# taz.de -- Nicaragua ein Jahr nach der Wahl: Der zweite Frühling der Sandinis… | |
> Als die Sandinisten die Wahl gewannen, ging Carmen Vanzetti als Ärztin in | |
> den Norden. Hier erfüllt sie das Wahlversprechen von Präsident Ortega: | |
> das Ende der Armut. | |
Bild: Wählern wie Azucena Ramos (l.) und ihrem Mann Roger Morales hat Ortega e… | |
YALAGÜINA taz Schwere Lastzüge donnern gen Norden. Sie brausen vorbei an | |
Yalagüina, dem Dorf in Nicaragua, Richtung Honduras. Von der Straße aus | |
sind die geduckten Lehmhütten vor der üppigen tropischen Landschaft kaum zu | |
erkennen. Keine Tankstelle, keine Garküche für Fernfahrer, nicht mal ein | |
Ortsschild gibt es hier. Aber ein meterhohes Werbeplakat. Es zeigt Daniel | |
Ortega, seit einem Jahr wieder Regierungschef in Nicaragua. Auf dem Bild | |
trägt der 61-Jährige eine zerknitterte Bundfaltenhose, die Ärmel des weißen | |
kragenlosen Hemds hat er hochgekrempelt. Die linke Faust reckt er in den | |
rosaroten Himmel, mitten hinein in die Buchstaben der ersten Zeile der | |
Internationale: "Arriba los pobres del mundo!" - Wacht auf, Verdammte | |
dieser Erde! | |
In der spanischen Version der Hymne der Arbeiterklasse werden die | |
Verdammten eigentlich mit parias übersetzt; der in Lateinamerika gesungene | |
Text dagegen spricht von pobres, Armen. Zu Recht. Die Armen in Yalagüina | |
sind verdammt arm, und es gibt hier genug von ihnen. 5.000 Einwohner hat | |
das Dorf, hinzu kommen noch einmal so viele, verteilt auf winzige Käffer, | |
die nur mit Geländewagen zu erreichen sind. Oder mit dem Pferd, in dieser | |
Gegend ohnehin das gängigere Transportmittel. Über die Hälfte der Leute | |
hier leben von weniger als zwei Dollar am Tag - Yalagüina liegt in der | |
Hungerzone Nicaraguas. | |
"Elf Prozent der Kinder unter fünf Jahren sind chronisch unterernährt", | |
sagt Carmen Vanzetti. Sie leiden an Durchfällen "wegen der zum Teil | |
furchtbaren hygienischen Zustände". Sie haben Atemwegserkrankungen "wegen | |
des vielen Staubs in der Trockenzeit und weil die Menschen in ihren Hütten | |
auf Holzfeuern kochen". Unerklärlich viele Ältere haben Knochenschwund, | |
Carmen Vanzetti weiß noch nicht, woran das liegt, "aber ich werde es | |
herausfinden". | |
Die 26-Jährige Ärztin ist freiwillig hierher nach Yalagüina gekommen. Zuvor | |
hat sie in Kuba studiert und danach als Amtsärztin in der Hauptstadt | |
Managua gearbeitet, ein ruhiger sicherer Job. Als aber vor einem Jahr | |
Ortega zum neuen Präsidenten gewählt wurde, reichte ihr das nicht mehr. Sie | |
meldete sich freiwillig zum Dienst im Norden. Denn Carmen Vanzetti ist | |
Sandinistin. | |
Ihr Vater, der deutsche Neurochirurg Ernst Fuchs, hat schon vor fast drei | |
Jahrzehnten hier in der Gegend gearbeitet. Er war 1978 von Berlin nach | |
Nicaragua gegangen, hatte sich der sandinistischen Guerilla angeschlossen | |
und den Decknamen Carlos Vanzetti angenommen. Als die Sandinisten im Juli | |
1979 die Diktatur des Somoza-Clans gestürzt hatten, blieb er da, ging in | |
den Norden und baute dort das staatliche Gesundheitswesen für die Armen | |
auf. Was er geschaffen hat, war schon wieder ziemlich heruntergekommen, als | |
die Sandinisten 1990 abgewählt wurden. Die folgenden 16 Jahre unter | |
neoliberalen Regierungen haben die letzten Reste an staatlicher | |
Wohlfahrtspolitik beseitigt. | |
Der alte Vanzetti ist vor vier Jahren gestorben. Vor seinem Tod hätte er es | |
wohl kaum für möglich gehalten, dass seine Tochter noch einmal dasselbe tun | |
würde wie er. Niemand rechnete damit, dass Daniel Ortega, einst die | |
Lichtgestalt der Linken und später zum bloßen Machtpolitiker verkommen, | |
noch einmal Regierungschef werden würde. Als Vanzetti starb, kungelte sein | |
früherer Held mit der Rechten. Er sprach mehr von Gott als von Revolution, | |
weil er glaubte, damit im tiefgläubigen Nicaragua Wähler zurückgewinnen zu | |
können. Compañeros, die es wagten, ihn zu kritisieren, wurden einfach aus | |
der sandinistischen Partei ausgeschlossen. Kurz vor der Wahl im vergangenen | |
November schloss Ortega gar einen Pakt mit Miguel Obando y Bravo, dem | |
reaktionären Erzbischof von Managua: Seine Parlamentsfraktion unterstützte | |
eine Gesetzesänderung, nach der Schwangerschaftsabbrüche selbst nach | |
Vergewaltigungen und bei Lebensgefahr für die Mutter verboten sind. Noch | |
Jahrzehnte zuvor hatten die Sandinisten das Abtreibungsrecht liberalisiert. | |
Hätte man so einem eine Linkswende zugetraut? Außenpolitisch vielleicht. | |
Der Präsident eines kleinen und wirtschaftlich unbedeutenden Landes wird | |
international nur wahrgenommen, wenn er provoziert. Also reihte sich Ortega | |
nach der Wahl in den revolutionären lateinamerikanischen Männerbund aus | |
Fidel Castro, Hugo Chávez und Evo Morales ein. Er reiste in den Iran, | |
verteidigte vor der UNO-Vollversammlung dessen Recht auf ein eigenes | |
Atomprogramm und schloss "unverbrüchliche Freundschaft mit dem Brudervolk | |
von Nordkorea". Der Regierung in Washington bot er an, einst von der | |
Sowjetunion gelieferte Boden-Luft-Raketen zu verschrotten, wenn Präsident | |
George W. Bush ihm den Gegenwert in Medikamenten schickt. | |
Ortega wusste natürlich, dass George W. Bush keine Medikamente schicken | |
würde. Stattdessen schickt er sie selbst. "Jeden Monat kommt jetzt ein | |
Laster und bringt, was wir brauchen", sagt Carmen Vanzetti. In der | |
Dorfapotheke von Yalagüina stapeln sich die Schachteln mit Tabletten, | |
Hustensäften und Spritzen. Im Nebenhaus ist provisorisch der | |
Gesundheitsposten eingerichtet: ein Behandlungszimmer, ein kleiner OP-Saal | |
und Räume für das Personal. Vier Ärzte und neun Krankenschwestern arbeiten | |
inzwischen hier, die neue Regierung hat das Personal verdoppelt. "Früher", | |
sagt Vanzetti, "war der Gesundheitsposten von acht bis zwei geöffnet, jetzt | |
ist er rund um die Uhr besetzt." Früher war auch die Apotheke ein | |
Privatunternehmen. "Die Ärzte", erzählt sie, "haben Rezepte ausgestellt, | |
aber die Patienten hatten kein Geld, die Arznei zu kaufen. Sie haben ja | |
nicht einmal genug zu essen." So blieben sie zu Hause und versuchten sich | |
selbst zu helfen. | |
An ein Wartezimmer hat man deshalb beim Bau erst gar nicht gedacht, die | |
Patienten warten draußen, auf der überdachten Veranda. Männer mit | |
breitkrempigen Strohhüten lehnen schweigend an den Säulen, Frauen beruhigen | |
ihre rotzenden Kinder. Die Zahl der Behandelten hat sich innerhalb eines | |
Jahres mehr als verdreifacht. Früher kamen dreihundert im Monat, heute sind | |
es über tausend. "Wir fahren auch raus zu den Leuten", sagt Vanzetti, "die | |
neue Regierung will, dass wir auf die Menschen zugehen, dass wir ihnen die | |
Hand geben, dass wir mit ihnen reden." Sie ist Mitglied der sandinistischen | |
Jugend und des sandinistischen Ärzteverbands. Und sie ist - als jüngste - | |
die Chefin des Gesundheitspostens. | |
Morgens war sie schon mit vier Kollegen in einer abgelegenen Siedlung. Sie | |
sind mit dem Krankenwagen hingefahren und haben 62 Hunde gegen Tollwut | |
geimpft. Die Kollegen hätten ein bisschen gemault, erzählt Vanzetti, das | |
sei doch keine Arbeit für einen Arzt. Aber sie habe ihnen klargemacht, dass | |
auch Hundeimpfen zur Präventivmedizin gehöre. | |
Zwei Gassen weiter wird gerade das neue, größere Gesundheitszentrum gebaut. | |
Eigentlich sollte schon es längst fertig sein, einer von Ortegas | |
Vorgängern, der rechte Präsident Arnoldo Alemán, hatte unter großem Getöse | |
einst den Grundstein gelegt. Selbst der war irgendwann geklaut worden. Erst | |
jetzt wurde wieder mit dem Bau begonnen. Die Geburtsklinik soll noch in | |
diesem Jahr fertig werden, der Rest dauert noch. | |
Bautrupps sind auch an der Dorfschule beschäftigt. Das Lehrpersonal wurde | |
verdoppelt. Neuerdings wird kein Schulgeld mehr verlangt, Schuluniformen | |
sind nicht mehr Pflicht. So können auch Familien, die sich die | |
Einheitskleidung nicht leisten können, ihre Kinder zum Unterricht schicken. | |
Abends finden Alphabetisierungskurse für Erwachsene statt. Den Bauern in | |
der Umgebung, die meist nur von Mais und Bohnen leben und allenfalls ein | |
paar Hühner besitzen, hat die Regierung trächtige Kühe und Schweine | |
geschenkt. Das Programm "Null Hunger" ist im Norden angelaufen, weil es | |
hier am meisten Hunger gibt. | |
Dahinter steckt auch politisches Kalkül: Hier wütete während der ersten | |
sandinistischen Regierungszeit der Krieg der Contras. Die von Washington | |
finanzierten Konterrevolutionäre beherrschten das Hinterland nahe der | |
Grenze zu Honduras. Viele Bauern hielten zu den bewaffneten Banden. "Wir | |
müssen die Leute hier für uns gewinnen", sagt Carmen Vanzetti. "Ich sage | |
ihnen, dass sie das alles Daniel Ortega zu verdanken haben - dass er das | |
Gesundheitszentrum bauen lässt und ihnen die Kühe und Schweine schickt." | |
Auf der Werbetafel draußen an der Straße steht über der Liedzeile aus der | |
Internationale "El Pueblo, Presidente!". Damit will die Regierung wohl | |
sagen, dass jetzt das ganze Volk Präsident ist. Oder meint Ortega eher: | |
"Das Volk bin ich, der Präsident"? Egal. Er hat jedenfalls dafür gesorgt, | |
dass in Yalagüina etwas getan wird, das 16 Jahre lang versäumt wurde. | |
7 Nov 2007 | |
## AUTOREN | |
Toni Keppeler | |
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