschrieb. Die | |
Prosa Anna Gmeyners zeugt von ihrem guten Ohr für den Dialog, das sie als | |
Bühnenautorin geübt hat. Sie beweist durch die exakte Sicht aufs Detail, | |
dass die Schreiberin in Deutschland, danach in Österreich, in Frankreich, | |
in England das Handwerk des Filmes gelernt hat. Doch diese schönen Elemente | |
wären verloren, würden sie nicht von einem erzählerischen Talent, von einem | |
erstaunlichen Formbewusstsein und von einer poetisch-musikalischen Sprache | |
integriert, die neben der von Joseph Roth oder von Anna Seghers weiß Gott | |
bestehen kann. | |
Ohne das passionierte Engagement von Iris Berben für die deutsch-jüdische | |
Dichtung wäre uns die Entdeckung dieses großen Romans verwehrt geblieben, | |
den wir mit dem unsterblichen Superlativ von Frank Schirrmacher getrost als | |
"einen der ungehobensten Schätze" der deutschen Literatur bezeichnen | |
dürfen. Die Buchausgabe von 1984 ging sozusagen geräuschlos unter. Die | |
deutsche Urfassung des zweiten Romans der Gmeyner, "Café du Dôme", scheint | |
verloren zu sein. Die englische Ausgabe erschien im vergangenen Jahr, de | |
facto unter Ausschluss der Öffentlichkeit, in der Peter-Lang-Verlagsgruppe | |
zu einem Preis, den selbst die passionierten Liebhaber als zu gesalzen | |
betrachten dürften. | |
Heike Klapdor-Kops entwarf in ihrem Vorwort zu "Manja" einen Umriss der | |
Biografie dieser ungewöhnlichen Schriftstellerin. Nach den Andeutungen | |
jener Skizze läge es nahe, die dramatischen Werke der Autorin wieder ans | |
Licht zu holen. Auch sollte man sich die Bücher anschauen, die sie - in | |
englischer Sprache - in ihrer Wahlheimat unter dem Namen Anna Morduch | |
geschrieben hat. Bei der Bestellung via Internet ist freilich Vorsicht | |
geboten. Der Verfasser dieser Zeilen ließ sich, die Vokale verwechselnd, | |
einige kleine Romane der Autorin Anna Murdoch kommen. Es handelte sich, wie | |
eine rasche Prüfung ergab, leider um die schriftstellerischen Bemühungen | |
der ersten Frau des australisch-englisch-amerikanischen Medien-Moguls | |
Rupert Murdoch. Macht man sich der Sippenhaftung schuldig, wenn man sagt, | |
dass die Bändchen auch danach sind? | |
Anna Gemyner: "Manja. Ein Roman um fünf Kinder". persona verlag, Mannheim | |
1984, 416 Seiten, 22 Euro; Anna Gmeyner: "Manja". Gelesen von Iris Berben. | |
Regie: Walter Adler. Kassette mit zwölf CDs, Produktion Hörkultur Medien, | |
Berlin 2007, 64,90 Euro | |
6 Nov 2007 | |
## AUTOREN | |
Klaus Harpprecht | |
## TAGS | |
Geschlechter | |
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