# taz.de -- Besinnungsaufsatz zum Frühlingsbeginn: Vom Ende des Winters | |
> Als die Welt noch in Ordnung war, 1969, gab es noch richtige Winter. | |
> Wenigstens in Berlin, das damals eigentlich Westberlin hieß... | |
Bild: Berliner Frühlings-Krokus vor Automobil. | |
Als die Welt noch in Ordnung war, 1969, gab es noch richtige Winter. | |
Wenigstens in Berlin, das damals eigentlich Westberlin hieß, denn von der | |
Welt jenseits der Mauer, die gerade erst acht Jahre stand, hatten junge, | |
aus Westdeutschland zugewanderte Studenten, nur wenig Ahnung. Man fuhr mal | |
dorthin, um billig Bücher zu kaufen, vor allem von den Klassikern (nicht | |
Goethe, Schiller, auch nicht Jean Paul, sondern Marx, Engels, Lenin), war | |
aber eigentlich froh, dann wieder im Westen zu sein. Winter in Berlin waren | |
damals weit trüber und dunkler, als sie es heute noch immer sind, und vor | |
allem rochen sie intensiv nach Kohle. | |
Und kälter waren sie. Am Silvestertag 1969 fiel das Thermometer auf minus | |
20 Grad. Der junge Student, der ich war und der beschlossen hatte, zu | |
Weihnachten und über Neujahr nicht nach Hause zu den Eltern zu fahren (ein | |
notwendiger Schritt im Abnabelungsprozess), saß im dicken Pullover und | |
zusätzlich mit einer Jacke bekleidet (ein Pelzimitat mit Kapuze) in seinem | |
Zimmer im Haus 5 des Studentendorfs Schlachtensee, das der Freien | |
Universität von den Amerikanern geschenkt worden war. Denn just am Morgen | |
dieses Silvestertages war für eine Stunde die Heizung ausgefallen. | |
Es ist anzunehmen, dass selbst sie bei aller Erfahrung mit Berliner Wintern | |
auf diesen Kälteeinbruch nicht vorbereitet war. Draußen lag der Schnee | |
kniehoch. Da saß also der junge Student und las, mit Blick auf den weißen | |
Wintermorgen, Maos Schrift "Über den Widerspruch". Mein Generationsgenosse | |
Götz Aly, der zur gleichen Zeit am selben Otto-Suhr-Institut studiert haben | |
muss wie ich, hat uns allen ja gerade aktuell erklärt, dass wir schon | |
damals besser hätten wissen können und müssen, was in China wirklich los | |
war, wir Kinder der 33er. Stattdessen "tanzten (wir) um einen kultigen | |
Massenmörder". Dazu vielleicht ein andermal und anderswo mehr, vielleicht | |
auch nicht. An diesem eiskalten Silvestermorgen jedenfalls tanzte in | |
Schlachtensee niemand. | |
Erst drei, vier Monate später, der junge Student war schon mit anderen in | |
eine riesige Wohnung in Kreuzberg umgezogen, Nähe U-Bahn Prinzenstraße, | |
lockerte der Berliner Winter seinen Griff. Die langen Monate der Kälte und | |
der Dunkelheit wurden begleitet von dem gerade erschienenen Beatles-Album | |
"Abbey Road", darauf als Versprechen George Harrisons Lied "Here comes the | |
sun", erstmals gehört im legendären Natubs, Nähe Olivaer Platz. Das war | |
eine wunderschöne Szenekneipe, die heute in einem Museum der damaligen | |
Westberliner Kneipenkultur eins zu eins wiedergegeben werden und einen | |
ganzen Raum für sich beanspruchen müsste. | |
Das Natubs! Obwohl damals erst zwei Jahre alt, war es schon eine Legende | |
und ein Zitat, voller Sperrmüll und voller Gips, voll süßer Gerüche und | |
guter Musik. In tiefen Sesseln versank man manchmal, ein riesiger runder | |
Tisch war das Zentrum. Da saßen nun Alys Kinder der 33er und dachten | |
vermutlich an ihr Coming-out als Steinewerfer und den Kitzel, den sie dabei | |
erlebt hatten. | |
So war es natürlich nicht. Stattdessen sang George Harrison: "Here comes | |
the sun, here comes the sun / and I say its all right", und weiter: "Little | |
darling, its been a long cold lonely winter. / Little darling, it feels | |
like years since its been here." Bis das schöne, nicht jubelnde, aber | |
erwartungsfrohe Lied endlich Wirklichkeit wurde, bis im März und April | |
immer häufiger die Sonne durchkam, der allgegenwärtige Kohlegeruch über der | |
Stadt langsam verschwand und ein makelloser Mai folgte. Da hatte sich aber | |
der junge Student, der ich nun kaum noch war, schon tief in die Feinheiten | |
kryptokommunistischer Dispute verstrickt, las Sätze wie "Das ist die | |
falsche Linie der Praktiki" und stand zuweilen frühmorgens vor den | |
Werktoren von Borsig und AEG, um Flugblätter zu verteilen, immer voller | |
Angst vor den richtigen Arbeitern, die da missmutig und unausgeschlafen auf | |
ihn zukamen. Vom Wechsel der Jahreszeiten bekam der Kader, der ich in den | |
nächsten anderthalb Jahren war, kaum noch etwas mit. | |
Vielleicht spielt es wirklich eine viel größere Rolle, in welcher | |
Jahreszeit man geboren ist, als wir später mit der flachen Nüchternheit | |
unseres erwachsenen Lebens zugeben können. Wenn tatsächlich die Eindrücke | |
der ersten Lebenswochen für die Prägung des Säuglings entscheidend sind, | |
dann würden selbstverständlich auch die Wetterlagen und Lichtverhältnisse | |
dieser ersten Wochen dazu rechnen, und noch der Erwachsene hätte bei der | |
jährlichen Wiederkehr dieser Verhältnisse das unbestimmte Gefühl, an den | |
Anfang, den Ursprung zurückzukehren. | |
Das ist offenbar bei mir der Fall. Nun ist das beginnende Frühjahr aber | |
keineswegs die Jahreszeit, die ich am meisten liebe. Vielmehr überkommt | |
mich in dieser Zeit oft "jenes leichte Ekelgefühl vor der Zukunft, das man | |
Unruhe nennt", um die überaus prägnante Formulierung von Patricia Highsmith | |
zu benutzen. Also eine depressive Unruhe eher als eine erwartungsfrohe. | |
Vermutlich war der Morgen meines Lebens recht unruhig, auch wenn ich mich | |
naturgemäß daran nicht mehr erinnern kann und es später in unserer Familie | |
eher etwas zu ruhig zuging. Nur die Geschichte, dass ich mich stundenlang | |
nach Kräften dagegen gewehrt habe, überhaupt auf die Welt zu kommen, ist | |
mir aus meiner Frühzeit geblieben. Jedenfalls hat meine Mutter sie mir oft | |
erzählt, und sie sollte es wohl wissen. | |
"Morning of my life": Das war ein Lied, das die Bee Gees für Esther und Abi | |
Ofarim geschrieben hatten. Die Bee Gees waren die Schnulzenkönige der | |
damaligen Popmusik und Esther und Abi Ofarim ein israelisches Gesangsduo, | |
das diese getragene, sehnsuchtsvolle Schnulze wunderschön sang und damit | |
zumindest in Deutschland 26 Wochen lang in den Charts blieb. Ofarim war im | |
Übrigen ein Künstlername und bedeutet Rehkitz, und wie ein Rehkitz sah | |
Esther damals auch aus. | |
Der Soldat, der ich war, hörte 1968 im Märzmanöver in der Lüneburger Heide | |
dieses Lied dann und wann, wenn er neben dem Fahrer im olivgrünen Lkw saß | |
und auf Einkaufstour für die Kompanie unterwegs war, in einem überraschend | |
milden und sonnigen frühen Jahr. Eine Textpassage forderte dazu auf, mit | |
dem eigenen Leben geduldig zu sein, da es erst am Anfang stehe und man noch | |
viel vor sich habe. "In the morning of my life / the minute takes so long | |
to drift away / Please be patient with your life / Its only morning / and | |
you're still to live your day." | |
Ob ich den Text damals beim Hören wirklich verstanden habe, ich weiß es | |
nicht und bezweifle es. Aber über die Melodie muss sich mir die Botschaft | |
mitgeteilt haben, denn das Lied hatte eine ungewohnt starke Wirkung auf | |
mich. Die Mahnung, sich Zeit zu lassen mit seinem Leben - carpe diem! - | |
enthält vermittelt ja immer schon den Hinweis auf dessen Vergänglichkeit. | |
Was aber geschwätzige Lehrer und ebenso geschwätzige Schullektüren nicht | |
zustande gebracht hatten, ein Gefühl für und einen Begriff von | |
Vergänglichkeit zu geben, das schaffte bei dem Zwanzigjährigen dieses Lied. | |
Vor einiger Zeit hörte ich es noch einmal im Autoradio, ohne Vorwarnung, | |
gleichsam überfallartig, und ich gestehe, dass mir die Tränen kamen. | |
Gewiss: eben das zu bewirken, ist die Aufgabe von Schnulzen. Man sollte | |
aber bei ihnen nicht geringschätzen, was man beim großen Theater hoch | |
bewertet und Katharsis nennt. | |
Wenige Wochen danach, als der Soldat, der ich war, einen seiner wenigen | |
Wachdienste während seiner Dienstzeit abgeleistet hatte und sonnig der | |
Karfreitagsmorgen 1968 heraufzog - jene blasse, etwas dunstige und doch | |
tröstliche Sonne, die erst später am Tag zu strahlen beginnt und für den | |
deutschen Nordwesten oftmals so typisch ist - erfuhr er noch vor der Fahrt | |
nach Hause, in den Osterurlaub, von den Schüssen auf Rudi Dutschke und von | |
dem anschließenden Versuch der Studenten, das Springerhochhaus zu stürmen. | |
Zu Hause verfolgte ich den weiteren Verlauf der später so genannten | |
Osterunruhen vor dem Fernseher und wünschte mich sehnlich in eine dieser | |
großen Städte, in denen sie sich ereigneten. So ist es dann ein Jahr danach | |
auch gekommen. Aber der Kitzel, den ich als Steinewerfer in den Metropolen | |
wohl empfunden hätte, war mir auch dann nicht vergönnt. | |
Gerade aus der damaligen Entfernung, aus der Unerreichbarkeit, müssen die | |
Osterunruhen 1968 einen sehr nachhaltigen Eindruck auf mich hinterlassen | |
haben. Seitdem ist mir Ostern das liebste aller Feste im Jahr, ganz | |
unabhängig von der jeweiligen Wetterlage, die in dieser unentschiedenen | |
Jahreszeit so unterschiedlich ausfallen kann. | |
Ostern, das ist jedes Jahr das Ende der unbestimmten, flatternden, | |
ängstlichen Unruhe und der Beginn des Aufbruchs: Man versucht es noch | |
einmal, das richtige Leben, das es angeblich im falschen nicht gibt, und | |
auch wenn Hoffnung enttäuscht werden kann, mag man sie nicht aufgeben. Das | |
Wissen, dass die Uhr abläuft und solche Art Aufbruch sich inzwischen zum | |
sechzigsten Mal jährt, stört nicht und verhindert nichts, auch keine | |
Torheit. Also macht man weiter, streitet und versöhnt sich, lässt seiner | |
Müdigkeit wie seinem Übermut freien Lauf und bleibt aufmerksam und leichten | |
Sinnes, bis es eines Tages zu Ende ist. | |
Der Autor lebt als Schriftsteller in Oldenburg. Zuletzt erschien der | |
Erzählungs- band "Auf Wiedersehen, Dr. Winter" (Verlag Tisch 7) | |
18 Mar 2008 | |
## AUTOREN | |
Jochen Schimmang | |
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Schwerpunkt Eurovision Song Contest | |
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