| # taz.de -- Neukölln: Ein Sprachrohr für den Kiez | |
| > Vorurteile gegen Neuköllner Jugendliche gibt es viele, sie selbst melden | |
| > sich nur selten zu Wort – wie jetzt im neuen Magazin „Neuköllner | |
| > Kiezblick 44“ . | |
| Bild: Auch das Sprühen von Graffiti konnte man im „Sunshine Inn“ lernen | |
| Als sie am Rednerpult steht, versagt Sabrina L. fast die Stimme. Sie ist es | |
| nicht gewohnt, dass ihr viele Menschen zuhören. Jetzt präsentiert sie die | |
| erste Ausgabe eines Neuköllner Kiezmagazins. Die 22-Jährige hat die Schule | |
| kurz vor dem Abitur abgebrochen und ist Mutter eines fünfjährigen Sohnes. | |
| Damit gehört sie zum „typischen Neuköllner Querschnitt“, sagt | |
| Diplompädagogin Barbara Döring von der „Gesellschaft für berufsbildende | |
| Maßnahmen e. V.“ (GFBM). | |
| Mit dem Magazin Neuköllner Kiezblick 44 verleiht die GFBM Neuköllner | |
| Jugendlichen eine Stimme. „Nicht jeder Neuköllner ist gewaltbereit und in | |
| einer Jugendbande“, sagt Projektleiter Andreas Otremba. Die Sicht von außen | |
| auf Neukölln sei verschoben. Dagegen will er mit dem Kiezblick angehen. Im | |
| Rahmen einer Qualifizierungsmaßnahme produzieren 25 Jugendliche und junge | |
| Erwachsene ihr eigenes Magazin. Finanziert wird die Maßnahme vom Jobcenter | |
| Neukölln und mit Mitteln des Europäischen Sozialfonds. „Die Jugendlichen | |
| hier fragt normalerweise keiner, was sie zu sagen haben“, sagt die zweite | |
| Projektleiterin Karin Stelzl. In der Anfangszeit sei deshalb die Motivation | |
| der Jugendlichen sehr wichtig gewesen. „Plötzlich sollten sie etwas | |
| schreiben. Das haben sich nicht alle sofort getraut.“ | |
| Seit August letzten Jahres hat Stelzl mit den jungen Leuten am Konzept | |
| gefeilt. Die gelernte Mediengestalterin hat viel Zeit für die Einarbeitung | |
| in EDV und Layoutbearbeitung investiert. Der Start war schwierig. „Am | |
| Anfang waren wir nur zu acht“, sagt Stelzl. Doch das Projekt entwickelte | |
| sich zum Erfolgsfall. Mittlerweile existiert eine Warteliste für die | |
| Qualifizierungsmaßnahme. Die erste Ausgabe des Kiezblicks kann sich sehen | |
| lassen. Auf 42 Hochglanzseiten schreiben die Teilnehmer sehr persönlich | |
| über Themen aus ihrer Lebenswelt. „Ich habe über junge Mütter geschrieben, | |
| weil ich selbst eine bin“, erzählt Sabrina L.. Auch über Schuldenprobleme, | |
| Jugendgewalt und den Alltag im Gefängnis berichtet das ungewöhnliche | |
| Magazin. | |
| Für die redaktionelle Arbeit hat sich die GFBM professionelle Unterstützung | |
| geholt. Carina Keil war jahrelang Reporterin bei der Deutschen Welle, bevor | |
| sie im November zum Kiezblick gestoßen ist. „Die Zeitung dient den | |
| Jugendlichen als Sprachrohr“, sagt sie. Das Ziel der meisten Teilnehmer ist | |
| es, im ersten Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Andere wollen ihren | |
| Schulabschluss nachholen. Zu Keils Aufgaben gehört deshalb mehr als die | |
| Leitung einer Redaktion. „Unser Ziel ist die Aktivierung der Teilnehmer“, | |
| sagt sie. Die Jugendlichen sollen lernen, Verantwortung zu übernehmen und | |
| das eigene Verhalten zu hinterfragen. „Im ersten Monat wurde fast nur | |
| gebrüllt“, sagt Keil. Aber die Teilnehmer hätten gelernt, Konflikte anders | |
| zu bewältigen. Auch die Kommunikationsfähigkeit habe sich verbessert. | |
| „Etliche Jugendliche haben während ihrer Schulzeit nur gelernt, sich | |
| zurückzuziehen“, sagt Gabriele Vonnekold (Grüne), Jugendstadträtin von | |
| Neukölln. „Der Kiezblick ist eine sinnvolle Maßnahme, um dieses Verhalten | |
| aufzubrechen.“ Vonnekold lobt das professionelle Layout und die Themenwahl | |
| des Magazins. „Die Redaktion hat sich sehr intensiv mit dem Thema Gewalt | |
| auseinandergesetzt.“ Die eigene Perspektive der Neuköllner Jugendlichen sei | |
| ein wichtiges Gegengewicht zur üblichen Berichterstattung der Medien. Wenn | |
| es nach der GFBM geht, soll der Kiezblick mindestens vierteljährlich | |
| erscheinen. Er liegt in allen öffentlichen Gebäuden in Neukölln aus. Ende | |
| Mai läuft die Finanzierung jedoch zunächst aus. Das Jobcenter muss dann | |
| über eine Verlängerung entscheiden. | |
| Professionelle Journalisten werden die Jugendlichen durch den Kiezblick | |
| nicht. „Uns ist wichtig, dass sie den Blick in die Welt wagen“, sagt | |
| Döring. Für Sabrina L. ist der Kiezblick eine Zwischenstation. Im Sommer | |
| will sie anfangen, ihr Abitur nachzumachen. „Mein Sohn und ich werden dann | |
| zusammen eingeschult.“ | |
| Anmerkung der Redaktion: Auf Wunsch der Gesprächspartnerin wurde sie | |
| nachträglich anonymisiert. | |
| 10 Mar 2008 | |
| ## AUTOREN | |
| Lisa Thormählen | |
| ## TAGS | |
| Berlin-Neukölln | |
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