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# taz.de -- Ausstellung über Fluchthelfer Varian Fry: Rettung aus Marseille
> Mit Hilfe des Amerikaners Varian Fry konnten deutsche Intellektuelle
> während des 2. Weltkriegs vor den Nazis fliehen. Eine Ausstellung in der
> Berlin erzählt seine Geschichte.
Bild: Marseille beherbergte Anfang der 40er Jahre Tausende von Exilanten, die d…
Heinrich Mann riss ein Blatt aus seinem Kalender und notierte darauf die
Abfahrts- und Ankunftszeiten von Zügen, die am 21. Februar 1933 von Berlin
nach Frankfurt fuhren. Als ginge er nur auf eine kurze Reise und als sei es
nicht besonders wichtig, wann er fahre, schrieb er sich mehrere
Zugverbindungen auf. Nur mit einem Regenschirm in der Hand ging er zum
Bahnhof und begann seine Flucht aus Deutschland.
Die mit Bleistift geschriebene Notiz, die dem Schriftsteller offensichtlich
so wichtig war, dass er sie uns nachgelassen hat, ist derzeit in der
Berliner Akademie der Künste in einer Ausstellung über Varian Fry zu sehen.
Die zum Teil illegalen Aktivitäten des Amerikaners hatten erheblichen
Anteil daran, dass sich mehr als tausend deutsche Schriftsteller,
Feuilletonisten, Zeichner, Maler, Fotografen und ihre Angehörigen aus
Vichy-Frankreich nach Übersee retten konnten.
Manche der mit Frys Hilfe Geretteten sind berühmt, Heinrich und Golo Mann
etwa, die Eheleute Feuchtwanger und Kracauer, Franz Werfel oder Max Ernst.
Manche sagen heute nur noch Literaturwissenschaftlern und Kunsthistorikern
etwas. Das gilt auch für Fry selbst, dem weder in seiner Heimat noch in
Deutschland je besondere Ehren zuteil wurden - sieht man einmal von der
Tatsache ab, dass am Potsdamer Platz heute eine Straße nach ihm benannt
ist.
Der Verein Aktives Museum hat Varian Fry in Zusammenarbeit mit der Akademie
der Künste daher nun eine hervorragend konzipierte und überzeugend schlicht
gestaltete Ausstellung gewidmet, ohne dabei je in Versuchung zu geraten,
Fry zum kontextlosen Helden und Übermenschen zu stilisieren. Stattdessen
präsentiert die Schau am Pariser Platz ein Netzwerk von Bezügen,
Erinnerungen und historischen Fakten, das die gern als irgendwie
selbstverständlich hingenommene Tatsache der Emigration deutscher
Intellektueller und Antifaschisten in ihrer ganzen Dramatik
vergegenwärtigt.
Die Ausstellung setzt 1933, also an einem Punkt ein, an dem sich Menschen
wie Heinrich Mann beinahe von einem Tag auf den anderen mit der Tatsache
konfrontiert sehen, dass ihr weiterer Aufenthalt in Deutschland
lebensbedrohlich sein könnte. Durch die Zwangsausbürgerung werden viele
Kulturarbeiter zu Fremden im eigenen Land, die Ausschlussverfahren der
Reichskulturkammer machen sie zu Menschen ohne Beruf. An einer der
Hörstationen in der Ausstellung werden Zeugnisse der Vertriebenen
vorgelesen. Walter Benjamin etwa beschreibt, wie er innerhalb von nur einer
Woche vom gefragten Autor zu einem Ausgestoßenen wird, mit dem niemand mehr
etwas zu tun haben möchte. Das Exil, das zeigt sich hier, beginnt nicht
erst mit der Emigration - es fängt schon zu Hause an.
Der Amerikaner Varian Fry wird auf einer Europareise im Sommer 1935 Zeuge,
wie deutsche Volksgenossen sich abends auf dem Kudamm zu einem gut
gelaunten Mob zusammenrotten. Leute, die man für Juden hält, werden aus
ihren Autos gezerrt, Passanten attackiert, um dann mit Platzwunden
davongejagt oder gleich verhaftet zu werden. Frys Bericht aus Berlin
erscheint unter anderem in der New York Times und informiert die
amerikanische Öffentlichkeit über die Auswirkungen der neuen Politik in
Deutschland.
Als Fry in die USA zurückkehrt, lassen ihn seine Erlebnisse nicht mehr los.
Er nimmt Kontakt mit Emigranten in New York auf und begleitet die
Ereignisse in Europa als Publizist. Als Frankreich am 22. Juni 1940 seine
militärische Niederlage eingestehen muss, wird im Waffenstillstandsabkommen
ein Auslieferungsparagraf formuliert, der Frankreich verpflichtet, Deutsche
auf Verlangen auszuliefern. Jetzt handelt Fry erstmals, "ohne zu zögern",
wie der treffende Titel der Ausstellung lautet. Zusammen mit anderen
engagierten Amerikanern und Emigranten lädt er zu einem Fundraising Dinner.
Geld soll gesammelt werden, um in erster Linie den besonders gefährdeten
Schriftstellern und Gewerkschaftern, aber wenn möglich auch vielen anderen
Verfolgten die Flucht aus Frankreich zu ermöglichen. Das Emergency Rescue
Committee wird gegründet.
Seit 1939 leben in Frankreich zirka eine Million Menschen, die vor den
Nazis geflüchtet sind, darunter mehrere 10.000 Deutsche. Mit Kriegsausbruch
werden sie interniert. Gefährlich wird für viele die Lage, als die
Regierung des "État français" im südlichen, unbesetzten Teil des Landes das
Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet und antijüdische Gesetze erlässt.
Varian Fry wird von seinen Freunden ausgewählt, nach Frankreich zu gehen,
weil er fließend Französisch und passabel Deutsch spricht - und der Gestapo
unbekannt ist. Als er mit einer Liste, auf der 200 Namen stehen, im August
1940 in Marseille eintrifft, ist die Stadt voll mit verzweifelten
Emigranten. Kaum hat Fry im "Hotel Splendide" sein erstes provisorisches
Büro eröffnet, bilden sich schon Schlangen vor seiner Tür. Ursprünglich
soll er nur einige Wochen in Frankreich bleiben. Daraus werden 13 Monate,
in deren Verlauf er nicht nur mit den französischen Behörden, sondern auch
mit der amerikanischen Regierung in Konflikt gerät.
Denn die USA sind 1940 schon lange kein offenes Einwanderungsland mehr.
Längst sind Quoten für einzelne Länder festgelegt. Dem Komitee gelingt es
zwar, First Lady Eleanor Roosevelt für seine Sache zu gewinnen, sodass bald
ein Notvisum für Gefährdete eingeführt wird. Doch die amerikanischen
Behörden legen bei der Ausstellung der Emergency Visa keinen besonders
großen Eifer an den Tag. Fry ist in Marseille jeden Tag mit der
Verzweiflung Dutzender von Menschen konfrontiert, die meist jüdischer
Herkunft sind oder aus dem linken Spektrum kommen. Oftmals trifft beides
zu. Der regionale Polizeichef lässt Fry und sein Büro observieren und
vermerkt: "Unter dem Vorwand der Emigration schützt er Ausländer mit
zweifelhafter Moral und politischer Einstellung, was sich nachteilig auf
die französische Regierung auswirkt. Er verbringt seine Zeit mit
Anarchisten und empfängt sie zu Hause."
Anfangs kann Fry auf die Hilfe des amerikanischen Vizekonsuls in Marseille,
Hiram Bingham, bauen, der allerdings im April 1941 abberufen wird. Sein
Nachfolger lehnt Visaanträge in großer Zahl ab, "um Amerika vor
Flüchtlingen zu bewahren, die er allesamt für Radikale hielt", wie sich Fry
erinnert. Sozialisten und Kommunisten gelten nämlich als unerwünscht,
während rassistische Verfolgung allein kein ausreichender Grund für die
Ausstellung eines Notvisums ist. Ohnehin werden bis zum Januar 1941 keine
französischen Ausreisevisa mehr ausgestellt, und so ist es für die meisten
Emigranten unmöglich, das Land legal zu verlassen. Sie sind ständig in
Gefahr, verhaftet zu werden.
Fry zögert daher nicht, Papiere auch illegal zu beschaffen. Er baut mit
seinem Mitarbeiterstab eine klandestine Fluchthilfeorganisation auf, um
Flüchtlinge über die Pyrenäen sicher nach Lissabon zu bringen; aus
Marseille fahren zu dieser Zeit keine Passagierschiffe nach Übersee. Unter
den Helfern befinden sich viele Emigranten, die sich durch ihre Tätigkeit
noch stärker in Gefahr begeben. Fry gewinnt etwa den österreichischen
Pressezeichner Bil Spira für die Fälschung von Dokumenten. Dieser wird
verraten, verhaftet und nach Auschwitz deportiert, überlebt aber. Das
Ehepaar Hans und Lisa Fittko wiederum führt Flüchtlinge über die Grenze
nach Spanien. Nur die stillschweigende Hilfe der Dörfler im Grenzgebiet
macht diese Fluchten überhaupt erst möglich. Wenn dringend Geld benötigt
wird, springen immer wieder zwei reiche US-Amerikanerinnen ein, Peggy
Guggenheim und Mary Jayne Gold.
"Die Leute in Washington sitzen in ihren schönen Büros und handeln mit
Papieren. Es zerreißt ihnen nicht das Herz. Es berührt ihre Seele nicht im
Geringsten", schreibt Fry erbittert im Manuskript für sein späteres Buch
"Auslieferung auf Verlangen". Hätte sich Frys Gruppe an Recht und Ordnung
orientiert und auf staatliche Stellen verlassen, wären Tausende nicht
gerettet worden. Ein Beispiel hierfür sind die beiden SPD-Politiker Rudolf
Hilferding und Rudolf Breitscheid, die eine illegale Ausreise ablehnen. Sie
werden Anfang 1941 der Gestapo übergeben.
Fry selbst widersetzt sich lange seiner Rückkehr in die USA und bekommt
deswegen Ärger mit dem State Department. Auch die Beziehungen zu seiner
eigenen Hilfsorganisation in New York verschlechtern sich, weil Fry sich
gar nicht erst auf die Frage einlassen will, in welchem Fall es opportun
ist, eine Einreisemöglichkeit zu eröffnen, und wann nicht. Am 29. August
1941 wird er selbst nach Spanien abgeschoben, Frys französisches Büro wird
bis zum 2. Juni von seinem Mitarbeiter Daniel Benedite weitergeleitet, dann
aber wird es geschlossen. Ab März gehen die ersten Deportationen aus dem
besetzten Teil Frankreichs nach Auschwitz.
Fry kann sich nach seiner Rückkehr nie wieder ganz in den Alltag einfügen,
das Emergency Rescue Committe setzt Fry auf die Straße. Er engagiert sich
nun als Publizist und attackiert heftig die zögerliche Politik der
amerikanischen Regierung angesichts der Deportationen und Verfolgungen
unter der Naziherrschaft. Das FBI zensiert seine Post und legt eine Akte
an, die Angst vor kommunistischer Infiltration ist allgegenwärtig. Dabei
ist Fry alles andere als ein Parteisoldat: Als der Krieg vorbei ist,
verliert der Sozialist viele seiner Freunde, weil er sich vehement gegen
die totalitäre Politik Sowjetrusslands und Chinas wendet. Nichtsdestotrotz
stufen ihn die Behörden noch 1951 als Kommunisten ein. Nur die Geretteten
scheinen Fry zu verstehen und zu würdigen: Als nach Kriegsende seine
Erinnerungen über die Zeit in Marseille in Buchform erscheinen, zeigen sich
viele von ihnen gerührt und begeistert. Zeitlebens wurde Fry nur von der
französischen Regierung geehrt. Im Jahr seines Todes 1967 wurde ihm in New
York der Orden eines Ritters der Ehrenlegion verliehen.
18 Dec 2007
## AUTOREN
Ulrich Gutmair
Ulrich Gutmair
## TAGS
NS-Widerstand
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