# taz.de -- Machtübertragung an Hitler: Draußen vorm Fenster | |
> Ilse Kleberger war zwölf Jahre alt, als Hitler am 30. Januar 1933 an die | |
> Macht kam. Ihr Vater war zufrieden. Erst später begriff sie, was da | |
> eigentich passiert war. | |
Bild: Fackelmarsch am Brandenburger Tor: Das Bild entstand später bei Dreharbe… | |
Da er zuvor nicht zu verstehen war, ergreift er noch einmal das Wort. | |
"Dieser Abend", spricht der Mann ins Mikrofon, "war wohl der gewaltigste, | |
den Berlin seit jenem Augusttag 1914 erlebt hat. Hunderttausende und | |
Aberhunderttausende SA, SS, Stahlhelm, Volk und immer wieder Volk strömten | |
vorbei, um den geliebten Führer zu sehen. Strömten herbei, um kundzutun, | |
dass heute ein Wendepunkt in der deutschen Geschichte gekommen ist." | |
Ilse Kleberger erinnert sich noch genau an diese Worte Hermann Görings, des | |
gerade erst ernannten "Reichsministers", wie ihn der Radioreporter am Abend | |
dieses 30. Januar 1933 nennt. Sie erinnert sich auch an die | |
Direktübertragung des Fackelmarschs der SA durchs Brandenburger Tor. Zum | |
Höhepunkt der Berichterstattung hatte sich die Stimme des Reporters beinahe | |
überschlagen: "Hitler ist an das Fenster getreten. Sie können jetzt | |
besonders gut hören, wie die Menge jubelt () über dieses erwachende | |
Deutschland." | |
Zwölf Jahre alt ist Ilse Kleberger, als sie die Radiostimme Görings und am | |
Abend auch die des neuen Reichskanzlers Adolf Hitler hört. Ein junges | |
Mädchen, "viel kindlicher noch als die jungen Menschen heute". Im Gegensatz | |
zu anderen, die den Tag der Machtübernahme voller Bangen erleben, herrscht | |
in der Friedenauer Wohnung der Familie Freude. "Mein Vater war 1914 als | |
17-Jähriger in den Weltkrieg gezogen; bitter enttäuscht über die Niederlage | |
kam er zurück. Nun war Deutschland wieder wer. Mein Vater war begeistert." | |
Es wird ein langer Abend, dem ein langer Tag vorausgegangen war. Am | |
Vormittag hatte der greise Hindenburg Hitler als Reichskanzler vereidigt, | |
am Nachmittag tagte das neue Kabinett, dem mit Hermann Göring und Wilhelm | |
Frick zwei weitere NSDAP-Mitglieder angehörten. Zu den ersten Beschlüssen | |
gehörte, das Demonstrationsverbot rund um das Brandenburger Tor aufzuheben. | |
Ab 19 Uhr strömen sie dann, die SA-Leute mit ihren Fackeln, zuerst durch | |
das Brandenburger Tor, später dann zur Reichskanzlei in der Wilhelmstraße, | |
an der Hitler die Parade abnimmt. "Ich kann gar nicht so viel fressen, wie | |
ich kotzen möchte", ätzt der damals 85-jährige Maler Max Liebermann, der | |
das Spektakel von seinem Atelier am Pariser Platz beobachtete. Joseph | |
Goebbels, Hitlers langjähriger Statthalter in Berlin, spricht zu Millionen | |
Deutschen im Radio: "Es ist für mich nur ergreifend zu sehen, wie in dieser | |
Stadt, in der wir vor sechs Jahren mit einer Handvoll Menschen begonnen | |
haben, wie in dieser Stadt wirklich das ganze Volk aufsteht." | |
Vom Fenster ihrer Wohnung in Friedenau sieht Ilse Kleberger nur einen | |
kleinen Teil des Volkes. Gegenüber rauscht ein Lastkraftwagen heran. | |
Braunhemden steigen ab. Grölen. Ausgelassen feiern sie den Rest dieses | |
Montags im SA-Lokal "Die Ameise". Dann ist der Abend vorbei. Die Geschichte | |
nimmt ihren Lauf. | |
Es hat lange gedauert, bis Ilse Kleberger begriffen hat, was an diesem Tag | |
begann. Sehr lange. Sie versteht nicht, warum dieser Hitler plötzlich die | |
Juden für alle Probleme verantwortlich macht. Auch in ihrer Schule sind | |
viele jüdische Schüler, Mädchen meist. "Viele dieser Mädchen waren bei uns | |
zu Hause zum Kindergeburtstag. Meinen Vater hat es nie gestört." Sogar zu | |
einem jüdischen Kinderarzt sind die Eltern mit der kleinen Ilse gegangen. | |
Doch nicht nur das mit den Juden versteht Ilse Kleberger nicht, auch ihr | |
Vater ist ihr viele Antworten schuldig geblieben. "Wenn er das mit den | |
Juden gewusst hat, warum war er dann für Hitler?" Dass er es gewusst hat, | |
daran zweifelt sie nicht. In der Wohnung in Friedenau stand eine Ausgabe | |
von "Mein Kampf". | |
Ilse Kleberger, das "kindliche Mädchen" von damals, ist heute 86 Jahre alt. | |
Im März wird sie 87. Sie kann zurückblicken auf das, was man ein "langes, | |
erfülltes Leben" nennt. Ihr Beruf war Kinderärztin, ihre Berufung machte | |
sie zur Schriftstellerin. Mehr als 30 Bücher hat sie verfasst, Kinderbücher | |
zumeist. Ihr größter Erfolg "Unsre Oma" wurde in viele Sprachen übersetzt, | |
die "Oma"-Romane brachten es insgesamt auf mehr als fünf Millionen | |
verkaufte Exemplare. Die Olympia-Reiseschreibmaschine, Begleiterin ihres | |
erfüllten Lebens, steht auch heute noch im Arbeitszimmer ihrer Wohnung in | |
Nikolassee. | |
Aber sie wird nicht mehr jeden Tag benutzt. "Wegen der Zeitzeugen", erklärt | |
Ilse Kleberger. Zwei- bis dreimal im Monat hält sie Vorträge, vor Schülern, | |
Reisegruppen aus dem Ausland, bittet Gäste zu sich nach Hause. Warum sie | |
das tut? "Meinem Vater habe ich all diese Fragen nicht stellen können. Nun | |
will ich den jungen Leuten Antwort geben. Sie sollen wissen, was damals | |
passiert ist." | |
Von Ilse Kleberger erfahren sie vor allem, dass es keine Lüge sein muss, | |
wenn jemand sagt: "Das habe ich nicht gewusst." Auch sie hat vieles nicht | |
mit eigenen Augen gesehen. Als die Nazis ernst gemacht haben mit dem, was | |
ihr Führer geschrieben hat, war sie bereits weggezogen. Von den | |
antijüdischen Pogromen in der "Kristallnacht" hat sie in der pommerschen | |
Kleinstadt Schneidemühl erfahren. Dort hatte ihr Vater 1936 eine Anstellung | |
in einem Autohaus gefunden. "In Schneidemühl", erinnert sich Kleberger, | |
"gab es keine Juden." Im Online-Lexikon Wikipedia heißt es hingegen: "160 | |
jüdische Bürger Schneidemühls wurden im Zuge der Judenverfolgungs- und | |
Vernichtungsaktionen im Dritten Reich deportiert und ermordet." | |
Schließlich Tübingen, wo sie nach Beginn des Kriegs mit dem Medizinstudium | |
begann. Ihr Vater, sagt sie heute, habe sie sehr darin bestärkt. | |
"Eigentlich wollte ich Journalistin werden, doch das hat er mir | |
ausgeredet." Das sei zu politisch, waren seine Worte. Lange überlegt Ilse | |
Kleberger, ob der Vater sein einziges Kind vor Unheil bewahren wollte. "Zu | |
der Zeit war ich im Gegensatz zu meinem Vater nicht mehr von Hitler | |
überzeugt." Doch Distanz ist noch kein Widerspruch: Auch im studentischen | |
Milieu der schwäbischen Universitätsstadt hat Kleberger nichts vom | |
Widerstand gegen Hitler mitbekommen. | |
Außerdem gab es anderes, das sie beschäftigte - die vorrückende Rote Armee | |
zum Beispiel. Im Januar 1945 starteten die Sowjetsoldaten die ersten | |
Angriffe auf das zur Festung erklärte Schneidemühl. Klebergs Eltern gelang | |
die Flucht. Gleichzeitig verließ Ilse Tübingen. In Berlin wollte sich die | |
Familie treffen. Mit dabei sollte auch ihre Cousine sein. | |
Was dann geschah, geht Ilse Kleberger nicht leicht von den Lippen. "Als wir | |
gehört haben, dass sich Hitler das Leben genommen hat, waren wir froh." | |
Anders ihr Vater. "Der war deprimiert und wollte sich das Leben nehmen." | |
Nein, ganz so war es nicht. | |
Ilse Kleberger fängt den Satz noch einmal von vorne an. "Mein Vater wollte, | |
dass die ganze Familie mit ihm in den Tod geht. Das haben viele in diesen | |
Tagen so gemacht." Ilse Kleberger blieb am Leben, der Vater auch. Der | |
Hinweis auf das kleine Kind der Cousine habe am Ende den Ausschlag gegeben. | |
Vielleicht hat Ilse Kleberger das, was sie am 30. Januar 1933 am Radio und | |
vom Fenster aus verfolgt hat, erst begriffen, als es nach zwölf langen | |
Jahren vorbei war. Als sie von Auschwitz hörte. Oder als sie in diese Villa | |
in Nikolassee kam, in der sie bis 1977 als Kinderärztin praktizieren | |
sollte. Es war die gleiche Villa, in der einst ein jüdisches Mädchen mit | |
ihren Eltern lebte. Eines der Mädchen, das auch bei den Klebergers zu Hause | |
war. Nun arbeitete in der Villa eine ältere Chirurgin. "Die war in der | |
NSDAP und durfte nicht mehr praktizieren", erinnert sich Ilse Kleberger an | |
den Beginn ihres Berufslebens. "Ich sollte die Praxis übernehmen." | |
Einer der wichtigsten Momente in diesem Leben danach war der, in dem sie | |
die hebräische Übersetzung ihres Bestsellers in den Händen hielt. Und mit | |
ihrem Mann, einem Professor für Augenheilkunde, nach Israel flog. "Das war | |
eine sehr bewegende Reise." In diesem Moment klingt die Stimme von Ilse | |
Kleberger fest und sicher. Eine Stimme, die auch die Schüler bewegen wird, | |
vor denen sie spricht. Als alte Dame, die erklärt, warum man Fragen stellen | |
muss, und warum auch Nichtwissen eine Lüge sein kann. | |
Den Kindern kann sie das - wie die Oma in ihren Romanen - sagen. Ihrem | |
Vater nicht mehr. | |
30 Jan 2008 | |
## AUTOREN | |
Uwe Rada | |
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