# taz.de -- Schriften zu Zeitschriften: Der Turm der Lagerzone | |
> Die Revolution, die Gewalt und die Literatur des Lagers. Die | |
> Publikationen "Aus Politik und Zeitgeschichte" und "Osteuropa" | |
> beschäftigen sich mit dem Gulag. | |
Marx meinte, Revolutionen seien die Lokomotiven der Weltgeschichte. Die | |
allerdings können katastrophal entgleisen, wenn etwa die Lokführer Kurs auf | |
den Prellbock nehmen, weil sie glauben, jedes Hindernis überwinden zu | |
können. Die Oktoberrevolution ist das Paradebeispiel. Wie herrlich könnte | |
es heute um eine linksemanzipatorische Realität in der Welt bestellt sein, | |
wenn Lenin und Trotzki nicht 1917 mit Karacho ins Abseits gefahren wären. | |
Den Prellbock habe damals noch keiner sehen können? Man schlage nach bei | |
Bakunin, Plechanow und Luxemburg, bei den Menschewiki und | |
Sozialrevolutionären. | |
Jörg Baberowski, Osteuropa-Historiker an der Berliner Humboldt-Universität, | |
sieht in der aktuellen Ausgabe von Aus Politik und Zeitgeschichte die | |
eigentliche Ursache für den überraschenden Erfolg der Bolschewiki in der | |
Erfahrung des Weltkriegs. Ordnungen und Hemmungen lösten sich in dieser | |
Gewaltorgie auf; die schwache Provisorische Regierung konnte nach der | |
Februarrevolution diesem Strudel nichts entgegensetzen. "In der Atmosphäre | |
des Hasses traten die Bolschewiki als Advokaten hemmungsloser Gewalt auf: | |
Der Machokult des Tötens und Mordens, die Primitivität und Bösartigkeit des | |
Vokabulars und nicht zuletzt die Kleidung wiesen sie als Männer der Tat | |
aus." Es gelang ihnen, "die Zustimmung verbitterter und enttäuschter | |
Menschen zu mobilisieren". | |
1918 befahl Lenin angesichts eines Bauernaufstandes: "Mindestens einhundert | |
bekannte Kulaken, Reiche, Blutsauger sind zu erhängen (öffentlich, damit | |
die Leute es sehen)." Die Gewalterfahrung von Weltkrieg, Revolution und | |
Bürgerkrieg formte entscheidend den stalinistischen Habitus in den | |
Dreißigerjahren, worauf der Historiker Norman Naimark noch einmal hinweist. | |
Mentale Dispositionen ermöglichten erst den Massenterror. | |
Die Zeitschrift Osteuropa hat eine voluminöse, ebenso großartige wie | |
erschütternde Ausgabe dem Schriftsteller Varlam Schalamov (1907-1982) | |
gewidmet. Achtzehn Jahre lang war er als Gefangener im Gulag - einer von | |
insgesamt 18 Millionen in den Jahren 1929 bis 1953. Zu Lebzeiten erschienen | |
von Schalamov in der Sowjetunion fünf Bände Naturlyrik - sein Hauptwerk, | |
die "Erzählungen aus Kolyma", kursierte nur im Samisdat und erschien in | |
diversen Buchausgaben im Westen. Zu seinem 100. Geburtstag startete der | |
Berliner Kleinverlag Matthes & Seitz jüngst eine verdienstvolle | |
Werkausgabe. Im Osteuropa-Heft vergleichen Michail Ryklin und Klaus Städtke | |
die einander achtenden Konkurrenten Solschenizyn und Schalamov: Im | |
Unterschied zum Verfasser des "Archipel Gulag" hatte Schalamov immer die | |
völlige Entmenschlichung im Lager betont und daher jede ästhetische Form | |
als Verklärung abgelehnt - nur der karge Bericht sei als Zeugnis des | |
Schreckens legitim. | |
"Der Turm der Lagerzone - das war die zentrale Idee der Zeit", schreibt | |
Schalamanow. Dass diese Idee bei der nächsten Revolution 1989 untergegangen | |
und auf dem "Kehrichthaufen der Geschichte" (Trotzki) gelandet ist, sollte | |
jeden Linken mit Freude erfüllen. Heben wir darauf unser Glas. | |
7 Nov 2007 | |
## AUTOREN | |
Alexander Cammann | |
## TAGS | |
Bremen | |
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