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# taz.de -- Die Lieblosigkeit und ihre Sprache: Großmutters Kälte
> Verzweifelt amüsant, zum Heulen komisch: Philipp Tinglers erster Roman
> "Fischtal" ist ein geglückter Bericht über die großbürgerliche
> Verwahrlosung.
Bild: Die bunten Wohnideen des Architekten Bruno Taut sollten die Gemeinschaft …
Manchmal trägt ein einziger Wortwechsel einen ganzen Roman. Beim Betreten
des Hauses seiner verstorbenen Großmutter erinnert sich Gustav an seine
Mutter und ihre einstige Bemerkung über ihr Elternhaus: "Das ist die Hölle.
Da färben die Niedertracht und die Bosheit ab wie Kohlenstaub von
Eierbriketts." "Du", gab Gustav damals zu bedenken, "hast doch noch nie in
deinem Leben Briketts angefasst." Woraufhin seine Mutter antwortet: "Du
wirst hier nur geduldet." Hier aber war sein Zuhause: "Er hatte kein
anderes. Und der Mensch braucht ein Zuhause. Jedenfalls ein bürgerliches
Exemplar wie Gustav", sagt Philipp Tingler stellvertretend für ihn, am Ende
jenes Tages, an dem Gustav und seine Freundin Lilli die Eltern von Gustav
und zahlreiche Tanten in das von Bruno Taut erbaute großmütterliche Haus in
Berlin-Zehlendorf haben einfallen sehen. Mit der Inventarliste in der Hand
wollen sie sich die Erbstücke sichern - ein Raubzug, der Tinglers erstem
Roman, "Fischtal", den Rahmen gibt. Gustav durchstreift die Zimmer der
weitläufigen Villa und erinnert sich an seine Jugend, die er dort an der
Seite der Großmutter verbracht hat.
Schilderungen des aktuellen Geschehens wechseln mit erzählter Erinnerung
und Dialogen aus Gegenwart und Vergangenheit ab. Diese Dialoge sind die
große Stärke des Romans. Umstandslos spiegeln sie die Arroganz des
großbürgerlichen "Fischtals" wieder, jener Wohngegend am gleichnamigen
Park. Hier herrschen Mangel an Empathie und die umso maßloseren Ansprüche
an das Benehmen der anderen sowie den eigenen hochglanzverchromten
Lebensstil. Weder kritisiert oder beklagt das Philipp Tingler, noch erhebt
er sich darüber. Ironie, wie sie der Büchnerpreisträger Martin Mosebach
seinem Bürgertum angedeihen lässt, verdankt sich eben profunder
Ahnungslosigkeit.
Tinglers Figuren sind weder lächerlich noch harmlos. Schon gar nicht
Gustavs Großmutter, die Dame des Hauses im Fischtal, in dem sie nur ein
Wohnrecht hat, weil ihr Mann sie enterbte. Sie steht im Zentrum des Romans,
der ihr ein Denkmal setzt. An der subalternen Rolle der Gattin verzweifelt,
deren Privilegien die Erfüllung ihrer weiblichen Reproduktionsaufgabe
legitimiert, resigniert und erkaltet sie, um schließlich heroisch zu
vereinsamen. "Sie besaß zweihundert Paar Schuhe, sieben Nerzmäntel und
zwölf Enkelkinder. Oder vierzehn, das konnte Gustav auf die Schnelle nicht
rekapitulieren", heißt es an einer Stelle über sie. Und so entschieden sie
auf diesem Luxus besteht und jederzeit für ihre KPM-Vasen und Kleider von
Givenchy kämpft: Sie bedeuten ihr nichts. Aus diesem Grund aber sind diese
Dinge nicht Requisite, sondern ermöglichen es Tingler, literarisch ein
ganzes Leben in ihnen einzuschließen.
Mit dieser Heldin steht nun "Fischtal" quer zu den gängigen Mustern der
Gegenwartsliteratur. Die Großmutter passt nicht zum Zeitgeistpersonal der
sogenannten Popliteratur, der Tinglers Kurzprosa und seine
Tagebucherzählungen gerne zugerechnet werden. Als Antagonistin von Gustav,
der womöglich als eine Art Thomas-Mann-Figur gelesen werden soll, blamiert
sie jede Verheißung einer Neuen Bürgerlichkeit und deren Fasziniertsein von
literarischen Topoi einer klar geordneten Welt. Nichts läge der kleinen,
zierlichen Frau auf ihren Stöckelabsätzen ferner, als dem Besucher das
Befremden zu nehmen, das er angesichts der Welt, in der sie lebt, womöglich
fühlt. Wahrscheinlich erklärt sich der gereizte Ton, mit dem "Fischtal" im
Internetblog "Schwule Literatur" als langatmige, larmoyante
Autopsychotherapie eines verwöhnten Schnösels abgetan wird, aus der
Intransigenz dieser Welt und ihrer Bewohner.
Am plausibelsten ist "Fischtal" wohl mit dem Literaturwissenschaftler
Helmuth Lethen als "Verhaltenslehre der Kälte" zu lesen. Es braucht
vielleicht nicht einmal die Erfahrung der "Verwahrlosung auf hohem Niveau",
wie Tingler das Leben von Großmutter und Enkel resümiert, um den Roman in
den Passagen zu entdecken, in denen sich dieser Topos literarisch
verdichtet. Bestimmt braucht es aber die Erfahrung von Melancholie, von
Depression, nicht unbedingt "auf hohem Niveau".
Dann stößt man sich auch nicht an einigen ermüdenden Längen und an dem
großen Raum, den eine eher harmlose Gestalt wie Gustavs Schulfreundin
Atlanta in "Fischtal" einnimmt. Dann steht man im Bann von Gustavs
Großmutter, dem Kältetypus der Frauenfigur. Lethen analysierte ihn für die
Zwanzigerjahre im Werk von Marieluise Fleißer; dort in der Kreatur, der
Frau, von der nur als Sache die Rede ist. Tingler entdeckt und würdigt
diesen Typus in der Gattin, die selbst das Wort hat und erteilt. So erregt
die Haushälterin Hildchen den Missmut von Gustavs Großmutter, als sie deren
elterliche Fürsorge anmahnt als unumstößliches Gesetz der Natur:
"Verschonen Sie mich damit! Verschonen Sie mich mit Ihrem Mutterbild! Das
grenzt an üble Nachrede". Ihre Erbarmungslosigkeit wird nur von der bösen
Präzision übertroffen, mit der sie ihr Ausdruck verleiht und jedes weitere
Wort unterbindet - vor allem wenn dieses Wort Gefühle wie Verletztheit,
Trauer, Angst oder, kaum denkbar, Wohlsein, ausdrücken soll.
"Fischtal" ist der geglückte literarische Bericht über die Lieblosigkeit
und ihre Sprache, ihren seltenen Glanz und gnadenlosen Stil. Verzweifelt
amüsant, hinreißend absurd, zum Heulen komisch - wäre das denn alles
tatsächlich eine Option. Denn wie Philipp Tingler am Ende fragt: "Weinte
er? Vermutlich nicht. Man weinte nicht in Gustavs Familie. Man schrie das
Check-in-Personal bei der Air France an."
Philipp Tingler: "Fischtal". Roman. Kein & Aber Verlag, Zürich 2007, 304
Seiten, 19,90 Euro.
30 Nov 2007
## AUTOREN
Brigitte Werneburg
Brigitte Werneburg
## TAGS
Dokumentarfilm
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