# taz.de -- Das "kleine Kino": Die Kinorevolution Südostasiens | |
> Die digitale Produktionstechnik machts möglich: Das Kino in Südostasien | |
> erfindet sich neu. Erst kam die Einmannproduktion, dann die unabhängigen | |
> Filmfestivals. | |
Bild: Großes Kino in Malaysia - doch das "kleine Kino", selbstgemacht, kommt l… | |
Geschäftig hantiert der malaysische Filmemacher Amir Muhammad an seinem | |
Powerbook herum. Eigentlich wollte er bei der jährlichen Konferenz der | |
südostasiatischen Filmwissenschaftler in Kuala Lumpur Ausschnitte aus | |
seinem Dokumentarfilm "Village People Radio Show" vorführen. Aber nun | |
streikt der Computer. "Bahnt sich hier eine comédie tragique an?", grinst | |
er verlegen ins Publikum, während ein zur Hilfe geeilter Techniker am | |
Rechner herumbastelt. Dann läuft der Film plötzlich, und Muhammad kann | |
seine Präsentation zu Ende führen. Als er fertig ist, klemmt er sich den | |
Laptop unter den Arm und fährt nach Hause, um in einer Nachtschicht allein | |
am PC den Soundtrack seines Films zu bearbeiten. Das ist ein Jahr her. Im | |
Februar 2007 läuft der fertige Film im Forum der Berlinale. | |
Noch vor weniger als zehn Jahren wäre eine Szene wie diese unmöglich | |
gewesen. Filmproduktion - sei es auf konventionellem Film, sei es auf Video | |
- war Teamarbeit, die in teuren Studios und Schneideräumen stattfand. Doch | |
die Revolutionierung der Filmproduktion durch die digitale Technik erlaubt | |
es nun jedem zu drehen, der Zugang zu einer digitalen Kamera und einem | |
Computer für den Filmschnitt hat. Und das sind selbst in einer | |
vergleichsweise armen Gegend wie Südostasien eine ganze Menge Leute. | |
In Ländern wie den Philippinen, Malaysia, Indonesien, Thailand und Singapur | |
operieren Einmann-Produktionsteams wie Muhammad mit minimalen Budgets und | |
produzieren trotzdem Filme, die auf Festivals in der ganzen Welt zu sehen | |
sind. Festivals für Kurz- oder Independent-Filme schießen in vielen | |
Großstädten der Region aus dem Boden. Auch die Medien beginnen von dem | |
südostasiatischen "kleinen Kino" - wie der malaysische Filmkritiker Anuar | |
Nor Arai es nennt - Notiz zu nehmen. | |
Das Filmfestival in Rotterdam war das Erste, das sich auf die Neue Welle | |
aus der Region konzentrierte, und allmählich ziehen andere Filmfestivals | |
nach: In Venedig war im September das Opus Magnum "Death in the Land of | |
Encantados" des philippinischen Filmemachers Lav Diaz zu sehen. Der | |
Thailänder Apichatpong Weerasethakul ("Mysterious Object at Noon", | |
"Tropical Malady", zuletzt "Syndromes and a Century") war schon mehrmals in | |
Cannes und Venedig. Sein Landsmann Pen-Ek Ratanaruang ("Last Life in the | |
Universe", "Invisible Waves") nahm am Wettbewerb der Berlinale teil. Und | |
schon machen sich Filmemacher wie Tan Chui Mui aus Malaysia oder Raja | |
Martin aus den Philippinen einen Namen - und das in Ländern ohne jede | |
Filmförderung und mit lokalen Filmindustrien, die in der Regel nicht mehr | |
als bescheiden vor sich hin produzieren. | |
Diese Regisseure erzählen oft Geschichten aus dem Unterbauch der | |
Gesellschaft. Wie etwa Beispiel "Tribu" ("Stämme"), der Debütfilm des | |
philippinischen Filmemachers Jim Libiran. Er hat in Tondo, einem der | |
Ghettos von Manila, einen Film mit Amateurdarstellern gedreht, in dem sie | |
Szenen aus ihrem Alltagsleben als Bandenmitglieder und Kleinkriminelle | |
darstellen. Der Film ist sichtbar ein Anfängerwerk, voller Anschlussfehler | |
und mit oft unverständlichem Ton oder schlecht ausgeleuchteten Bildern. | |
Doch die Laienschauspieler und ihre improvisierten Freestyle-Raps zeichnen | |
ein anderes Bild von den Philippinen als die ewigen Liebesfilme, Melodramen | |
und Komödien, mit denen die lokale Filmindustrie ihr Publikum zu | |
unterhalten versucht. | |
Mit ähnlichen Filmen haben in den Siebziger- und Achtzigerjahren Regisseure | |
wie Lino Brocka und Ishmael Bernal internationale Beachtung erreicht. Doch | |
in den letzten zwei Dekaden hat das philippinische Kino, einst die | |
drittgrößte Filmindustrie der Welt nach Hollywood und Bollywood, sich | |
weltweit ins Abseits manövriert. Erst der digital produzierte "Maximo | |
Oliveros" (2005) von Auraeus Solito über einen zwölfjährigen Jungen im | |
Ghetto und dessen unerwiderte Liebe zu einem Streifenpolizisten konnte | |
wieder an die internationalen Festivalerfolge der philippinischen Neuen | |
Welle der Siebzigerjahre anknüpfen. Und auch in den Philippinen selbst war | |
der Film, nicht zuletzt wegen der unermüdlichen Öffentlichkeitsarbeit | |
seiner Macher und wegen seines charismatischen Hauptdarstellers, ein | |
unerwarteter Publikumserfolg. | |
Am anderen Ende des Spektrums stehen Filme wie Raja Martins "Indio | |
Nacional" (2005), die mehr mit dem lateinamerikanischen poetischen | |
Realismus gemeinsam haben als mit den sozialkritischen Kino von Brocka, | |
Bernal und Co. Martin, der diesen Debütfilm mit 22 Jahren realisierte, hat | |
mit digitalem Video einen Schwarzweiß-Stummfilm gedreht, der stilistisch an | |
die frühen newsreels von Edison und den Brüdern Lumière erinnert. Und sein | |
Kollege Khavn de la Cruz dreht fast ohne Budget und fast im Monatsrhythmus | |
neue Trash-Filme, in denen die Horrorfilmtradition des philippinischen | |
Kinos mit internationalem Kultkino versöhnt wird. Anders als "Maximo | |
Oliveros" und "Tribu" haben solche Filme in den Philippinen keine Chance | |
auf einen regulären Verleih in den Kinoketten. | |
Aber die Filmemacher in ganz Südostasien begnügen sich längst nicht mehr | |
damit, Filme zu machen. Sie organisieren auch die notwendige Infrastruktur, | |
um ihre Arbeiten zu zeigen: in Schulen, Universitäten, Galerien oder in | |
Manila sogar in einem Kino in einer Shopping Mall, bei der die Gruppe | |
Independent Film Makers of the Philippines den Besitzer überzeugen konnten, | |
einen Saal für regelmäßige Aufführungen lokaler Independent-Filme zur | |
Verfügung zu stellen. | |
Trotzdem ist es mitunter leichter, diese Filme bei Festivals im Ausland zu | |
sehen als in den Ländern, in denen sie produziert wurden. John Torres, | |
dessen "Todo Todo Teros" (2006) diverse internationale Filmpreise | |
einheimste, aber in den Philippinen nur einige wenige Male gezeigt wurde, | |
hat darum immer ein paar DVDs mit seinem Film in der Rucksacktasche, die er | |
unter Bekannten und Interessierten verteilen. Torres und auch Lav Diaz | |
denken gelegentlich sogar laut darüber nach, ihre Filme an die DVD-Piraten | |
weiterzugeben, die in allen Ländern Südostasiens ein florierendes Geschäft | |
betreiben und über ein überaus effizientes Vertriebsnetzwerk verfügen. | |
Oft sind die internationalen Festivals die einzige Chance, neue Filme | |
überhaupt zeigen zu können. Amir Muhammads Dokumentarfilm "The Last | |
Communist" wurde in Malaysia - neben Singapur das politisch repressivste | |
Land in der Region - vom Innenministerium auf den Index gesetzt, weil der | |
Film von dem problematischen Thema der Kommunistischen Partei Malaysias | |
handelt. Obwohl man den Protagonisten des Films, den malaysischen | |
Kommunistenführer Chin Peng , der seit über 40 Jahren in Thailand im Exil | |
lebt, im ganzen Film kein einziges Mal sieht, war die Dokumentation für das | |
malaysische Establishment zu kontrovers. Der Film wurde auf Festivals in | |
Berlin, London, Singapur und Hongkong gezeigt. Inzwischen ist er auf dem | |
Schwarzmarkt Malaysias auf illegalen DVDs ein Bestseller. Auch in Singapur | |
und selbst in den vergleichsweise liberalen Philippinen geraten | |
Independent-Filmer immer wieder mit den jeweiligen, nach wie vor mächtigen | |
Zensurbehörden aneinander. | |
In einem Essay vergleicht der kanadische Filmkritiker Cameron Bailey die | |
philippinischen Independent-Filme der Gegenwart sogar mit dem | |
lateinamerikanischen "Third Cinema" der Siebzigerjahre, für das zum | |
Beispiel die Argentinier Fernando Solanas und Octavio Getino einstanden. | |
Doch anders als diese Filmemacher, die sich ästhetisch und politisch nicht | |
nur von Hollywoodkino, sondern auch vom europäischen Autorenkino absetzen | |
wollten, sind die unabhängigen Regisseure der Gegenwart stilistisch und | |
politisch weitaus weniger dogmatisch. Sie haben sich nicht einem | |
dezidierten "Gegenkino" verschrieben, sondern bedienen sich einer weiten | |
Bandbreite ästhetischer und narrativer Mittel. | |
Als ein Anzeichen der fortschreitenden Globalisierung des Weltkinos sollten | |
die südostasiatischen Produktionen in den nächsten Jahren auch im Westen | |
auftauchen. Die Länder Südostasiens wurden schon als ökonomische | |
"Tigerländer" gefeiert; höchste Zeit also, ihre vitale Alternativ- und | |
Subkultur, nicht nur im Kino, international zu beachten. | |
Tilman Baumgärtel hat ein Buch veröffentlicht: "Kino Sine. | |
Philippine-German Cinema Relationships". Es ist beim Goethe-Institut Manila | |
erschienen, und kann unter [1][www.goethe.de/kinosine] heruntergeladen | |
werden | |
17 Dec 2007 | |
## LINKS | |
[1] http://www.goethe.de/kinosine | |
## AUTOREN | |
Tilman Baumgärtel | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Urheberrecht | |
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