# taz.de -- Berliner Jugendliche specken ab: Der Kampf der Pfundskinder | |
> Drei Mal die Woche Sport, Ernährungsberatung und ärztliche Kontrolle - so | |
> will ein Berliner Modellprojekt Kindern und Jugendlichen beim Abnehmen | |
> helfen. Die Bilanz ist durchwachsen. | |
Bild: Dick sein als Teenager? Schwierig genug. Noch härter ist es, abzunehmen. | |
Ein Jahr und eine kaputte Ehe später, steht der Vater von Tobias* zwischen | |
lauter Umzugskartons im Wohnungsflur und sagt ins Telefon: Ich esse keine | |
Wurst mehr zum Frühstück. 30 Kilo hat er abgenommen innerhalb eines Jahres. | |
Und ein solcher Gewichtsverlust sei ja schon mal ein Riesenerfolg für das | |
Projekt, findet er. Tobias' Vater hat sein Leben neu geordnet. Dann ruft er | |
seinen Sohn ans Telefon. | |
Es gab eine Zeit, da hing der 13-jährige Tobias aus Berlin-Kreuzberg jeden | |
Nachmittag vorm Computer und spielte World of Warcraft. Man kann also | |
sagen, er war ein ziemlich gewöhnlicher deutscher Teenager. Wenn Tobias in | |
seinem dunklen Zimmer Hunger bekam, stopfte er sich ein paar Chips rein. | |
Wenn er etwas anderes wollte, machte er sich auf zum Supermarktbäcker. Er | |
war ein bisschen träge und ein bisschen dick. In Sport hatte er eine vier. | |
Und es sah nicht so aus, als würde sich daran so schnell etwas ändern. | |
Dann fing Tobias im letzten Jahr bei den Pfundskindern an, einem Projekt | |
für übergewichtige Kinder, Jugendliche und deren Eltern. Weil seine Mutter | |
das so wollte, und weil Tobias ein ruhiger Sohn ist - keiner, der die | |
Widerstände sucht. | |
Tobias begann, mit zwei Mädchen und drei anderen Jungs das ganze Programm | |
zu durchlaufen. Sie waren die ersten, die bei diesem Modellprojekt | |
mitmachten, einer Kombination aus Sport, psychosozialer Schulung, | |
Ernährungsberatung und ärztlicher Kontrolle, zwei bis drei Termine jede | |
Woche: Tobias stellte sich auf die Laufbänder im Fitnessstudio und lies | |
seichte Musik aus Deckenlautsprechern auf sich herunterregnen. Er hörte | |
sich die Essregeln der gemütlichen Frau aus dem Bezirksamt an. Er machte | |
bei der Wassergymnastik mit, die jeden zweiten Freitag in einem weiten | |
kahlen Becken stattfand. Er nahm ein paar Pfund ab, nicht viel. | |
Sein schlaksiger Sozialtherapeut, zu dem er immer mit der U-Bahn fuhr, | |
erklärte Tobias, dass Körperfett manchen Menschen als Panzer dient. Ein | |
anderes Mal bastelten sie zusammen aus Zeitschriftenschnipseln eine | |
Ernährungspyramide für das Pfundskinder-Sommerfest. Die älteren aus der | |
Gruppe gaben grinsend mit ihren Ferienliebschaften an, und Tobias klebte | |
Abbildungen von Gurken und Tomaten auf ein Stück Pappe. Er rechnete aus, | |
wieviel Zuckerwürfel in einem Glas Marmelade stecken, und stellte sich beim | |
Arzt auf die Waage. Am Ende des Jahres gab es noch eine Weihnachtsfeier. Da | |
drängelten sie sich alle gemeinsam in die schmale Küche des | |
Pfundskinder-Büros um den Backofen herum und versuchten, möglichst Fett- | |
und Zuckerfreie Kekse zu fabrizieren. Eine laute Ausgelassenheit flog durch | |
den Raum. Tobias' Vater war da schon ziemlich dünn geworden. | |
Das ist alles schon eine Weile her, die Gruppe trifft sich inzwischen nur | |
noch zur Nachbetreuung alle paar Monate. Heute erzählt Tobias von der Drei | |
im Zeugnis in Sport, und dass er morgens nicht mehr den Bus zur Schule | |
nimmt, sondern mit dem Rad fährt. Außerdem spiele er neuerdings nachmittags | |
immer Fußball mit Freunden im Park. | |
Fußball und Frühstück ohne Wurst sind keine Sensationsdiät, aber vielleicht | |
so etwas wie ein Anfang. Sie sind das, was die Projektleiterin der | |
Pfundskinder, die Diplompädagogin Kerstin Funk fordert: eine | |
Lebensstilveränderung bei den Jugendlichen und Eltern. Das klingt sehr | |
schön und auch sehr einfach. | |
Tatsächlich ist es eine ziemlich schwierige Angelegenheit: Die meisten | |
haben als dicke Kleinkinder angefangen - und sind das Problem seither nie | |
losgeworden. Die Eltern haben Diäten ausprobiert, Schokolade verboten, die | |
Mutter des 14-jährigen Oliver hatte einmal sogar für mehrere Wochen einen | |
Ernährungscoach engagiert - es halft nichts. Das Pfundskinder-Programm ist | |
nur das neueste Experiment im lange anhaltenden Kampf gegen das | |
Übergewicht. | |
Und die Sache ist mühsam: | |
An einem warmen Freitag im Juni steht die Sportwissenschaftlerin Silke | |
Hanefeld in der schlechten Luft des Fitnessstudios und stellt fest: Alles, | |
was unbequem ist, versuchen die Jugendlichen zu umgehen. Sie sagt das, weil | |
an diesem Tag wieder nur zwei Jungs erschienen sind. Fast nie passiert es, | |
dass alle aus der Gruppe da sind. Besonders wenn Sport dran ist. Eine | |
Mutter hat ihre Tochter wegen Bauchschmerzen entschuldigt, ein Mädchen | |
sagte per Handy-Anruf ab: Das Taxi, das sie bringen sollte, sei abgesoffen. | |
Wo die anderen zwei stecken, weiß keiner. | |
Das Projekt dauert zu diesem Zeitpunkt schon fast ein halbes Jahr. Silke | |
Hanefeld schaut gegen die gelb gestrichene Wand des Fitnessstudios und | |
knurrt den düsteren Satz: Es ist noch keine richtige Entwicklung sichtbar. | |
Auch wenn das Pfundskinder-Programm Experten als Musterprojekt gilt wegen | |
der vielen regelmäßigen Treffen, wegen der Verknüpfung von Bewegung, | |
psychosozialer Betreuung und Ernährungslehre, wegen der Miteinbeziehung der | |
Eltern - es gibt doch häufig Rückschläge: Zum Beispiel als die | |
Sportwissenschaftlerin Hanefeld beim Gruppenausflug drei Teilnehmer | |
erwischt, die sich an der Tankstelle mit Bergen von Süßigkeiten für die | |
Busfahrt eindecken. Oder die vielen Male, wo Hanefeld mit einem einzigen | |
Teilnehmer in der leeren Turnhalle vergeblich auf die anderen wartet. Oder | |
den Termin, als Karims Mutter erzählt: Mein Sohn stopft sich voll, er kann | |
einfach nicht alleine aufhören mit dem Essen. Und das sind dann die | |
Momente, in denen die Begeisterung für die gute Sache doch sehr ausgeknipst | |
scheint. | |
Das sind die Momente, wo Projektleiterin Funk mal wieder mit den Eltern | |
reden muss. | |
An einem Mittwoch sitzen dann zum Beispiel vier schlecht gelaunte Mütter | |
mit der Projektleiterin in einem schmucklosen Raum in Berlin-Mitte. Die | |
Unzufriedenheit hängt über den Frauen wie grauer Klebstoff. Es sind Mütter, | |
die in Krankenhäusern und Call-Centern Schichten schieben, sie können sich | |
keine lange Ursachenforschung leisten, sie haben zu viel zu tun. Bei | |
manchen ist der Mann weg, zu Hause wartet nur die mit Postern behängte, | |
geschlossene Zimmertür eines pubertierenden Teenagers. Es sind Mütter, die | |
zur Begrüßung sagen: Heute sind bei uns wieder die Fetzen geflogen. | |
Und nachdem Kerstin Funk erneut die regelmäßige Teilnahme angemahnt hat, | |
schimpft Olivers Mutter dann auch gleich los: Die ganze psychische Schiene | |
hier in dem Projekt liegt uns nicht. Weil wir diese Probleme nicht haben. | |
Oliver hat auf keinen Fall eine Essstörung. | |
Die Projektleiterin lächelt schief. Sie hat es schon oft erklärt, sie | |
erklärt es noch einmal: Sobald Essen genutzt wird, um irgendetwas zu | |
kompensieren und nicht nur um satt zu werden, läuft was falsch. Dann ist | |
das kein richtiger Umgang mit dem Essen. Die aufgescheuchte Mutter guckt | |
böse. Manchmal wirkt es, als hätten sich die Mütter vom Trotz ihrer | |
Teenager anstecken lassen. | |
Überhaupt die Eltern. Es gibt bei den Pfundskindern Eltern, die sich | |
Fitnessgeräte in die Wohnung stellen und ihre eigene Ernährung umstellen | |
wie der Vater von Tobias und die Mutter von Karim. Es gibt Familien, die | |
wochenlang keine Mahlzeit gemeinsam verbringen, Familien, die nur einmal | |
die Woche Obst essen. Eltern, die die Verpflegung ihrer Kinder ganz den | |
Imbissbuden und Süßwarenherstellern überlassen. Und die Mutter, die, | |
nachdem die Ernährungsberaterin gerade Kalorientabellen aufgemalt hat, | |
immer noch darauf besteht, zum Pfundskinder-Sommerfest einen Kartoffelsalat | |
mit Majonaise mitzubringen. | |
Wenn die Eltern nicht mitziehen, funktioniert es nicht!, glaubt | |
Projektleiterin Funk. Sie sitzt mit einer frisch aufgebrühten Tasse Kaffee | |
an einem Holztisch im Pfundskinder Büro und hat die Unterlagen vor sich. | |
Kerstin Funk ist Pädagogin von Beruf, sie kennt sich aus mit Problemfällen, | |
mit renitenten Eltern und schwierigen Kindern. Aus einem schmale Regal mit | |
Ordnern voller Studien zieht sie die Berichte des Arztes und der | |
Sportwissenschaftlerin heraus, sie sind ziemlich alarmierend: | |
Als der begleitende Arzt und die Sportwissenschaftlerin zu Beginn des | |
Projekts die sechs Kinder und Jugendlichen untersuchten, stellten sie fest: | |
Die Gefahr bestand, dass sie ihr Übergewicht bis ins Erwachsenenalter | |
behalten würden. Alle Pfundskinder kamen bei der geringsten Anstrengung aus | |
der Puste, hatten kaum Kondition, taten sich schwer mit der Koordination | |
ihrer Bewegungen und litten unter Herzklopfen sowie Schweißausbrüchen. Es | |
geht um Kinder und Jugendliche zwischen 9 und 15 Jahren. Unbedingter | |
Handlungsbedarf bestehe, ruft Funk und zieht die Augenbrauen bedrohlich | |
nach oben. | |
Im Dezember waren die meisten von ihnen noch einmal beim Arzt. Tobias hat | |
nicht viel Gewicht verloren, aber er konnte seinen Body-Mass-Index (BMI) | |
immerhin halten, was schon ziemlich gut sei, wie der Arzt sagt. Schließlich | |
ist Tobias noch im Wachstum. Bei den anderen war das Ergebnis ähnlich. | |
Oliver und Filiz konnten ihren BMI sogar reduzieren. Der Arzt und Frau Funk | |
waren zufrieden. Es ist ein Erfolg, der alle Schwierigkeiten in ein | |
milderes Licht taucht. | |
Nicht bei allen ist es allerdings gut gelaufen. Sie sind sechs | |
übergewichtige Jugendliche - aber jeder trägt sein Gewicht für sich allein. | |
Bei der 15-jährigen Ayla haben alle Tipps der Ernährungsberaterin, alle | |
Hinweise auf verstecke Fette und leere Kalorien, alle Federballspiele in | |
der Turnhalle mit Silke Hanefeld nicht funktioniert. Es ist die alte | |
Geschichte von der eigenen Unzulänglichkeit, das tückische Dilemma des | |
falschen Handelns trotz besseren Wissens. Ayla hat nicht abgenommen. | |
Deshalb wollte sie auch nicht zum Arzt. Vielleicht wiegt sie jetzt sogar | |
noch mehr als zu Beginn des Projekts. | |
Wenn man Ayla anruft, meldet sich eine traurige Stimme am Telefon, die | |
sagt: Ich weiß zwar theoretisch, wie das geht mit dem Abnehmen, aber | |
irgendwie kann ich es nicht umsetzen. Mir fehlt der Kick dazu. Momentan bin | |
ich sowieso in einer depressiven Phase. Und für eine angespannte kurze | |
Weile hängt das ganze Unglück eines dicken Teenagers in der Telefonleitung. | |
* alle Namen der Kinder und Jugendlichen geändert | |
11 Jan 2008 | |
## AUTOREN | |
Kirsten Küppers | |
## TAGS | |
Essen | |
Übergewicht | |
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