# taz.de -- Starsoziologe Richard Sennett: "Die Freiheit, Fehler machen zu dür… | |
> Ein Gespräch mit Richard Sennett über die Perfektion des Handwerks und | |
> den Vorteil von Fehlern - aufgrund dessen die taz eventuell von Microsoft | |
> verklagt wird. | |
Bild: Richard Sennett: "Hillary Clinton ist eine fantastische Handwerkerin, abe… | |
taz.mag: Herr Sennett, sind Sie heute schon Ihrem Schreibhandwerk | |
nachgekommen? | |
Richard Sennett: Aber sicher. Ich schreibe jeden Tag, immer morgens. | |
Ganz wie Thomas Mann | |
Hat er das auch so gehalten, ja? Wissen Sie, es ist ja so: Wenn man wartet, | |
bis einen die Muse küsst, dann schreibt man schlecht. | |
Oder gar nicht? | |
Wenn sie einen nie küsst, kann das passieren. Ich gehe eher davon aus, dass | |
sie jeden Tag Kontakt sucht, und sei es für eine Minute nur. Als Musiker | |
bin ich tägliches Üben gewohnt. Von daher ist auch das tägliche Schreiben | |
zur Gewohnheit geworden. | |
Was ist Ihrer Meinung nach gute Arbeit, gutes Handwerk? | |
Ich würde sagen, etwas, mit dem man am Ende ein Problem gelöst und | |
gleichzeitig ein neues aufgeworfen hat. | |
In diesen Tagen erscheint Ihr neues Buch, "Handwerk", der erste Band einer | |
Trilogie, in der Sie sich mit Qualität, handwerklichem Können und | |
handwerklichen Fertigkeiten befassen. Ist Ihnen dieses Problem bewusst | |
geworden, als Sie sich mit Ihrer Kritik am Kapitalismus befasst haben? | |
Die Idee, dass handwerkliche Qualität uns abhandenkommt, trage ich schon | |
sehr lange mit mir herum. An dem ersten Band des Buchprojekts habe ich zehn | |
Jahre gearbeitet. Genau in der Zeit also, in der ich in mich mit der Kritik | |
am modernen Kapitalismus beschäftigt hatte. Ich wollte mich aber nicht nur | |
auf die Jetztzeit konzentrieren, nicht nur mit den Arbeitsbedingungen | |
beschäftigen und damit, wie Arbeiter unterdrückt werden, sondern auch auf | |
die Frage des Herstellungsprozesses gründlich eingehen. | |
Welche ist es denn? | |
Was bedeutet es, gute Arbeit zu leisten - und wie streben Menschen nach | |
Qualität? Diese Frage geht weit zurück in die Geschichte der westlichen | |
Kultur. | |
Wir dürfen Karl Marx für dieses Gespräch mal kurz vergessen? | |
Um ein tieferes Verständnis für das Herstellen von Dingen, für das | |
materielle Engagement von Menschen zu erhalten, ist es eher hinderlich, mit | |
Karl Marx den Blick auf die sozialen Bedingungen zu verengen. Ich bin eher | |
an dem Problem interessiert, das sich der Pandora schon stellte: die | |
Annahme, dass wir uns selbst sehr schaden können in unserem Streben, uns | |
und unsere Technologie stetig zu verbessern. Ich versuche, den Zusammenhang | |
zwischen dem materiellen, dem physischen und dem mentalen Aspekt von Arbeit | |
zu beschreiben. Ein kulturell-materialistischer Ansatz, wenn Sie so wollen. | |
Fruchtet dieser Ansatz denn auch bei einem gewöhnlichen Job mit | |
Tarifvertrag und geregelter Arbeitszeit, sagen wir in einem Büro, in dem | |
man Jahr für Jahr, Tag für Tag an einem Computer sitzt, um den | |
Lebensunterhalt zu finanzieren? | |
Natürlich. Eine der großen Herausforderungen ist es doch immer noch, | |
Routine in Arbeitsabläufe zu bringen, um sie effektiver zu organisieren. | |
Wie dieses routinierte Arbeitsleben für den einzelnen Menschen | |
substanzieller gestaltet werden kann, ist eine soziale Herausforderung. | |
Mein Interesse richtet sich auf den Lernprozess, wie Fertigkeiten erworben | |
werden, worin sie bestehen und wie sie angewandt werden - und das ist erst | |
recht für Jobs in Büros oder Fabriken wichtig. | |
Lässt sich diese Frage den verallgemeinern? Es gibt doch Fertigkeiten | |
unterschiedlichster Art? | |
Grundsätzlich glaube ich, dass handwerkliche Fertigkeiten auch in einer | |
Dienstleistungsgesellschaft auf ein menschliches Grundbedürfnis verweisen: | |
den Wunsch, eine Arbeit um ihrer selbst willen gut zu machen. Das meint | |
nicht allein jene Tätigkeiten, die wir unter Handwerk verstehen, die Arbeit | |
mit Holz oder Metall oder Glas. | |
Sondern? | |
Der Punkt ist doch, das wissen wir alle: Menschen wollen Fertigkeiten | |
erwerben, um etwas, einen Prozess, ein Handwerk, zum Gelingen zu bringen. | |
Nun geschieht der Erwerb von Fertigkeiten ja nicht in einem neutralen Raum, | |
sondern unter politischen, sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen, in | |
denen bestimmte Autoritäten definieren, woraus Qualität entsteht. Welche | |
Instanzen sind das in unserer Gesellschaft? | |
Nun, das ist ein weites Feld, da wir eine sehr konstruierte Vorstellung von | |
Autorität haben. Ich würde zwei Modelle unterscheiden: Das erste fußt auf | |
der Idee, wie eine Aufgabe idealerweise erledigt werden soll. In der | |
Konsequenz neigt dieses Modell zu stark formalen, standardisierten | |
Kriterien im Arbeitsprozess. Das andere Modell orientiert sich am Prozess | |
der Herstellung: Wie erreiche ich etwas am besten? | |
Im modernen Kapitalismus | |
favorisiert meiner Erfahrung nach vor allem der Technologiesektor | |
formalisierte Modelle. Es geht darum, zu funktionieren. Sobald man sich | |
aber auf eine Verbesserung des Herstellungsprozesses konzentriert, kommt | |
der Mensch ins Spiel, mit all seinen Schwierigkeiten. Das war ja bereits | |
Platons Dilemma: Man hat eine ideale Vorstellung davon, wie etwas gemacht | |
werden soll, andererseits handeln menschliche Wesen, die keine idealen | |
Kreaturen sind. | |
In gewisser Weise hat sich das Dilemma im globalen Kapitalismus aber doch | |
verschärft: Niemand hat mehr das Gefühl, Raum und Zeit zur Verfügung zu | |
haben, um Erfahrungswerte zu sammeln. | |
Das stimmt mit Sicherheit, auch Fehler dürfen nicht mehr geschehen. Dabei | |
sind Scheitern oder Fehler notwendige Voraussetzungen für Verbesserung. In | |
einem Sozialstaat, wo Arbeitnehmer nicht fristlos gekündigt werden können, | |
bleibt dafür mehr Spielraum, auch wenn er nicht zwangsläufig produktiv | |
genutzt wird. Das kapitalistische Modell hangelt sich von Erfolg zu Erfolg | |
- ein sehr unrealistisches Modell. | |
Warum bloß setzt es sich durch? | |
Darauf habe ich eine nur sehr allgemeine Antwort als These, die in Ihren | |
Augen paradox klingen mag: Wenn wir wirklich an eine Gesellschaft glauben | |
würden, in der Fertigkeiten und handwerkliches Können Werte wären, dann | |
würden wir dem Prozess, diese zu erwerben, mehr Raum gewähren. Ich meine | |
auch die Freiheit, Fehler machen zu dürfen. | |
Im Kapitalismus, der auf Effizienz setzt, eine Illusion, nicht wahr? | |
Keineswegs. Dass dies auch in kapitalistischen Gesellschaften möglich ist, | |
zeigt das Beispiel japanischer Autofirmen. Wenn dort im Produktionsprozess | |
ein Fehler auftritt, kommen die Arbeitsteams zusammen, beginnen zu | |
diskutieren und lösen das Problem gemeinsam. Im europäischen oder | |
amerikanischen Westen ist das eine sehr ungewöhnliche Haltung, vor allem | |
hier in Großbritannien ist sie völlig ausgestorben. Wenn etwas nicht | |
funktioniert, wird einfach ein neues Team rekrutiert. Mit | |
Kurzzeitarbeitsverträgen ist das auch kein Problem. | |
Wo wird das enden? Mit einem Kollaps des Systems? | |
Tja, wer weiß das schon, vielleicht. Ich glaube eher, dass eine veränderte | |
kulturelle Mentalität weiterführen würde und wird. Ich gebe Ihnen ein | |
weiteres Beispiel: Warum hat sich gerade in Indien der Markt für Callcenter | |
so gut entwickelt? | |
Weil Indien ein Markt für billige Arbeitskraft ist? | |
Nein. Einer der Gründe ist, dass dort sehr viel Wert auf die Ausbildung der | |
Beschäftigten gelegt wurde. Sorgfältig sind sie darauf vorbereitet worden, | |
was sie konkret am Telefon leisten können und sollen. All die Fragen, die | |
sie verstehen müssen. Und zwar nicht mit einem kleinen Büchlein mit | |
Standardantworten. Stattdessen wurde ihr Englisch in Sprachkursen | |
verbessert, sie erhielten eine Kulturschulung über England und die USA. Das | |
ist eine Investition in Fertigkeiten, die auf längere Sicht angelegt ist. | |
Und sie bringt Gewinn. | |
Wie könnte man denn innerhalb unserer Kultur die Wertschätzung von Qualität | |
erhöhen? Indem Produkte einfach verteuert werden, so wie Lebensmittel mit | |
dem Bio-Appeal? | |
Das ist eine Möglichkeit. Ich denke aber, dass der indische oder auch der | |
japanische Weg ertragreicher ist, also eine Verschiebung von einem | |
kurzfristigen Funktionsdenken zu einer längerfristig angelegten | |
Wertschätzung von Fertigkeiten. | |
Das gilt für die Ökonomie allein? | |
Und erst recht für die Kunst! | |
Weshalb vermissen Sie in ihr Fertigkeiten? | |
Insbesondere in der visuellen Kunst hat handwerkliches Können stark an | |
Stellenwert verloren. Alles, was zählt, ist die moderne Kunst, sie allein | |
gilt als wahre Kunstform. Die Künstler wiederum entwickeln ihren | |
persönlichen Stil nur, indem sie sich am Markt orientieren. Und der fragt | |
immer nur das Andere, das Neue nach. Kein Künstler kann mehr seinen eigenen | |
Stil entwickeln, er muss Moden folgen. Aber diese meine Position gilt | |
wahrscheinlich als eben unmodisch. Leider! | |
In Deutschland könnte Ihnen zumindest Kulturkonservatismus vorgeworfen | |
werden. | |
Aber auch nur von visuellen Künstlern, von einem Musiker würden Sie das nie | |
zu hören bekommen. Die Konzentration auf Ausdruck in Opposition zur | |
Technik, die gibt es in der Musik nicht. | |
In dieser Sparte existiert auch kein Markt wie in der Kunst, in dem | |
astronomische Summen für einzelne Werke gezahlt werden. Also wieder ein | |
Problem, das der Kapitalismus verursacht? | |
Ja, das ist der Grund. Erfahrungswerte zu sammeln, seine Hände zu üben, | |
diese traditionelle Herangehensweise | |
ein Kontinuum zu entwickeln, statt Moden hinterherhecheln zu müssen | |
all dies zählt am Markt nichts. Für Künstler ist es aber sehr destruktiv, | |
diesen Dialog zwischen der Entwicklung von Gewohnheiten, der Erfahrung und | |
der Selbstreflexion aus den Augen zu verlieren. In gewisser Weise trifft | |
das ja auch auf Autoren zu. | |
Auf Sie doch nicht! | |
Die Nische für meine Arbeit ist auch klein geworden, das muss ich sagen. | |
Ihre Bücher sind doch sehr erfolgreich, Sie als Person ein global beliebter | |
Debattierer? | |
Ich mache dennoch die Erfahrung, dass es kaum mehr eine Öffentlichkeit für | |
essayistisches Schreiben gibt. Heute sind Verleger am Verkauf interessiert, | |
worunter vor allem junge Intellektuelle leiden. Sie bekommen kaum mehr | |
Aufmerksamkeit. Aber ich denke, da unterscheiden sich England und | |
Deutschland auch sehr. | |
Glauben Sie? | |
Ja, in Deutschland gibt es eine sehr viel intellektuellere Öffentlichkeit. | |
Nun ja, in England existiert keine Feuilletonkultur, aber ist das ein | |
Nachteil? | |
Das im Speziellen ist ein britisches Problem, das seine eigene Verrücktheit | |
in sich birgt. Allgemeiner gefasst, stelle ich fest, dass die Qualität als | |
Wert auch beim Schreiben an den Rand gedrängt wurde. Wie man sein | |
Schreibhandwerk stetig verbessert, ist doch irrelevant für einen | |
Schlagzeilenmacher, der dem Tod von Lady Diana nachjagt. Ganz abgesehen | |
davon, dass Sprache selbst ein Handwerk ist, das uns behilflich ist, andere | |
Handwerke zu lernen und Probleme zu lösen. Qualität in diesem Sinne ist | |
marginalisiert. | |
Man kann nicht mit hohem Anspruch schreiben und populär sein? | |
Die Frage ist doch, ob das wirklich gutes Handwerk ist. Ist Adorno ein | |
guter Handwerker? Für mich nicht. | |
Da müssen Sie selbst lachen! Vielleicht wollte er kein guter, populärer | |
Handwerker sein? | |
Ja, selbstverständlich, er ist ein sehr besonderer Fall. Sehr kompliziert, | |
nicht wahr? Haben Sie jemals seine Musik gehört? Ich habe sie gespielt | |
Und? | |
Grauenhaft romantisch! Ein Klischee reiht sich an das nächste. Die Musik | |
klingt wie Alban Berg, ist aber nicht so gut. Aber das nur am Rande. Als | |
Autor ist Adorno ein sehr schwacher Handwerker - bis auf "Minima Moralia". | |
Kein Buch, das Freude macht, aber eines, in dem jemand endlich den Akt des | |
Schreibens ernst nimmt. | |
Wie erklären Sie sich das? Bei Adorno war es mit Sicherheit nicht der | |
Kapitalismus, der ihn das Handwerk vernachlässigen ließ, oder? | |
Bei ihm handelt es sich um eine außerordentlich romantische Figur, die eher | |
im 19. statt im 20. Jahrhundert verankert ist. Trotz all seiner Kritik an | |
Authentizität hat er sich völlig dem Modell der Innerlichkeit verschrieben. | |
Deshalb, denke ich, hat er auch Strawinsky so verachtet, Strawinsky ist der | |
ultimative musikalische Handwerker. Etwas in Adorno muss dagegen rebelliert | |
haben, es wirkte kalt auf ihn, er vermisste das innere Drama, auf das man | |
sich gemäß der romantischen Weltsicht beziehen muss. Seine Schriften zur | |
Musik handeln nur davon. Ich denke viel über ihn nach, weil er der | |
Soziologe ist, dessen Biografie meiner am nächsten ist. Philosophisch | |
entspringt mein Buch über Handwerk jedoch dem Pragmatismus, der zu meinem | |
Erstaunen nun auch in Deutschland gedeiht - nach all den Dramen des letzten | |
Jahrhunderts. | |
Finden Sie? Er sprießt aber doch eher sehr zart. | |
Ich glaube, dem liegt das völlig andere Verständnis von Subjektivität | |
zugrunde. Der Pragmatismus begreift sie nicht als etwas Individualisiertes, | |
sondern bettet sie ein in konkrete Praxis, die nicht nur von einem | |
Individuum gestaltet wird. Man hat Gefühle, aber diese Gefühle haben einen | |
objektiven Rahmen. Wenn Sie so wollen, ist die Bezugsgröße die Außenwelt, | |
nicht die Innenwelt. Ein großartiger Cellolehrer sagte einmal zu mir: | |
"Wissen Sie, mich interessiert nicht, welche Gefühle Beethovens Musik in | |
Ihnen weckt, mich interessieren Beethovens Gefühle." Philosophisch gesehen | |
ist das ein sehr pragmatischer Ansatz. | |
Dann müssen Sie ein Fan von Nikolaus Harnoncourt sein, dem österreichischen | |
Dirigenten. | |
Ich liebe ihn. Wie kommen Sie darauf? | |
Weil er versucht, die Musik genau so wiederzugeben, wie sie in ihrer | |
Entstehungszeit gespielt wurde. Er modernisiert nicht, er passt nichts der | |
Moderne an - dafür setzt er alte Instrumente ein. | |
Das Interessante an ihm ist aber nicht, dass er alte Instrumente einsetzt, | |
sondern dass er in die Gedankenwelt der Musik einzutauchen versucht: Was | |
bedeutet es, diese Musik zu spielen? Anders gesagt: Wenn man Tschaikowsky | |
spielt, dann sollte man Tschaikowsky sein. | |
Woher wissen Sie, wer Tschaikowsky war und was er fühlte? | |
Selbstverständlich kann das niemand wissen. Ich wollte nur den | |
pragmatischen Ansatz verdeutlichen, der besagt, dass man nicht bei sich | |
ist, subjektiv und innerlich, sondern sich der Musik überlässt. Das bringt | |
das viele Üben mit sich, und das ist das Resultat, wenn man sich mit dem | |
Stoff immer wieder auseinandersetzt. Auf eine Art ist dies auch die Essenz | |
dessen, was ich als "Handwerk" beschreibe. | |
Vielleicht sind wir tatsächlich zu deutsch, aber die Wahrnehmung der | |
Außenwelt bleibt doch immer eine subjektive, Objektivität eine | |
Konstruktion? | |
Aber natürlich existiert Objektivität. Sie ist nur nicht definiert als der | |
eine richtige Weg, Dinge zu tun oder zu interpretieren. Unser Verhältnis zu | |
ihr darf man nicht als ein besitzergreifendes verstehen, man orientiert | |
sich an kollektiven Erfahrungswerten. Die Frage dabei ist nicht, welche | |
Gefühle ich für diese Welt empfinde, sondern, wie sie beschaffen ist. | |
Um bei der Musik zu bleiben: Manche Kritiker der Schule von Nikolaus | |
Harnoncourt meinen, seine Interpretationen seien allzu perfekt. | |
Ja, ich weiß, ich kenne diese Einwände. Ich habe nie verstanden, was sie | |
bedeuten sollen. Das führt zurück zu der Frage nach Autoritäten. | |
Bitte sehr! | |
Man kann eine Vorstellung entwickeln von dem einen richtigen Weg, Musik zu | |
spielen. Dann ist sie perfekt. Ich glaube aber nicht, dass Harnoncourt | |
einen idealen Klang im Kopf hat, er arbeitet vielmehr mit dem Material und | |
den Musikern. Dieser Ansatz beinhaltet trotzdem eine Vorstellung, wie etwas | |
gespielt werden sollte, aber es wird im Übungsprozess ausgehandelt. Das ist | |
der Schlüssel. Deshalb achtet Harnoncourt etwa bei seinen Aufführungen | |
sensibel darauf, welche Musiker er einsetzt, weil er weiß, was jeder | |
individuell in die Gruppe einbringen kann. Ein Prinzip übrigens, das man | |
nicht nur in der künstlerischen Welt finden kann. | |
Wo denn noch? | |
Nehmen Sie Software- oder Computerfirmen. Bei meinen Recherchen in Silicon | |
Valley habe ich herausgefunden, dass die erfolgreichen Unternehmen sehr | |
genau darauf geachtet haben, wie die Arbeitsteams zusammengesetzt sind. | |
Auch wenn wir denken, dass dort Nerds, Individualisten abstrakte Codes und | |
Programme entwickeln. Viele der Ingenieure hatten zum Beispiel kleine | |
Kinder, sie konnten daher nicht in dem regulären Arbeitszyklus von achtzehn | |
Stunden pro Tag arbeiten. Aber auch das haben die guten Firmen bei der | |
Zusammenstellung der Teams berücksichtigt. Und nicht etwa aus | |
Wohltätigkeit, nein: Sie sind an einem objektiv guten Ergebnis | |
interessiert, und dafür muss man den Arbeitsprozess gut organisieren. Das | |
setzt ein völlig anderes Verständnis von Gesellschaft voraus als das | |
funktionale Setzen von Standards. | |
In Ihrem Buch geben Sie ein weiteres Beispiel dafür, dass die Art, wie wir | |
Dinge herstellen, etwas darüber aussagt, wie und was wir sind: das des | |
Kochens. Liegt das daran, dass in bestimmten Kreisen wieder mehr Wert aufs | |
Kochen gelegt wird? | |
Nicht so sehr - obwohl ich diese Entwicklung großartig finde; ich koche | |
selbst sehr gerne. Was mich dabei interessiert hat, war wiederum mehr die | |
Frage, wie Menschen ihre Fertigkeiten verbessern und welchen Stellenwert | |
Sprache dabei hat, vor allem wenn es um physische Fertigkeiten geht. Um | |
dies zu veranschaulichen, habe ich ein zugegebenermaßen extremes Beispiel | |
ausgewählt: wie man die Knochen eines Huhnes auslöst. | |
Ein leidiges Problem! | |
In der Tat. Beim Vergleich von drei unterschiedlichen Rezeptanleitungen | |
wird sehr schnell deutlich, dass diejenigen nutzlos sind, die den Vorgang | |
in Formalsprache beschreiben. Sie kommunizieren nicht mit dem Menschen, für | |
den sie verfasst sind. Je ausdrucksstärker die Sprache ist, desto besser | |
kann er eine Verbindung herstellen zwischen dem Gehirn und seinen Händen, | |
die die Arbeit erledigen sollen. Der Zusammenhang zwischen Fertigkeit und | |
Vorstellung wird so oft negiert. Sie kennen das Problem vielleicht, wenn | |
Sie die Bedienungsanleitung für Ihren Computer gelesen haben. Oft sind | |
solche Anleitungen aus technischer Sicht perfekt verfasst, aber völlig | |
wertlos für einen Nutzer, der kein Ingenieur ist. | |
Ist das ein Grund, weshalb Apple so erfolgreich ist? | |
Definitiv ja. Die Ingenieure und Softwareentwickler haben sich in ihre | |
Kunden hineinversetzt, die eben zunächst nicht wissen, wie so ein Computer | |
bedient wird. Das erfordert wiederum eine große Fertigkeit der Techniker. | |
Dass es dennoch so lange gedauert hat - eigentlich bis zum iPod -, bis | |
Apple auf dem Massenmarkt erfolgreich war, sagt wiederum viel über den | |
Kapitalismus aus: Handwerklich brillant gefertigte Produkte bleiben oftmals | |
in einer Nische, weil das System Qualität nicht als privilegierten Wert | |
erkennt. | |
Der Beste gewinnt eben nicht? | |
Nein, Microsoft ist ein gutes Beispiel - wenn Sie das schreiben, werden Sie | |
übrigens verklagt, die sind nicht so glücklich darüber. | |
Bietet Ikea, ein Massenmarktunternehmen, annehmbare Qualität? | |
Selbstverständlich. | |
Sie mögen Ikea? | |
Na klar. | |
Ist Ihnen das peinlich - oder warum lachen Sie? | |
Nein, ich habe sogar Möbel von Ikea. | |
Wo haben Sie die denn versteckt? | |
Im Schlafzimmer, Ikea hat sehr gute Betten. Was das Unternehmen angeht, so | |
hat es, inspiriert von Bauhaus, etwas Ähnliches geschafft wie Apple: die | |
Kluft zwischen Produzenten und Konsumenten zu verkleinern. Dafür brauchte | |
es handwerkliches Können. | |
In den nächsten Bänden Ihrer Trilogie wollen Sie sich weniger mit | |
handfesten materiellen Dingen beschäftigen als mit Politik, Religion und | |
Umwelt. Welche Rolle spielt dort noch handwerkliches Können? | |
Im Umweltbereich wird es mehr und mehr um die Frage gehen, wie wir | |
umweltfreundlichere Produkte herstellen und wie wir Probleme wie das der | |
schrumpfenden Städte architektonisch lösen. Was die Politik angeht, | |
interessiert mich das Handwerk, das in politische Entscheidungen einfließt. | |
Die Frage wird sein, wie Menschen in Machtpositionen gute Arbeit leisten, | |
auch im Militär oder in Kirchen. Vor allem in der Politik, glaube ich, | |
kommt man nicht sehr weit, wenn man ein ideales, perfektes Ergebnis | |
anstrebt. Aber viele Politiker, insbesondere in den USA, wo Wahlen immer | |
mehr zu einem Personalityshow werden, sind leider sehr schlechte | |
Staatsmänner. | |
Was uns zum politischen Ereignis dieses Jahres bringt: Was ist mit Hillary | |
Clinton, der demokratischen Präsidentschaftskandidatin? | |
Sie ist eine fantastische Handwerkerin, aber nicht sehr gut in der | |
Außendarstellung, auf der Bühne. | |
Wird sie die Vorwahlen der Demokraten gewinnen? | |
Ich glaube nicht. Die Mehrheit der Amerikaner will immer noch mehr Bush. | |
Jemanden, der nett ist, der sie nicht mit Problemen konfrontiert - woran ja | |
auch Al Gore gescheitert ist. | |
Würden Sie Clinton wählen? | |
Selbstverständlich, obwohl ich persönlich Barack Obama vorziehe. Er ist | |
sehr intelligent. Dennoch glaube ich nicht, dass die amerikanische | |
Öffentlichkeit bereit ist, einen Schwarzen zu wählen, der noch dazu längere | |
Zeit in einem islamischen Land gelebt hat. | |
SUSANNE LANG, 31, taz-zwei-Ressortleiterin, ist Gaststipendiatin beim | |
britischen Guardian; JAN FEDDERSEN, 50, ist taz.mag-Redakteur. Sie trafen | |
Richard Sennett in London | |
6 Jan 2008 | |
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Musik | |
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