# taz.de -- Ist das Bürgertum mit sich selbst versöhnt?: Der Wille zur Wieder… | |
> 1968 ist noch immer ein hart umkämpftes Datum - meinen viele. Aber stimmt | |
> das eigentlich noch in Zeiten von Schwarz-Grün? | |
Bild: Alt-Hopper Otto Schily tauchte gern unvermutet aus dem Dunkel der Parteie… | |
Bei der Debatte über 1968 fällt derzeit eine Schieflage ins Auge. Der | |
publizistische Streit über Revolte und die Folgen tobt in unverminderter | |
Härte. Der Deutungshoheit über 1968 wird noch immer enormer Wert | |
beigemessen. Ob die Bewegung damals eher totalitäre oder libertäre Züge | |
trug, ob sie verpuppt deutschnational war oder endlich die Verwestlichung | |
der Adenauer-Republik beförderte, diese Fragen werden 40 Jahre danach wie | |
Glaubensfragen verhandelt. Warum diese Dringlichkeit? | |
Man könnte vermuten, dass hier über Bande die Legitimität von radikalem | |
Protest im Parlamentarismus mit Blick auf 2008 debattiert wird. Doch so ist | |
es nicht. Entschlossenen Verteidigern der 68er, wie Reinhard Mohr oder | |
Peter Schneider, ist die globalisierungskritische Bewegung jedenfalls | |
ziemlich gleichgültig. Die Hitzigkeit der Debatte scheint schlichtere | |
Gründe zu haben: Es geht um Biografien, um die Verteidigung von | |
Identitäten. Das ist nicht verwunderlich, weil viele 68er-Interpreten in | |
einer Doppelrolle agieren. Sie deuten, was sie selbst taten. Gerd Koenen | |
und Peter Schneider, Götz Aly und Wolfgang Kraushaar waren auch Aktivisten | |
der Revolte und der Bewegungen, die ihr nachfolgten. Die aktuelle | |
68er-Literatur hat einen Zug ins Narzisstische und aufs eigene Selbst | |
Fixierte. | |
Bei Peter Schneider wird diese Neigung zum Programm: "Rebellion und Wahn" | |
ist eine Autobiografie, in der sich der 68-Jährige über seine Tagebücher | |
als 28-Jähriger beugt. Das späte Glück, die eigenen Tagebücher, den | |
Liebesschmerz und die postpubertäre Prosa, dem Publikum Jahrzehnte später | |
als hochinteressante Zeitdokumente vorführen zu dürfen, ist wohl nur 68ern | |
gegeben. Der Text schwankt zwischen Plauderton und Analyse. Manches liest | |
sich amüsant, wie etwa die Beschreibung des Geizes von Günter Grass, mit | |
dem Schneider 1966 Skat spielt. Anderes, vor allem die ausgiebigen | |
erotischen Details, ist eher verzichtbar. Der Autor ist mitunter abgestoßen | |
von dem todunglücklichen, radikalen, vor allem sehr von sich überzeugten | |
jungen Aktivisten - aber auch sehr fasziniert. | |
Schneiders Urteile über seine Genossen und die Wirkungen der Revolte | |
bleiben erfreulich ausgewogen, jedenfalls fern von der Verachtung, die Götz | |
Alys Thesen befeuert. "Die wichtigste Errungenschaft der 68er in | |
Deutschland bleibt, dass sie massenhaft mit der Kultur des Gehorsams | |
gebrochen hat", lautet das Resümee. Ja, so ist es wohl. | |
Das Problem von "Rebellion und Wahn" ist, dass die erzählerische | |
Konstruktion, die Spannung zwischen dem bald 70-jährigen und den Texten des | |
Endzwanzigers, nur zu Beginn trägt. Danach verschwimmt der fremde, | |
staunende Blick auf das frühere Ich. Nicht Selbstdistanz ist der rote Faden | |
des Buches, sondern die (vielleicht generationstypische) Neigung zu | |
ausschweifender Selbstüberschätzung. | |
Wolfgang Kraushaar darf man sich als Antipoden von Schneiders | |
Ich-zentrierter Perspektive vorstellen. Er ist der Chronist der | |
bundesdeutschen Protestbewegung. Seine Verdienste liegen in der genauen | |
Darstellung, der akribischen Recherche - etwa des linksradikalen Anschlags | |
auf das Jüdische Gemeindehaus am 9. November 1969. Kraushaar hat geholfen, | |
die Nachtseite der Revolte bloßzulegen, ihre Hybris und auch den | |
antisemitischen Unterton, der freilich nur in Nebenarmen der Bewegung zur | |
Geltung kam. Mit seinem Porträt von Rudi Dutschke als Vordenker der RAF hat | |
Kraushaar allerdings zuletzt renegatenhaft einer üblen Übertreibung das | |
Wort geredet. | |
"Achtundsechzig - Eine Bilanz" ist in Kraushaars umfangreichem Oeuvre über | |
die Protestbewegung ein Nebenwerk, eine Zusammenfassung, die auch viel | |
Bekanntes wiederholt. Recht frisch klingt immerhin die These, dass die APO | |
1968/69 den Einzug der NPD in den Bundestag verhinderte - und so Willy | |
Brandts Reformregierung erst möglich machte. Kraushaar verengt den Blick | |
auch nicht, wie derzeit in Mode, auf die Textproduktion des inneren Kerns | |
des deutschen Linksradikalismus. Der Prolog gilt der US-Hippiebewegung, das | |
Augenmerk auch dem Lebensweltlichen - von Kinderläden bis zu Psychosekten. | |
Einige 68er, etwa Günter Maschke, Horst Mahler und Bernd Rabehl, sind nach | |
weit rechts außen abgedriftet. Kraushaar ordnet ihre Rolle und ihren | |
Antiamerikanismus und Antiparlamentarismus mit Augenmaß ein, ohne dafür | |
gleich die ganze Bewegung in Haftung zu nehmen. Allerdings fehlt dem Buch | |
letztlich ein einleuchtender Rahmen, die deutende Richtung. Und eine neue | |
These. | |
Dieser Befund gilt noch mehr für Reinhard Mohrs flott geschriebenen Essay | |
"Der diskrete Charme der Rebellion". Mohr schaut noch mal verwundert auf | |
"die verstiegene Grammatik" des linken Theroriesounds, den "naiven Glauben | |
an die Schrift", in der sich eine Art Erlösungsversprechen verbarg. Er | |
lässt noch einmal die Eskalation nach dem 2. Juni 1967 spürbar werden, nach | |
dem sich eine vom Krieg traumatisierte Mehrheitsgesellschaft und die nach | |
Freiheit strebende studentische Generation unversöhnlich gegenüberstanden. | |
Man ist geneigt, fast allen Beschreibungen und Urteilen nickend | |
zuzustimmen: Ja, so war es. Ja, die Revolte war berechtigt, aber etwas | |
irre. Nur all das ist schon oft gesagt worden, besser, schärfer und klarer | |
aufgebaut. | |
Ist dieser Wille zur Wiederholung bloß ein Nebeneffekt der Gedenkroutine, | |
dass 40 Jahre nach 1968 halt Bücher geschrieben werden, auch wenn keine | |
neue Quellen und Ideen zur Hand sind? Oder deutet sich darin eine | |
Erschöpfung des ideologisch aufgeladenen Streits an, eine Art | |
Ermüdungsbruch? | |
Dem Dilemma, dass grundlegend Neues nicht zu erzählen ist, hat Norbert Frei | |
sich am elegantesten entzogen. Frei, bislang als NS-Historiker | |
hervorgetreten, meidet allzu ausgetretene Pfade und wählt für seine | |
Erzählung zwei klare und einleuchtende Perspektiven: 1968 als globale | |
Jugendrevolte und, für Deutschland, die NS-Vergangenheit als prägende | |
Besonderheit. Das klingt selbstverständlich, ist es aber nicht. Denn die | |
Revolte wird hierzulande in egozentrischer Verengung oft nur als deutscher | |
Familienstreit wahrgenommen. Wer sich vor Augen führt, was 1968 in Mexiko, | |
Detroit, Paris, Warschau und Tokio los war, begreift, dass Berlin damals | |
keineswegs der Nabel der Welt war. | |
Frei zeigt in "1968" plausibel und in dankenswerter Kürze, dass die | |
Aktionsformen der Revolte ein Import aus der Bürgerrechtsbewegung der USA | |
waren und zwei Themen nahezu weltweit die Rebellion beflügelten: der | |
Zustand der Universitäten und der Vietnamkrieg. Militant wurde die | |
Rebellion, wo die staatlichen Institutionen unentschlossen zwischen | |
drakonischen Strafen und halbherzigen Zugeständnissen schwankten. Anders | |
war es in den Niederlanden. Dort verhinderten, so Frei, "die ausgeprägte | |
Toleranz der Gesellschaft und die erstaunliche Gelassenheit der staatlichen | |
Ordnungsmächte" die Radikalisierung und Zementierung des Konflikts. Ein | |
paar Jahre später saßen die Rebellen schon im Stadtrat. | |
In Deutschland war das Klima zwischen den Generationen hingegen durch die | |
NS-Zeit und deren Beschweigen vergiftet. Hannah Arendt schrieb 1961, eine | |
halbes Jahrzehnt vor der Revolte, in einem Brief über deutsche Studenten: | |
"Sie wissen, sie leben in einem unbeschreiblichen Saftladen. Sie waren sehr | |
begeistert von mir, aber eben auch darum, weil es sonst niemand gibt. Der | |
Generationsbruch ist ungeheuer. Sie können mit ihren Vätern nicht reden, | |
weil sie ja wissen, wie tief sie in die Nazi-Sache verstrickt waren." Die | |
Bundesrepublik, der postfaschistische, halbsouveräne Teilstaat, verfügte | |
über keine sinnstiftende, generationsübergreifende republikanische | |
Erzählung. Das mag die terroristische Verhärtung in den 70er-Jahren | |
erklären helfen. | |
Doch in den 60er-Jahren unterschieden sich die deutschen Rebellen in der | |
Heftigkeit der Kritik an den USA oder dem Gewaltniveau nicht von ihren | |
französischen Genossen. Es gab, so Frei, 1968 keinen "deutschen Sonderweg". | |
Insgesamt, so das wohlabgewogene Urteil, haben die Rebellen, teils entgegen | |
der eigenen Absicht, eine Welle der Liberalisierung ausgelöst. Auch das ist | |
nicht neu, aber richtig. | |
Und heute? Der heftige Generationsbruch, der typisch für die deutsche | |
Ausprägung der Revolte war, ist selbst Geschichte geworden. In Hamburg | |
verhandeln die Grünen mit der CDU friedlich über eine Koalition - mithin | |
die Nachfahren von Dutschke & Co mit der Partei, die in den 60er-Jahren | |
Spießertum und postfaschistische Doppelmoral verkörperte. Dass Schwarz-Grün | |
2008 möglich ist, symbolisiert, dass die Frontstellung von 1968 | |
historisiert und die Aussöhnung der (bürgerlichen) Generationen mit sich | |
selbst vollendet ist. Vielleicht klingen die Beteuerungen mancher | |
Zeithistoriker, wie brisant 1968 heute noch immer sei, deshalb mittlerweile | |
etwas hohl. | |
Norbert Frei: "1968. Jugendrevolte und globaler Protest". Dt. | |
Taschenbuchverlag, München 2008, 286 Seiten, 15 Euro Reinhard Mohr: "Der | |
diskrete Charme der Rebellion". Wolf Jobst Siedler Verlag, Berlin 2008, 238 | |
Seiten, 19,90 Euro Wolfgang Kraushaar: "Achtundsechzig. Eine Bilanz". | |
Propyläen, Berlin 2008, 334 Seiten, 20,50 Euro Peter Schneider: "Rebellion | |
und Wahn. Mein 68". Kiepenheuer & Witsch, Köln 2008, 365 Seiten, 18,95 Euro | |
12 Mar 2008 | |
## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
Stefan Reinecke | |
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