# taz.de -- Warum junge Tibeter aufbegehren: "Auf Augenhöhe mit den Chinesen" | |
> Waren es nur wirtschaftliche Gründe, die Jugendliche in Lhasa dazu | |
> brachten, chinesische Läden zu plündern? Nein, sagt ein Junge, der am | |
> Aufstand beteiligt war. Aus Lhasa berichtet GEORG BLUME | |
Bild: Tibeter protestieren überall- auch im indischen Bangalore, wir dieser ju… | |
LHASA taz Der tibetische Junge ist gerade erst volljährig. Er trägt moderne | |
westliche Kleidung. Mehr darf man hier nicht über ihn verraten. Er nimmt es | |
auf sich, der Welt zu erklären, wie die Ereignisse am vergangenen Freitag | |
in Lhasa aus seiner Sicht verliefen. Er ist der erste tibetische Augenzeuge | |
des Aufstands von Lhasa, der es wagt, sich einem westlichen Journalisten | |
anzuvertrauen. | |
Er erzählt. Von einem Freund hörte er in der vergangenen Woche, dass die | |
Demonstrationen der Mönche vom Drepung-Kloster außerhalb Lhasas sieben | |
Todesopfer gefordert hätten. Zwei junge Lamas, auserwählte Geistliche, | |
seien ertränkt worden, ein Mönch sei erschossen, vier weitere seien in den | |
Auseinandersetzungen mit der bewaffneten chinesischen Militärpolizei | |
getötet worden. "Jetzt müssen wir mitmachen", sagte ihn der Freund. | |
Am Freitag um 11 Uhr begannen die Proteste im Altstadtviertel von Lhasa | |
rund um den Jokhang-Tempel. Nichts war geplant, der Aufstand war nicht | |
organisiert. Nur die tibetischen Studenten, die sich "weiße Löwen" nennen, | |
traten zusammen an. Sie begannen "Freiheit für Tibet!" zu rufen. Den ganzen | |
Tag war das der einzige, aber immer wiederkehrende Ruf der Demonstranten. | |
Sie begannen, mit Steinen auf chinesische Geschäfte zu werfen. Manchmal | |
wussten sie nicht, ob ein Geschäft Chinesen oder Tibetern gehörte. Im | |
Zweifel schlugen sie trotzdem zu. | |
Um 12 Uhr rückte die bewaffnete Militärpolizei in das Viertel ein. Die | |
Demonstranten nahmen sehr große Steine und warfen sie auf die Polizisten, | |
sie stürzten Polizeiwagen um und setzten sie in Brand. Viele Polizisten | |
liefen weg. Die Gewalt griff weiter um sich. Banken wurden ausgeraubt, | |
immer mehr Geschäfte ausgeräumt und ihre Ware angezündet. Auch die Läden | |
der Hui-Minderheit wurden gestürmt. Aber die Demonstranten nahmen nichts | |
mit. Alles wurde verbrannt. Viele Demonstranten hatten sich in der | |
Zwischenzeit Messer oder Werkzeug besorgt. Viele Polizisten wurden | |
verletzt. Auch Mönche und Lamas nahmen am Protest teil, auch sie warfen mit | |
Steinen. | |
Der Junge hält in seiner Erzählung inne. "Ehrlich gesagt, sind viele von | |
uns zu weit gegangen", sagt er. "Aber wir hatten endlich das Gefühl, auf | |
Augenhöhe mit den Chinesen zu sein." Die Todesopfer waren wohl | |
hauptsächlich Chinesen, womöglich Ladenbesitzer, die mit ihrer Ware | |
verbrannten. "Die Polizisten haben nicht geschossen, sie haben uns sogar um | |
Hilfe gebeten." | |
Er erzählt weiter. Zunächst saß er in einem Restaurant und schaute den | |
Dingen zu. Freunde von ihm versuchten später, ein paar Polizisten davon | |
abzuhalten, Videoaufnahmen zu machen. Aber er selbst hielt sich zurück. Bis | |
18 Uhr währten die Straßenschlachten. Er wusste, dass der Dalai Lama sich | |
das nicht so gewünscht hätte. Zugleich war er stolz, weil die Tibeter von | |
Lhasa zeigten, dass sie auch selbstständig Widerstand leisten können. Er | |
sagt, es wäre eben falsch, wenn die Chinesen jetzt versuchten, alle Schuld | |
auf den Dalai Lama zu schieben. Für die meisten sei es ein spontanes | |
Bedürfnis gewesen, an den Protesten teilzunehmen. | |
Er erklärt die Motive des Widerstands. Die Tibeter hassen die Chinesen. Die | |
Tibeter leben ihre Religion, aber die Chinesen verachten die Religion und | |
lassen die Tibeter ihren Glauben nicht leben. Die Chinesen wollten Tibet | |
befreien, aber sie haben dabei zu viel Gewalt angewandt. Zu viele Mönche | |
mussten sterben, zu viele Klöster und Tempel wurden zerstört. Das ist | |
unvergessen. | |
Bis heute dürfen die Mönche viele tibetische Suren nicht lesen. Stattdessen | |
müssen sie sich mit staatlich zensierten Texten beschäftigen, auch wenn | |
diese ihre Herzen nicht berühren können. Die Chinesen haben den Tibetern | |
viele wertvolle Buddha-Statuen gestohlen. Nur wenige wurden nach Indien | |
gerettet. Besonders der Potala-Palast in Lhasa wurde schändlich ausgeraubt | |
und verunstaltet. Heute aber verkaufen die Chinesen gestohlene Buddhas und | |
geraubtes Tempelgold, sogar hier in Lhasa. Das ärgert alle Tibeter. | |
Je länger der Junge seinen Hass auf die Chinesen erklärt, desto | |
glaubwürdiger wird seine selbstkritische Darstellung der Revolte, vor allem | |
seine großzügige Einschätzung des Verhaltens der chinesischen | |
Militärpolizei. Er ist offenbar kein Kollaborateur. Vielmehr kennt seine | |
Entrüstung über die Chinesen keine Grenzen. | |
Er spricht weiter: China ist das böseste Land der Welt. Die Chinesen | |
verstehen das Geschäftemachen viel besser als die Tibeter. Sie betrügen die | |
Tibeter, indem sie ihnen schlechte, gefälschte Waren verkaufen. Die DVDs | |
von ihnen funktionieren nur ein- oder zweimal. Ihre Kleidung ist schlecht. | |
Deshalb haben die Demonstranten die chinesischen Waren verbrannt. | |
Die Tibeter verdienen bei gleicher Arbeit nur die Hälfte wie die Chinesen. | |
Auf dem Bau bekommen sie einen Monatslohn von umgerechnet lediglich 50 | |
Euro, während die Chinesen 100 Euro erhalten. Die Chinesen, die in Tibet | |
leben, aber haben alle Arbeit, während viele Tibeter arbeitslos sind. | |
Der Junge nennt damit auch die ökonomischen und sozialen Gründe für die | |
Revolte. In den letzten Tagen konnte man in Lhasa immer wieder tibetische | |
Jugendliche treffen, die sich vor allem über ihre Diskriminierung im | |
Arbeitsleben beklagten. Bei ihnen erschienen die religiösen Motive eher | |
zweitrangig zu sein, doch waren sie auch weniger gebildet. Insofern | |
erstaunt es vielleicht nicht, wenn der Junge schließlich doch noch eine | |
chinesische Errungenschaft in Tibet lobt: die Schulen. Er sagt, die Tibeter | |
schätzten die chinesischen Schulen, weil sie dort nicht nur Tibetisch, | |
sondern auch Englisch lernen können. | |
Er kommt auf die Weltpolitik zu sprechen. Die Chinesen sagen, die Tibeter | |
sollten gegenüber Ausländern nicht schlecht über sie reden. Sie denken von | |
sich, dass sie die Besten sind, die schnellste wirtschaftliche Entwicklung | |
in der Welt haben und bald eine große Macht sein werden. Aber die Tibeter | |
finden die USA besser und glauben, dass die USA auch stärker als China | |
sind. | |
Der Junge hat jetzt lange geredet. Um ihn herum stehen in einem Hinterhof | |
der Altstadt von Lhasa viele Tibeter. Sie haben ihm gelauscht und dabei | |
immer wieder genickt. Sie haben aufgepasst, dass keine Fremden in den | |
Hinterhof kommen. Doch wie wird es nun weitergehen? | |
Es wird sehr viele Verhaftungen geben, meint der Junge. Die Chinesen würde | |
die Taten der Demonstranten als Verbrechen gegen den Staat und die | |
öffentliche Ordnung betrachten. Man müsste nun ein Alibi haben, um nicht | |
festgenommen zu werden. Wer keines hat, den würde die Polizei erst mal | |
mitnehmen. Einige der Verhafteten würden bestimmt nie zurückkommen, so wie | |
ja auch der Panchen Lama nie wiedergekommen sei. | |
Der Junge erinnert daran, dass die Chinesen im Jahr 1995 das vom Dalai Lama | |
ausgewählte und nach ihm zweithöchste geistliche Oberhaupt der Tibeter | |
entführten und verschwinden ließen. Der Panchen Lama war damals sechs Jahre | |
alt. Heute müsste er genau im richtigen Demonstrationsalter sein, ungefähr | |
so alt wie dieser Junge. | |
20 Mar 2008 | |
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