| # taz.de -- Schriftstellerin Gioconda Belli: "Die Massen mussten den Preis beza… | |
| > Das dauerhafteste Erbe der Revolution in Nicaragua ist die | |
| > Frauenbewegung, sagt Gioconda Belli. Die Schriftstellerin über Literatur | |
| > und die lateinamerikanische Linke. | |
| Bild: "Poesie ist in Nicaragua nicht elitär", sagt Belli über ihr Heimatland. | |
| taz: Die sandinistische Revolution in Nicaragua war berühmt für die | |
| Beteiligung etlicher Dichter und Schriftsteller - Sergio Ramírez, Ernesto | |
| Cardenal, Sie selbst und andere. Heute, in der zweiten Regierung von Daniel | |
| Ortega, gibt es das nicht mehr. Wollen die Dichter nicht mehr in die | |
| Politik? | |
| Gioconda Belli: Es hat sich eigentlich nicht viel verändert. Literatur und | |
| Politik sind für mich ein und dasselbe, denn wie ich als politisches und | |
| soziales Wesen lebe und denke, formt doch auch das, was ich schreibe. | |
| Natürlich haben wir eine Phase der Reflexion und Analyse hinter uns, den | |
| Versuch, uns selbst zu finden zwischen unserem Wesen als Schriftsteller und | |
| als politische Menschen. Aber am Schluss haben wir uns trotzdem in der | |
| Politik wiedergefunden, allerdings in einer Position der Kritik an Daniel | |
| Ortega - den wir auch gar nicht als Vertreter des Sandinismus an sich | |
| ansehen können. Wir nennen das Danielismus - er hat sich des | |
| sandinistischen Erbes bemächtigt und alles auf seine Person ausgerichtet, | |
| Personenkult eingeschlossen. Das gibt es auch keine klare Ideologie oder | |
| Programmatik. | |
| Die gab es aber im Sandinismus nie, oder? | |
| Stimmt, aber Daniel benutzt zum Beispiel als echter Populist viele Elemente | |
| der Sprache eines Linksradikalen aus der Vergangenheit, als wir uns im | |
| Besitz der absoluten Wahrheit glaubten und ihr gegenüber Gehorsam | |
| verlangten. Die Linke hat sich modernisiert, eigentlich sind wir noch | |
| dabei, herauszufinden, was die Linke heute ist. Daniel hingegen meint genau | |
| zu wissen, was zu tun ist. | |
| Nicaragua war und ist ein Land großer sozialer Widersprüche, und | |
| anspruchsvolle Kulturarbeit in den Städten stand schon zu Revolutionszeiten | |
| in einem krassen Widerspruch zur übergroßen Armut im ländlichen Gebiet. Ist | |
| die Kultur eine Sache der Eliten? | |
| Aus irgendeinem Grund gibt es in Nicaragua eine große Liebe zur Poesie, die | |
| alle sozialen Grenzen überwindet. Wir haben mit dem nicaraguanischen | |
| Literatur- und Poesiefestival, das jetzt in seine vierte Runde geht, eine | |
| unglaubliche Erfahrung gemacht: Wir machen Gratislesungen unter freiem | |
| Himmel - und es kommen zu jeder Lesung hunderte von Leuten. Es ist wirklich | |
| beeindruckend. Und es sind Menschen aus einfachen Verhältnissen, die da | |
| hinkommen. Außerdem gehen wir auch zu den Menschen hin, gehen in die | |
| Dörfer, auf die Märkte. Die Revolution hatte damit angefangen. Ich erinnere | |
| mich, wie ich einmal auf einem Markt gesprochen habe und den | |
| Wirtschaftsplan der Regierung erklären sollte. Eine alte Frau kam zu mir | |
| und sagte: "Hör mal, Liebes, ich weiß schon, dass wir die Produktion | |
| steigern und die Revolution verteidigen sollen. Aber was ich dir sagen | |
| wollte: Ich mag deine Gedichte." Die Poesie ist in Nicaragua nicht elitär. | |
| Was ist aus Ihrer Sicht das dauerhafteste positive Erbe der Revolution? | |
| Die organisierte Frauenbewegung. Dabei ist interessant, dass die eigentlich | |
| gar nicht wirklich während der Revolution begann, denn wir wurden ja | |
| ständig genötigt, unsere Forderungen auf später zu verschieben - auf | |
| irgendwann nach dem Krieg. Aber dennoch beteiligten sich die Frauen am | |
| gesellschaftlichen Leben wie noch nie zuvor in Nicaragua. Das hat später | |
| Früchte getragen. Als mit dem Ende der Revolutionsregierung und des Krieges | |
| der Zwang zur Parteidisziplin wegfiel, haben wir uns 1990 auf einer | |
| Versammlung neu organisiert - nicht in einer einzigen zentralen | |
| Organisation, sondern in vielen kleinen Gruppen, die lediglich über eine | |
| nationale Koordination verfügen. Die Frauen sind heute die bewusstesten und | |
| reflektiertesten Leute, die am meisten gelernt haben. | |
| Vor 20 Jahren war in Europa, aber auch fast überall auf der Welt, allein | |
| die Erwähnung des Namens "Nicaragua" ein Codewort, das mobilisierte und | |
| polarisierte; ein Traum, eine Vision. Gibt es heute etwas Vergleichbares? | |
| Für mich nicht. Sicher sind die verschiedenen Linken in Lateinamerika | |
| wieder auf der Suche nach Visionen, Lösungen, Antworten, nach der | |
| Wiedererfindung der Linken. Einige machen das besser als andere. Welche | |
| Antworten da gefunden werden, ist für die Welt schon interessant, denn es | |
| geht ja um soziale Gerechtigkeit, gleichzeitig um partizipative Demokratie | |
| und Selbstbestimmung. Die Positionen von Venezuelas Präsident Hugo Chávez | |
| oder Daniel Ortega finde ich dabei eher beunruhigend, denn sie reden von | |
| einem neuen Sozialismus, zeigen dabei aber alle Probleme des alten | |
| Sozialismus: Autoritarismus, Einheitspartei, von oben gelenkte Demokratie. | |
| Die Linke hat sich in Chávez verliebt, weil doch vielen sein fast karikiert | |
| einfacher Diskurs gefällt, weil sie meinen, dass irgendjemand Bush einmal | |
| zeigen muss, wo der Hammer hängt. Aber ich denke, eigentlich wird sich die | |
| lateinamerikanische Linke in Richtung der europäischen Sozialdemokratie | |
| entwickeln müssen, ohne jeden Romantizismus. | |
| Damit kann man aber keine Massen mobilisieren. | |
| Stimmt, aber die Massen waren es doch immer, die am Schluss den Preis für | |
| die radikalen Vorstellungen ihrer Führer bezahlen mussten. Das muss sich | |
| doch einmal ändern. | |
| Während des Krieges in Nicaragua gab es keinen Raum mehr für Nuancen - der | |
| Diskurs verlief nur noch zwischen Freund und Feind, dazwischen nichts. Wann | |
| haben Sie persönlich gemerkt, dass da etwas schief läuft? | |
| Naja, ich persönlich hatte durch meine Arbeit viel Kontakt zu | |
| US-amerikanischen Journalisten - ich hab mich ja auch in einen verliebt, er | |
| ist heute mein Mann. Das hat mir sehr geholfen zu verstehen, wie schlecht | |
| wir die Signale aus Washington immer gelesen haben. Die USA sind ein so | |
| komplexes Gebilde mit vielen Nuancen. Das nicht zu sehen, sondern immer nur | |
| ein homogenes Imperium aus CIA und Krieg, war ein Riesenfehler. Daniel hat | |
| stets behauptet, es gebe keinen Unterschied zwischen Demokraten und | |
| Republikanern, das war absurd. | |
| Der Schriftsteller Sergio Ramírez hat einmal gesagt, dass Revolutionen | |
| immer nur die Jungen machen können, die nicht allzu viel nachdenken und | |
| keine Angst und Zweifel haben. Nun analysieren wir heute, älter geworden, | |
| wo Fehler gemacht wurden. Was kann man aus der nicaraguanischen Erfahrung | |
| denn nun wirklich lernen? | |
| Bei der nicaraguanischen Revolution musste man nicht lang darüber | |
| nachdenken, auf welcher Seite man stehen sollte - wir hatten vorher einen | |
| Diktator. Aber so eine revolutionäre Alles-oder-nichts-Position passt nicht | |
| zu den politischen Bedingungen in Lateinamerika heute. Auch heute geht es | |
| um tiefgreifende strukturelle Veränderungen - aber man muss dazu vor allem | |
| über Wissen und Bewusstsein verfügen und lernen. Ich selbst habe in | |
| Studienzirkeln innerhalb der Frente Sandinista gelernt. Das gibt es heute | |
| nicht mehr - außer in den Frauenbewegungen Lateinamerikas. Ich bin | |
| Gramscianerin. Ich glaube, dass man die Köpfe erreichen, das Denken | |
| verändern muss. Die Menschen müssen überlegen, wie sie leben möchten, und | |
| danach handeln. Die jugendlichen Enthusiasmen machen mir eher Angst: Es | |
| sind schöne Momente, sehr romantisch, aber am Schluss ist der Preis sehr | |
| hoch. Wir müssen verantwortungsbewusster sein. | |
| INTERVIEW: BERND PICKERT | |
| 7 Nov 2007 | |
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