# taz.de -- Gespräch über den Mythos Hannah Arendt: "Dass man miteinander str… | |
> Warum wird Hannah Arendt oft stärker verehrt als ihr Werk? Wie hätte sie | |
> den Nahostkonflikt eingeschätzt? Wie umriss sie politische Freiheit? Ein | |
> Gespräch mit Antonia Grunenberg und Christina Thürmer-Rohr | |
Bild: Hannah Arendt. | |
taz.mag: Frau Thürmer-Rohr, Frau Grunenberg, können Sie uns erklären, | |
weshalb sich so viele Menschen mehr für die Person Hannah Arendt als für | |
deren Werk interessieren? | |
Christina Thürmer-Rohr: Weil sie sich als Identifikationsfigur eignet, | |
jedenfalls auf den ersten Blick. Kürzlich schrieb Russell Jacoby, ein | |
linker Intellektueller aus Los Angeles, Arendt decke alles ab, sie sei | |
einfach alles - metaphysisch und irdisch, profund und sexy. Aber ihr Stern | |
leuchte nur deshalb so hell, weil das intellektuelle Firmament so trübe | |
sei. | |
Antonia Grunenberg: Gott sei Dank ist Herr Jacoby nicht der einzige Stern | |
am intellektuellen Firmament. | |
Hat das Interesse an Arendts Person mit ihrem Mut zu tun, sich in der | |
politischen Analyse quer zu allen Fronten zu stellen? | |
Grunenberg: Es gibt viele Gründe für die Faszination, die von ihr ausgeht. | |
Sie ist aus Deutschland vertrieben worden und hat sich mit dem Augenblick | |
des Ausgestoßenseins sofort als Kämpferin artikuliert - und nicht als | |
Opfer. Und sie hat sich im Exil der Alternative verweigert, der alle | |
Exilanten gegenüberstanden: Bewahrung der alten Identität und damit | |
Vereinsamung, oder Anpassung, in der Hoffnung auf eine Integration in das | |
Gastland und damit ein Vergessen der eigenen Herkunftskultur. Arendt wählte | |
einen dritten Weg: Das Beharren auf dem Anderssein in der Teilhabe an der | |
neuen Kultur und Sprache in den USA. | |
Was hat Sie dazu gebracht, Hannah Arendt zu einem Ihrer Lebensthemen zu | |
machen? | |
Grunenberg: Meine Themen sind ja die der politischen Freiheit und des | |
politischen Handelns. Arendt war für mich eine Öffnung sondergleichen, für | |
die ich außerordentlich dankbar bin. Ich sehe mich aber nicht als jemanden, | |
die nun zeit ihres Lebens Hannah Arendt interpretieren wird. Jene, die sie | |
lesen, sind aufgefordert, selbst weiterzudenken. Ich muss allerdings auch | |
sagen, dass es für ungebildete Geister sehr, sehr schwer ist, ihren ganzen | |
Kontext - den historischen, literarischen, den philosophischen - auch nur | |
zu erahnen. Es hat eine Weile gebraucht, bis ich sie anders lesen konnte | |
als: Hauptaussagen notieren! Und dann fragen: Whats her point? Man muss | |
ihre Texte auf sich zukommen lassen. Und manchmal auch stehen lassen, als | |
nicht so leicht entschlüsselbar. | |
Den Text auf sich zukommen lassen - das kann doch eine Freude sein, oder? | |
Grunenberg: Ich würde fast sagen, das ist ein Genuss - wenn das nicht das | |
falsche Wort wäre. | |
Thürmer-Rohr: Eine Freude, ja. Ich habe Arendt erst Anfang der | |
Neunzigerjahre entdeckt. Und das war wie eine Erlösung - ein politisches | |
Denken, das zugleich dialogisches Denken ist, in dem es um die | |
Verständigung der Verschiedenen geht, um das gemeinsame Dritte, die Welt, | |
die erst real wird, wenn man verschiedene Perspektiven aufnimmt und sich so | |
etwas wie eine innere Bevölkerung bilden kann. Und schließlich die Analyse | |
des Denkens selbst, das innere Zwiegespräch, in dem man einem inneren | |
Gegenüber Rede und Antwort stehen muss. Daraus ergibt sich kein Rezept, | |
sondern eine Aufforderung zum Selberdenken. | |
Hat Arendt Ihre feministische Kritik beeinflusst? | |
Thürmer-Rohr: Ja sicher. Im Sinne eines neuen Verständnisses von Pluralität | |
und Dialog, weg von der Identitätspolitik, von den kollektiven Singularen: | |
die Deutschen, die Türken, der Mann, die Frau und so weiter. Das fiel in | |
eine Zeit, in der sich eine gewisse Ermüdung, eine Unzufriedenheit mit | |
feministischen Rigiditäten und Denkverboten breit gemacht hatte. | |
Hat Arendt den Feminismus ernst genommen als politische Bewegung? | |
Thürmer-Rohr: Er hat sie nicht interessiert. Für Arendt war Geschlecht eine | |
vorpolitische Tatsache, das heißt: gegeben und nicht gemacht. Viele | |
Feministinnen haben deswegen Schwierigkeiten mit Arendt. Sie sei elitär, | |
ihr Freiheitsverständnis setze voraus, dass Menschen schon befreit sein | |
müssen, bevor sie politische Freiheit schaffen können, das Anfangenkönnen | |
in einer verseuchten Welt sei illusionär, sie idealisiere die griechische | |
Polis, sie ignoriere den Ausschluss der Frauen, ihr Frauenbild sei | |
konventionell. Ich halte das aber nicht für das Wesentliche. | |
Hannah Arendt war lange Zeit auch eine ganz konventionelle heimliche | |
Geliebte - ihres ehemaligen Lehrers Martin Heidegger. Sie haben ein Buch | |
darüber geschrieben, Frau Grunenberg. Was hat Sie an deren Liebesgeschichte | |
fasziniert? | |
Grunenberg: Dass sie so unmöglich war. Und dass es ein ganz schlechtes Buch | |
gibt, von Elzbietta Ettinger, die mit der Haltung daran ging: How could | |
she? Wie konnte Arendt als Jüdin sich mit einem Nazi einlassen? Ettinger | |
hat Arendt einfach Hörigkeit und Dummheit unterstellt und Heidegger | |
männliches Dominanzstreben - à la der potente Professor und die kleine | |
Studentin. Ich habe seine Briefe nicht als Ergüsse eines autoritären, sich | |
ungewollt lächerlich machenden Hosenmatzes gelesen. Ich war neugierig. | |
Haben Sie für sich etwas Neues entdeckt beim Schreiben dieser | |
Liebesgeschichte? | |
Grunenberg: Dass die beiden ständig - auf je völlig andere Weise - das | |
Prinzip der Differenz thematisiert haben. Dieses Wechselspiel von Treue und | |
Verrat, von Zustimmung und Ablehnung ist immer präsent. Das Thema der Treue | |
erscheint nach 1945 als ihre Frage an Heidegger, ob er sich und der Aufgabe | |
des Denkens treu geblieben ist oder ob er sich so nachhaltig an die | |
Nationalsozialisten verkauft hat, dass er damit auch die Sache des Denkens | |
endgültig verraten hätte. | |
Aber Verrat bleibt doch Verrat. Er lässt sich nicht rückgängig machen. | |
Grunenberg: Nein. Arendt hatte zeit ihres Lebens tief gespaltene Gefühle | |
Heidegger gegenüber. Sie hat ihn in Grund und Boden kritisiert in Briefen | |
an andere Freunde, sie misstraute ihm, und natürlich war Heideggers | |
Einlassung mit den Nationalsozialisten für sie auch Verrat an ihrer beider | |
Liebe. Ihr Misstrauen hat sie nie verloren. Und trotzdem diese Treue, in | |
der sie daran festhielt, dass es Heidegger war, der sie das Denken gelehrt | |
hat. | |
Thürmer-Rohr: Das hat fast etwas Metaphysisches. Eine Verbindung, die nicht | |
auflösbar ist. | |
Grunenberg: Es ging Arendt und Heidegger immer um den Bezug auf das | |
gemeinsame Dritte. Die Leidenschaft zu denken. Das Denken, dem sie sich | |
verpflichtet fühlten, nahm keine Kategorie, keinen Begriff und kein | |
Konzept, keine Tradition als selbstverständlich und unverletzt. Die | |
Erfahrung des Traditionsbruchs in der Moderne, der ihrer Auffassung nach | |
darin bestand, dass das Denken den Bezug zum Sein - bei Heidegger - und zur | |
Welt und damit zum Handeln - bei Arendt - verloren hatte, hat eben auch die | |
Kategorien des Denkens zerstört. Und diese Erfahrung wollten sie denkend | |
verarbeiten, einen Neuanfang setzen. | |
Mit einem Freund, der zum Feind geworden war? | |
Grunenberg: Freundschaft mit Heidegger im Angesicht dessen, was im | |
Holocaust passiert ist - das schlägt allen Harmonievorstellungen von | |
Freundschaft ins Gesicht. Sie wollte sich ihre Freundschaften, auch die zu | |
anderen Menschen, nicht vom politischen Streit zerstören lassen. Doch mit | |
dieser Sicht der Dinge stand sie fast allein. Der Freundschaftsfaden wurde | |
ihr oft zerrissen. | |
Gerade von ihren intellektuellen Freunden. | |
Grunenberg: Ja. Gerade von den Intellektuellen. | |
Thürmer-Rohr: Freundschaft ist für Arendt immer eine politische Beziehung | |
gewesen, weil Freundschaft den Unterschied wahrt. Der Freund ist der | |
Andere, ein Gegenüber, mit dem man sich verständigen kann, aber nicht eins | |
wird. | |
Könnte man behaupten, dass Arendts Denken ergebnisoffen ist, eine Art zu | |
denken, die von vielen akademischen Disziplinen nicht gerne angenommen | |
wird? | |
Grunenberg: Die Universitäten sind heute keine Stätten, an denen solches | |
Denken einen Platz hat. Es gilt als ineffektiv. Weil man nicht die Summe | |
darunter ziehen kann! Und weil es nicht unmittelbar anwendbar ist. Wir | |
machen eigentlich Sachen, die an diese Universität heute nicht gehören und | |
die sie gleichzeitig dringend braucht. Und in diesen Widerspruch führen wir | |
die jungen Studenten hinein, und wenn sie gut sind, zerreißt es sie. | |
Zerreißt es Sie manchmal auch? | |
Grunenberg: Ja. Es ist nicht sehr lusterzeugend, permanent, auch lautstark | |
damit konfrontiert zu werden, dass man einen Typus Universität vertritt, | |
der outdated ist. | |
Denken ist outdated? | |
Grunenberg: Mit unserm neuen, jetzt aus der Schale getretenen | |
Universitätstypus wird ein jahrhundertealtes Vorurteil wieder einmal | |
institutionell bestätigt: Theorie ist nur dann gut, wenn sie sich als | |
angewandte beweisen kann. Nur: Dann ist sie ja keine Theorie mehr. | |
Thürmer-Rohr: Das war doch meist so Es gab aber immer Nischen, wo die | |
technokratischen Köpfe nicht besonders hoch im Kurs standen und von | |
Kollegen und Studenten einfach nicht akzeptiert wurden. Aber diese wenigen | |
sterben aus. | |
Grunenberg: Sind schon. | |
An unseren neuen Unis gibt es keinen Platz für Hannah Arendts politische | |
Theorie? | |
Thürmer-Rohr: Sie wird ja behandelt, die Frage ist nur: wie? Man kann ihr | |
Denken nicht einfach mit ein paar Schlagworten bachelorisieren und | |
modulisieren. Arendt wollte verstehen. Dieses Verstehenwollen ist für sie | |
ein nie abgeschlossener Prozess und zugleich eine Art Ansiedlung in, eine | |
Anfreundung mit der Welt. Für sie sind Menschen weltbegabt, ein schönes | |
Wort. Und das bedeutet nicht, die Wirklichkeit zu akzeptieren, sondern sich | |
der Wirklichkeit zu stellen und entgegenzustellen. | |
Was würde Arendt heute sagen zum Stand der Feindschaften in Israel und | |
Palästina? | |
Grunenberg: Es gibt einige Gedanken von ihr, die in ihrem historischem | |
Kontext sehr aufschlussreich sind. Ihre Grundidee war: Das Hineinpflanzen | |
eines jüdischen Staates nach dem Muster der europäischen Nationalstaaten | |
des 18. und 19. Jahrhunderts in eine feindliche arabische Staatenwelt | |
bringt Krieg, Leid und Vertreibung. Sie und einige andere | |
zionismuskritische Intellektuelle dachten damals über eine Föderation | |
Israels mit den arabischen Nachbarstaaten nach. Eine weitere Idee betraf | |
die Errichtung eines europäischen Commonwealth mit Israel als Mitglied, das | |
eine eigene Repräsentanz in einem europäischen Parlament hätte. Israel wäre | |
dann eine Gründung Europas im Nahen Osten gewesen und stünde unter seinem | |
und Amerikas Schutz. | |
War das nicht ein Traum? | |
Grunenberg: Erst mal eine verblüffende Zukunftsprojektion, damals, als | |
Europa in Trümmern lag. Ich denke, Arendt würde heute kritisch gegenüber | |
den Palästinensern einbringen, dass es keinen gemeinsamen Boden des | |
Sich-Streitens gibt. Wenn man nicht eine Ebene erreicht, auf der man sich | |
als politische Gegner trifft, sondern in der Position des Feindes verharrt, | |
in der Sprache der wechselweisen Vernichtung und Demütigung, dann scheint | |
es keine Alternative zum "Köpfeeinschlagen" zu geben - auch wenn alle | |
dieser Gewaltspiralen im Grunde müde sind. | |
Das Problem beim Köpfeeinschlagen ist, dass man hinterher nicht nur müde | |
ist, sondern tot. | |
Grunenberg: Es gibt identifizierbare Stufen, wie aus Blutsfeinden | |
politische Gegner werden können. Um nichts anderes gehts. Dass man | |
überhaupt miteinander redet, auch wenn man immer wieder feststellen muss, | |
dass man nicht reden kann. | |
Hätte Hannah Arendt mit der Hamas geredet? | |
Grunenberg: Klar. Das denke ich schon. Nur hätte sie zunächst gefragt: Um | |
Himmels willen, mit wem soll ich denn reden? Jemand, der Israel das | |
Existenzrecht abspricht, mit dem geht das nicht. | |
Ihre These, Frau Grunenberg, von der Lust an der Schuld bei den Deutschen | |
hat Ihnen Angriffe eingebracht. | |
Grunenberg: "Die Lust an der Schuld" hat mir sogar einen Platz auf einer | |
Liste von antisemitismusverdächtigen Büchern eingebracht. Meine These war, | |
dass unsere Gedenkkultur nicht an der Frage der republikanischen | |
Verantwortung der Bürgerinnen und Bürger vorbeigehen kann, dass diese | |
Verantwortung viel weiter reicht als die Gedenkkultur selber, dass gerade | |
diese Gedenkkultur eine Art republikanischen Schutzgürtel braucht. | |
Frau Thürmer-Rohr, Sie haben sich mit der These von der Mittäterschaft von | |
Frauen sehr unbeliebt gemacht. | |
Thürmer-Rohr: Ich habe dem damaligen Konsens widersprochen, dass das | |
Patriarchat eine reine Männeraktion ist, ein System, das Frauen | |
systematisch ausschließe. Ich wollte, dass der Eigenanteil der Frauen | |
analysiert wird. Das war ein ziemlicher Affront gegen damalige | |
Opfervorstellungen und eine Parteilichkeit, die Frauen schützen und schonen | |
wollte. Das widersprach auch einer Identitätspolitik, für die Frausein als | |
besondere Qualität galt, als spezifische Machart, als essentiell andere | |
Spezies. Frauen sind aber Teil der Verhältnisse und damit auch | |
Konstrukteurinnen der Realitäten. | |
Grunenberg: Ich glaube, diese These hat sehr viel verändert und bewirkt. | |
Thürmer-Rohr: Mein Hintergrund war die Erfahrung des Nationalsozialismus, | |
als Kind. In meiner Generation hat man Erinnerungen an Mütter, Lehrerinnen, | |
Nachbarn im Kopf. Sie alle als kollektive Opfer zu deklarieren, war | |
vollkommen unhaltbar. Die Mittäterschaftsthese wollte die Kollaborationen | |
und Komplizenschaften aufdecken und theoretisieren. Hilfreich waren dabei | |
die Forschungen von Historikerinnen zu Frauen im NS-System. Das alles hatte | |
Folgen für die Kritik an den vermeintlichen Eindeutigkeiten der Opfertäter- | |
und der Geschlechterdifferenz. | |
Das Opfertäterdrama ist ja, jenseits des Feminismus, ein Hauptthema der | |
Psychoanalyse. Hat Arendt diese Ansätze in ihr Denken integriert? | |
Thürmer-Rohr: Scheinbar gibt es da keine Brücken. Arendt hat gegen die | |
Psychoanalyse eine vitale Abneigung gepflegt. Es gibt Zugänge zu Arendts | |
Denken, die sie selbst auf den ersten Blick versperrt hat. Trotzdem | |
inspiriert ihr Denken auch die Abgewiesenen. | |
War die Psychoanalyse für Arendt eine "Feindin"? | |
Thürmer-Rohr: Arendt ging, wie die Griechen, davon aus, dass das Innere bei | |
allen Menschen gleich ist und keine Pluralität, keine Differenz enthalte. | |
Das Psychische sei wie das Physiologische - automatische, unwillkürliche | |
Reaktion. Psychisch reagieren Menschen wie Pawlowsche Hunde - alle gleich. | |
Zum Beispiel auf Bedrohung mit Angst. Erst wenn man sich äußert, spricht, | |
handelt, fängt man an, sich zu unterscheiden - die einen zeigen sich | |
ängstlich, andere mutig, kühn, beherzt. Wir können uns entscheiden. Arendt | |
sagt, ein Fehler der Psychoanalyse sei ihr Glaube, dass die Innen- und die | |
Außenwelt den gleichen Standards folgt. | |
Teilen Sie diese These? | |
Thürmer-Rohr: Interessant ist weniger, inwieweit die These stimmt, als ihr | |
Zusammenhang. Wenn das Innere bei allen gleich und ohne Pluralität wäre und | |
diese Unterschiedslosigkeit zum Maßstab des gemeinsamen politischen Lebens | |
würde, dann ergäbe das ein totalitäres Modell. Arendt sah Zusammenhänge | |
zwischen dem Inneren, dem Einen, dem Entgrenzten, dem Maßlosen, dem | |
Allmachtswahn und dem Bösen. In dieser Kette liegt ein Schlüssel, nicht nur | |
um Arendts Abneigung gegen die Psychoanalyse zu begreifen, sondern ihr | |
politisches Denken überhaupt. Der gemeinsame Nenner dieser Kette ist der | |
Horror vor der Herrschaft des Singulars als Symbol der Allmacht und des | |
Totalitären und damit der Abwesenheit von Pluralität. Diese Abwesenheit ist | |
letztlich gleichbedeutend mit der Möglichkeit des Bösen. Es geht um die | |
Gefahr eines alle Unterschiede einreißenden Modells, das die Bedingungen | |
des Politischen zerstören würde. | |
Heißt das, im Inneren, psychisch, sind wir alle totalitäre Wesen? | |
Thürmer-Rohr: Es zeigt, was es eigentlich bedeutet, Menschen im Singular zu | |
denken. Wenn Menschen wie gleiche Exemplare, wie ein Mensch agieren, dann | |
werden sie gefährlich, durch nichts mehr aufzuhalten, durch kein Gegenüber, | |
kein Anderes begrenzt. Wenn Arendt das Innere auf seinen Platz verweist, | |
geht es ihr um diese fundamentale Gefahr, die nur auf politischem Wege, | |
also durch die Wahrung der Pluralität zu bannen ist. Arendt war viel | |
stärker um Grenzen und Selbstbindungen besorgt, als angenommen wird. | |
Grunenberg: Es gibt allerdings auch einen ganz klaren, denkgeschichtlichen | |
Hintergrund, vor dem die Distanz zur damals üblichen Psychoanalyse bei | |
Arendt entstanden ist: die Psychoanalyse Freuds ist eine Konkurrenzbewegung | |
zu der philosophischen Revolution, die Heidegger und Jaspers betrieben | |
haben. Die Psychoanalyse hat etliche von Jaspers Ideen übernommen. | |
Paradigmatisch vorgestellt, gab es also die eine Seite, die auch das | |
Unausgesprochene, nur Erfühlbare in ein System eingliedert. Und auf der | |
anderen Seite die Thesen der jungen Existenzphilosophen der Zwanzigerjahre, | |
die nicht das Verhältnis des Subjekts zum Unbewussten, sondern das | |
Verhältnis des Daseins zum Sein thematisieren. Das sind Konkurrenzmodelle. | |
Hat Arendt nicht auch sehr viel Respekt vor dem Unausgesprochenen gehabt? | |
Als Unausgesprochen-bleiben-Wollendes? | |
Grunenberg: Dieses Eindringen der Psychoanalyse in den intimsten Bereich | |
reißt natürlich eine Grenze nieder - die man aber braucht für politisches | |
Denken. Und da würde ich Arendts Abhandlungen über die Polis ins Spiel | |
bringen. Sie markiert an dieser einmaligen historischen Konstellation der | |
antiken Stadtrepubliken die Grenze zwischen privat und öffentlich. Ihre | |
Frage heißt: Brauche ich nicht einen Rückzugsort, von dem aus ich mich in | |
die Öffentlichkeit begeben kann und in den ich mich wieder zurückziehe? | |
Diesen Rückzug ins Private brauche ich, braucht jeder zum Schutz. Das wäre | |
eine interessante - politische! - Frage an die psychoanalytische Theorie. | |
Thürmer-Rohr: Es gibt noch viele offene Fragen. Arendts Politikverständnis | |
setzt ein anderes Bewusstsein von Freiheit und einen anderen Begriff von | |
Politik voraus, als wir gewohnt sind. Pluralität war hierzulande lange eine | |
Art Schimpfwort. Für Arendt gibt es ohne sie keine Freiheit. Pluralität ist | |
für sie kein moralisches Postulat, sondern eine Antwort auf eine | |
Bedürftigkeit der Menschen. | |
Grunenberg: Es gibt hierzulande nur ein verstümmeltes Verständnis von | |
Pluralität im Sinne des Nebeneinanderexistierens. Für Arendts besteht die | |
Sinnhaftigkeit von Pluralität jedoch in der Möglichkeit, sich zueinander in | |
Beziehung zu setzen, öffentlich zu urteilen und zu handeln. Pluralität hat | |
daher wenig mit Toleranz zu tun, aber umso mehr mit Streit und Anerkennung. | |
INTERVIEW GABRIELE SOHL | |
8 Nov 2007 | |
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Schwerpunkt Nationalsozialismus | |
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Thürmer-Rohr |