| # taz.de -- Debatte Venezuela: Autoritarismus von unten | |
| > Mit einer Reform der Verfassung will Hugo Chavéz seine Macht in Venezuela | |
| > festigen. Die Debatte hat das Land polarisiert. Dabei sind nicht alle | |
| > seine Vorschläge schlecht. | |
| Bild: Plant er einen "Sozialismus light"? Chávez im Olympiastadion von Mérida. | |
| Die Aufregung ist groß im Vorfeld des Referendums, bei dem die Bürger von | |
| Venezuela am Sonntag über die von Hugo Chávez angeregte Verfassungsreform | |
| abstimmen sollen. Da sind die Proteste der Opposition, die rotgewandeten | |
| Massendemonstrationen. Und da ist das Bild, das um die Welt ging, auf dem | |
| ein vermummter Chávez-Anhänger einen oppositionellen Studenten mit der | |
| Pistole bedroht. | |
| Diesmal könnte es tatsächlich eng werden für den Präsidenten und | |
| Revolutionsführer, denn die Verfassungsreform scheint auch vielen | |
| Chávez-Anhängern nicht zu schmecken. Sie führe zu einer "bürokratischen | |
| Einfrierung des revolutionären Prozesses in Form eines 'sozialistischen | |
| Staates' ", sagt etwa der ehemalige Vize-Planungsminister Roland Denis, der | |
| zum linken Flügel der Chavisten gehört. Und einer der ältesten | |
| Kampfgenossen von Chávez entzog dem Vorhaben schon vor Wochen seine | |
| Unterstützung: General Raúl Baduel, der ehemalige Verteidigungsminister, | |
| trat am 5. November vor die Presse, um die bisherige Verfassung zu | |
| verteidigen. Baduel riet den Streitkräften, "den vorgeschlagenen Text | |
| eingehend zu analysieren" - ein unverhohlener Aufruf, dem Präsidenten die | |
| Gefolgschaft zu verweigern. So verstand man es auch auf Regierungsseite: | |
| Die Stabsoffiziere von Baduel wurden eilig von ihren Aufgaben entbunden. | |
| Die geltende Carta Magna ist allerdings selbst ein eilig | |
| zusammengeschriebenes Reformwerk: Das kleine blaue Büchlein, das jeder gute | |
| Chavist immer in der Hemdtasche trägt, wurde in einem halben Jahr nach | |
| Chávez Amtsübernahme aus dem Boden gestampft. Mit der jetzigen Neufassung | |
| will die Regierung Chávez einerseits ihre Mängel ausbügeln. Zum anderen | |
| will sie damit den Übergang zum proklamierten "Sozialismus des 21. | |
| Jahrhunderts" festschreiben. | |
| Die nüchterne Lektüre des Reformwerks macht eine Unterscheidung sinnvoll: | |
| Da gibt es auf der einen Seite die Vorschläge des Präsidenten selbst, die | |
| 33 Artikel umfassen. In denen finden sich durchaus fortschrittliche | |
| Elemente: Da ist etwa das "Recht auf die Stadt", das die Barrio-Bewohner | |
| von Caracas vor Bodenspekulation schützen soll. Oder der Vorschlag, den | |
| Schutz des Privateigentums durch den Schutz des "kollektiven Eigentums" zu | |
| ergänzen, sowie die Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf 36 Stunden. | |
| Für Kritik aus der Finanzwelt hat gesorgt, dass die Nationalbank ihre | |
| Autonomie verlieren soll: Geld-, Währungs- und Reservepolitik sollen zum | |
| Instrument der wohlfahrtsstaatlichen Regierungspläne werden. Außerdem will | |
| Chávez die Legislaturperiode von sechs auf sieben Jahre verlängern lassen | |
| und die Möglichkeit haben, wiedergewählt zu werden - bis dato war nach zwei | |
| Amtsperioden Schluss. Die internationale Aufregung um diesen Punkt ist | |
| nicht recht einsichtig. Schließlich kann auch Angela Merkel so oft gewählt | |
| werden, wie es ihre Partei und die Wähler erlauben. Für die "bolivarische | |
| Revolution" wäre es andererseits ein mutiger Schritt, wenn Chávez 2012 | |
| nicht mehr kandidieren könnte. Sie müsste sich dann in den nächsten fünf | |
| Jahren von der Figur des messianischen comandante emanzipieren. | |
| Neben den präsidialen Vorschlägen gibt es 36 Reformartikel, die die | |
| Nationalversammlung in die Abstimmung einbringt. Viele davon haben mit | |
| revolutionärer Politik nichts zu tun. So wollen die Angeordneten die | |
| notwendige Prozentzahl an Wählerstimmen bei Volksreferenden kräftig | |
| heraufsetzen. Diese ermöglichen es den Venezolanern, Politiker nach der | |
| Hälfte ihrer Amtszeit abzuberufen oder Dekrete und Gesetze zu verhindern. | |
| Zu viel plebiszitäre Macht ist dem Parlament, in dem wegen eines | |
| Wahlboykotts der Opposition nur Chávez-Unterstützer sitzen, offenbar | |
| unangenehm. Die Abgeordneten geben damit einem Verdacht Nahrung, der sich | |
| auch an der Basis hartnäckig hält: Dass die "bolivarische Revolution" eben | |
| nicht nur Sozialrevolutionäre in die Ämter spült, sondern auch eine neue | |
| Funktionärskaste, die von "Volksmacht" schwadroniert, wo es ihr in Wahrheit | |
| um Privilegien geht. | |
| Kernpunkt der Reform sind aber die neuen "Volksmacht-Institutionen", die | |
| auf kommunaler Ebene die Macht übernehmen sollen. Gemeindepolitik wird dann | |
| nicht mehr den Rathäusern, sondern in "kommunalen Räten" entschieden. Aus | |
| chavistischer Sicht sollen die Räte helfen, lokale Machtkartelle zugunsten | |
| basisdemokratischer Strukturen abzuschaffen. Die "kommunalen Räte" haben | |
| sich in den vergangenen 12 Monaten bereits zu tausenden gebildet. Die | |
| Mitarbeit ist zwar ehrenamtlich. Doch weil sie eben über die Verteilung von | |
| Regierungsmitteln entscheiden, sind sie vor Korruption keinesfalls gefeit. | |
| Ob sie tatsächlich Keim einer revolutionären Basisdemokratie sein werden | |
| oder willfährige Instrumente der Regierung: Das ist die Frage, über sich | |
| die Venezolaner dieser Tage streiten. "Das Problem ist, dass die sogenannte | |
| Volksmacht, also die Gemeinde, am Tropf der Nationalregierung hängt", meint | |
| der Jesuit Arturo Peraza, Herausgeber der renommierten Zeitschrift SIC. | |
| Weil die Rätestruktur pyramidal auf die Nomenklatura im Zentrum zulaufe, | |
| habe diese alles unter Kontrolle und sei unangreifbar. | |
| Die entscheidende Frage ist, ob und wie sich in einem Land, in dem | |
| Korruption und Kolonialismus tief verwurzelt sind, ein gewaltloser, | |
| demokratischer Übergang zu einer basisdemokratischen, solidarischen | |
| Gesellschaft schaffen lässt. Die Medienkampagnen der Opposition, aber auch | |
| der Verbalradikalismus der Chávez-Kader übertönen die leiseren Töne in der | |
| Debatte. Das ist bedauerlich, denn eigentlich ist Venezuela einer der | |
| derzeit spannendsten Orte auf dem Planeten. Wo sonst werden denn politische | |
| Alternativen zum Neoliberalismus heute nicht nur diskutiert, sondern auch | |
| ausprobiert? Hugo Chávez ist an der Vergröberung nicht unschuldig: Er will | |
| möglich schnell Fakten schaffen, und wer ihm dabei in die Quere kommt, wird | |
| in ein simples Freund-Feind-Schemata einsortiert. Das wiederum nutzen | |
| politische Karrieristen, um sich auf Kosten einer offenen und öffentlichen | |
| Diskussion zu profilieren. | |
| Noch ist nicht ausgemacht, ob solches Gebaren zum Mainstream der | |
| "bolivarischen Revolution" wird. Eben deshalb wäre es ihr zu wünschen, dass | |
| die Wählerschaft differenziert mit den Vorschlägen zur Verfassungsreform | |
| umgeht. Gelegenheit dazu gibt es. Mit gewohnt sicherem politischen Instinkt | |
| hat Hugo Chávez durchgesetzt, dass die Venezolaner am 2. Dezember in zwei | |
| Blöcken über die Reform abstimmen: Der "Bloque A" umfasst vor allem die | |
| Vorschläge des Präsidenten. Im "Bloque B" liegen ausschließlich die | |
| Änderungsanträge der Nationalversammlung vor. | |
| Angenommen, der zweite Block fände keine Akzeptanz an den Wahlurnen: Dann | |
| hätten die Venezolaner gleichzeitig für Chávez und gegen seine Kader | |
| gestimmt. Ein heilsamer Schock wäre das allemal. Und womöglich ein Schritt | |
| hin zu der Erkenntnis, dass eine Revolution weniger Jasager braucht, dafür | |
| aber um so mehr Kontroverse und Kritik. | |
| 30 Nov 2007 | |
| ## AUTOREN | |
| Christoph Twickel | |
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