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# taz.de -- Zwanghafte Einheit: Phantome der Kulturnation
> Dass Deutschland eine Kulturnation sei, wird gern behauptet. Die Rhetorik
> der "geistigen Heimat" beschwört eine moralisch unanfechtbare Nation in
> Zeiten ökonomischer Kälte.
Bild: Dienen regelmäßig zum Beleg für deutsche Nationalkultur: Goethe und Sc…
Kulturpolitik ist Symbolpolitik. Als Motto kann man ihr das Plädoyer für
"eine europäische, ja eine allgemeine Weltliteratur" zur Seite stellen, das
Goethe vor genau 180 Jahren formuliert hat. Goethe verband damit weniger
die Absicht, dass die verschiedenen Nationen voneinander und ihren
Erzeugnissen Kenntnis nehmen, da dies ohnehin geschehe. Eher ging es ihm
darum, dass die "lebendigen und strebenden Literatoren einander
kennenlernen und durch Neigung und Gemeinsinn sich veranlasst finden,
gesellschaftlich zu wirken".
Im Jahr vorher waren in einem Gespräch mit Eckermann noch deutlichere Worte
gefallen: "Nationalliteratur will jetzt nicht viel sagen; die Epoche der
Weltliteratur ist an der Zeit, und jeder muss jetzt dazu wirken, diese
Epoche zu beschleunigen."
Wenn das Goethe-Institut heutzutage beispielsweise den deutschtürkischen
Schriftsteller Feridun Zaimoglu in Rom oder die deutschjapanische Autorin
Yoko Tawada in Marseille lesen lässt, dann geschieht diese Arbeit im
Zeichen des zitierten Goethe-Plädoyers. Noch heutzutage, so muss man
ergänzen, denn die gegenwärtigen kulturpolitischen Anstrengungen in diese
Richtung zeigen doch auch, dass es mit der von Goethe beschworenen
Beschleunigung nicht so weit her war.
Tatsächlich sind die bald zwei Jahrhunderte seit Goethes Plädoyer für die
Weltliteratur gesättigt von Erfahrungen, die eher von den Schwierigkeiten
in der Vermittlung zwischen nationaler, europäischer und Weltliteratur
zeugen. So ist es auch nicht bei der einmaligen Proklamation geblieben.
Jedenfalls sah sich der Romanist Erich Auerbach in seinem berühmten Beitrag
zur Philologie der Weltliteratur vor einem halben Jahrhundert erneut
veranlasst festzustellen: "Jedenfalls aber ist unsere philologische Heimat
die Erde; die Nation kann es nicht mehr sein."
Allerdings wusste Auerbach 1952 bereits auch um die Kehrseiten der
Weltliteratur. Denn die zeitgenössischen Tendenzen zur kulturellen
"Standardisierung", zur Vereinheitlichung und Angleichung der Kulturen
wurden von ihm auch schon kritisch kommentiert, womit er Teile der
aktuellen Globalisierungsdiskussion vorweggenommen hat. "Damit wäre der
Gedanke der Weltliteratur zugleich verwirklicht und zerstört", lautet die
bündige Analyse Auerbachs.
Sein eigenes Programm der Weltliteratur definiert dagegen keinen
Gegenstand, umgrenzt kein literarisches Feld. Nationalliteratur,
europäische Literatur und Weltliteratur sind keine Größen oder
Schnittmengen. Vielmehr beschreibt der Begriff bei ihm eine intellektuelle
Gangart und kulturelle Ausrichtung, die immer von einem konkreten
historischen Ort ausgehen. Für Auerbach war dies der Blick der europäischen
Literaturen auf deren Außerhalb und auf das Andere in ihnen, auf die
europäische Kultur als Geschichte permanenter interner Differenzierungen.
Was bedeutet vor diesem Hintergrund die gegenwärtige Wiederentdeckung des
Konzepts der Kulturnation? Schauen wir uns zunächst an, mit welchen
Bedeutungen der Begriff heute verbunden wird. Als die
Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar anlässlich ihrer Wiedereröffnung als
Sinnbild der Kulturnation gewürdigt wurde, war zugleich vom nationalen
Kulturerbe die Rede. Mehr noch: "Für viele Menschen verkörpere gerade die
Anna-Amalia-Bibliothek mit ihren einmaligen Beständen an alten Büchern,
Handschriften, Noten und Landkarten die 'geistige Heimat' Die
Wiedereröffnung der Bibliothek sei - trotz der Verluste - ein Freudentag
für die Kulturnation Deutschland." (Pressemeldung am 24.10.2007)
Vermutlich gehörte es zu den eher ungewollten Effekten der Festrede des
Bundespräsidenten, dass in der Formel Kulturerbe ein Nachhall eines zu
DDR-Zeiten überstrapazierten Begriffs mitklang. Unter dem Titel
"Kulturelles Erbe" war Erbepflege in der DDR nämlich eine Aufgabe, die sich
am ideologischen Kurs von Partei und Regierung auszurichten hatte. In der
Epoche deutscher Zweistaatlichkeit, in der das kulturelle Erbe ein
Zankapfel für die Deutung der Überlieferung zum Zwecke der Legitimierung
der Gegenwart war, konzentrierte sich die konkurrierende
Interpretationsarbeit vor allem auf die Kultur der Weimarer Goethe-Zeit.
Als es dann nach der Wende darum ging, nicht nur eine wiedervereinigte
Zukunft zu bauen, sondern diese auch in ein und derselben Tradition zu
gründen, wurde Weimar als gemeinsamer deutscher Erinnerungsort
wiederentdeckt - und der belastete Begriff des kulturellen Erbes durch den
Titel der Kulturnation ersetzt.
Es ist offensichtlich, dass das Pathos in der gegenwärtigen Rhetorik der
Kulturnation unter anderem auch das kulturelle Erbe der Nation gegen seine
Beschädigungen durch die Geschichte Hitler-Deutschlands abzudichten bemüht
ist. Anstatt nun in eine Gegenrhetorik zu verfallen, die umgekehrt
Auschwitz als universales moralisches Argument gegen jede aktuelle
politische Verfehlung benutzt, muss die Frage gestellt werden, ob die
historische Genese der Kulturnation möglicherweise etwas damit zu tun hat,
dass es überhaupt zu diesen Verbrechen hat kommen können. Ich komme darauf
zurück.
Mit der Kulturnation wird nicht nur - unter dem Vorzeichen der Kultur - der
Begriff der Nation wieder stark gemacht, und das in einer Zeit, in der mit
Blick auf das Projekt der Europäischen Union ansonsten eher über- oder
postnationale Perspektiven auf der Tagesordnung stehen. Darüber hinaus ist
die Metaphorik vom kulturellen Herzen und der geistigen Heimat ein Zeichen
für den Versuch, eine Art gefühlter Nation zu befördern. Mit Bibliothek und
musealen Gedenkstätten als symbolischen Orten für eine Gleichsetzung von
Kulturnation und nationalem Kulturerbe wird das Erbe als eine durch Bücher
gestiftete Genealogie verstanden. Wenn die Kulturnation den
Gesellschaftskörper damit papieren vergeistigt, dann muss dieser durch
einen kulturellen Herzschlag am Leben erhalten werden. Diese metaphorische
Erwärmung wird offensichtlich auch gegen den Eindruck eines erkalteten
Herzens aufgeboten, an dem der Verfassungs- und Versicherungsstaat erkrankt
scheint.
Als nämlich der Begriff der Kulturnation im Schillerjahr 2005 relativ
plötzlich und überraschend gehäuft in Festreden und Artikeln
wiederauftauchte, war er sichtlich mit dem Unbehagen an einem Staat
verbunden, in dem Politik auf das Niveau staatlicher Betriebswirtschaft
schrumpft. Gegen eine ausschließliche Orientierung am wirtschaftlichen
Nutzen beschwor beispielsweise der damalige Kulturminister unter dem Titel
"Das hat Humboldt nie gewollt" den "Glanz einer Bildungs- und Kulturnation"
(Zeit vom 3.3.2005). So berechtigt die Diagnose schwindender Politik
angesichts der Angleichung von Koalitions- an Haushaltsverhandlungen ist,
so wird sie im Zeichen der Kulturnation aber mit einem - wenig
zukunftstauglichen - nostalgischen Blick zurückverknüpft. Werden die Museen
als "Schatz unserer Kulturlandschaft" bezeichnet, wie beispielsweise beim
Festakt zum 50-jährigen Bestehen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz
geschehen, dann ist das ein Symptom dafür, dass sich im Konzept der
Kulturnation der Traum eines an-ökonomischen, moralisch unanfechtbaren,
geistigen Reichtums verbirgt.
Schon die historische Vorgeschichte und Genese des Konzepts der
Kulturnation im 19. Jahrhundert war von einer Kritik an der Vormacht der
Wirtschaft begleitet. In Ernest Renans berühmter Rede "Quest-ce que la
nation?" 1882 an der Sorbonne, in der er einige Aspekte der Kulturnation
formuliert hat, heißt es kurz und bündig: "Ein Zollverein ist kein
Vaterland."
Tatsächlich geht das Konzept der Kulturnation in Deutschland auf das 19.
Jahrhundert zurück. Der Begriff bezeichnet nämlich im staatsrechtlichen
Sinne eine Gemeinschaft oder ein Volk, das keinen oder noch keinen
Nationalstaat bildet, aber durch eine gemeinsame kulturelle Tradition,
durch eine Sprache, durch Sitten und Gebräuche geprägt ist. Als "verspätete
Nation" - genauer verspäteter Nationalstaat - bildet das Deutschland des
19. Jahrhunderts den Modellfall einer Kulturnation, weil hier der nationale
Diskurs und die intellektuelle Arbeit für eine nationale Gemeinschaft der
Konstitution eines Nationalstaats vorausgegangen sind.
Dazu hat die Etablierung zahlreicher wissenschaftlicher Disziplinen nicht
unwesentlich beigetragen, allen voran Sprachgeschichte und Neuphilologie.
Deren Konstruktion einer einheitlichen Tradition hat das Bild einer
Literaturgeschichte kreiert, in der die tatsächlich eher "Kurze Geschichte
der deutschen Literatur" (Heinz Schlaffer 2003) vergessen worden ist -
reicht diese doch nur von der Bildung einer einheitlichen Literatursprache
Mitte des 18. Jahrhunderts bis zu deren Auflösung am Ende des 20.
Jahrhunderts, als hierzulande anderskulturelle Stimmen laut wurden.
Während der Formierung der nationalen Tradition in der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts blieb es dagegen einigen Schriftstellern vorbehalten, auf
den teils zwanghaften Charakter einer Einheitsstiftung qua Abstammung und
Herkunft hinzuweisen. Etwa Heinrich Heine oder Annette von Droste-Hülshoff,
in deren Literatur jene Phantome und Wiedergänger auftreten, die im
Familienroman der deutschen Nation an deren uneinheitliche Herkunft
erinnern. Sigmund Freud wird das Verdrängte in den Erzählungen der
Vorfahren später eine archaische Erbschaft nennen. Diese Erbschaft im
kulturellen Gedächtnis der deutschen Nation stellt eine Spur dar, deren
genaueres Studium lohnt, um sich der Frage nach dem Ort der Kulturnation in
der Vorgeschichte des "Dritten Reichs" zu nähern.
In seiner Büchner-Preis-Rede hat Martin Mosebach im vergangenen Jahr eine
Linie von der Französischen Revolution zu Himmlers Rede gezogen, ohne diese
Verbindung durch irgendein Argument oder einen Beleg zu unterstützen. Diese
rein assoziative Rhetorik konnte sich zwar - wie jeder Nazivergleich heute
- der Aufmerksamkeit empörter Reaktionen sicher sein, den Zuhörern und
Lesern ist sie aber jeglichen Ansatz einer Erklärung, gar Analyse schuldig
geblieben. Für einen solchen Versuch würde es sich aber lohnen, die
Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland aufzuschlagen, mit
der Heinrich Heine 1834 den Franzosen die deutsche Überlieferung seit
Luther näher zu bringen suchte. Dort findet sich die Passage: "Das
Christentum - und das ist sein schönstes Verdienst - hat jene brutale,
germanische Kampflust einigermaßen besänftigt, konnte sie jedoch nicht
zerstören, und wenn einst der zähmende Talisman, das Kreuz, zerbricht, dann
rasselt wieder empor die Wildheit der alten Kämpfer, die unsinnige
Berserkerwut, worin die nordischen Dichter soviel singen und sagen. [ ] Es
wird ein Stück aufgeführt werden in Deutschland, wogegen die Französische
Revolution nur wie eine harmlose Idylle erscheinen möchte."
Sigmund Freud hat diesen Gedanken fortgeschrieben und direkt auf das
Phänomen des Judenhasses bezogen. In "Der Mann Moses und die
monotheistische Religion" geht er davon aus, dass die tieferen Wurzeln des
Judenhasses aus dem "Unbewussten der Völker" wirken; und er erinnert daran,
dass all jene Völker, die sich "heute im Judenhass hervortun", erst in
späthistorischen Zeiten, oft unter Zwang, Christen geworden seinen: "Man
könnte sagen, sie sind alle ,schlecht getauft', unter der dünnen Tünche von
Christentum sind sie geblieben, was ihre Ahnen waren, die einem
barbarischen Polytheismus huldigten. Sie haben den Groll gegen die neue,
ihnen aufgedrängte Religion nicht überwunden, aber sie haben sie auf die
Quelle verschoben, von der das Christentum zu ihnen kam."
Vor ihm hatte das Annette von Droste-Hülshoff in ihrer Erzählung "Die
Judenbuche" (1842) ähnlich gesehen. Dass es ausgerechnet ihr Porträt war,
das zusammen mit Schreibfeder und einer Buche die Banknote des alten
20-DM-Scheins schmückte, zeugt von einer für die alte Bundesrepublik
signifikanten Symbolpolitik: den Versuch, kulturelles Erbe und
Wirtschaftswunderland zu versöhnen. Ob den Designern der Banknote
allerdings bewusst war, wie genau die Allegorie der deutschen Nation, die
in der "Judenbuche" erzählt wird, das deutsche Gedächtnis nach 1945 zu
kommentieren vermochte, ist fraglich. Die Erzählung handelt nämlich von
einem vaterlosen Jungen mit ungeklärter Herkunft, der aus seinem Dorf
flieht, nachdem er einen Juden erschlagen hat, weil der ihn an seine
Schulden erinnert hatte. Als der Junge nach 28 Jahren aus türkischer
Gefangenschaft, unter dem Namen seines Freundes und Doppelgängers Niemand,
zurückgekehrt ist, wird er erhängt an jener Buche gefunden, die Schauplatz
der vorausgegangenen Verbrechen war. In geradezu unheimlicher Weise
verweist die Banknote aus der Nachkriegsgeschichte auf die Stimme einer
literarischen Kritik der Gewalt zurück, die die Genese der Kulturnation
begleitet hat.
Das Konzept der Kulturnation ist im 19. Jahrhundert aus dem fast
zwanghaften Versuch entstanden, eine nationale Einheit auf dem Wege einer
kulturellen, sprachlichen und ethnischen Homogenität zu stiften. Theodor W.
Adorno wies 1959 darauf hin, dass Bedeutung und Stellung von Fremdwörtern
sehr unterschiedlich sind, je nachdem, auf welchem Wege sich nationale
Sprachen ausgebildet haben. Die Fremdwörter sind für Adorno nicht nur
"Wörter aus der Fremde", wie der Titel seines Beitrags lautet, sie sind
Symptome, d. h. Erinnerungssymbole einer misslungenen Vereinheitlichung.
"Daran erinnern im Deutschen die Fremdwörter: dass keine pax romana
geschlossen ward, dass das Ungebändigte überlebte, ebenso wie daran, dass
der Humanismus, wo er die Zügel ergriff, nicht als die Substanz der
Menschen selber erfahren wurde, die er meinte, sondern als ein Unversöhntes
und ihnen Auferlegtes." Schließlich deutet er den Nationalsozialismus "als
den gewalttätigen, verspäteten und dadurch vergifteten Versuch , die
versäumte bürgerliche Integration Deutschlands nachträglich zu erzwingen".
Doch ähnlich wie Auerbach die zwei Seiten der Weltliteratur betrachtet hat,
bewertet auch Adorno diese Uneinheitlichkeit in der Genese der deutschen
Sprache nach ihren zwei Seiten hin: "Insofern ist das Deutsche weniger und
mehr als die westlichen Sprachen; weniger durch jenes Brüchige, Ungehobelte
und darum dem einzelnen Schriftsteller so wenig Sicheres Vorgebende, wie es
in älteren neuhochdeutschen Texten so krass hervortritt und heute noch im
Verhältnis der Fremdwörter zu ihrer Umgebung; mehr, weil die Sprache nicht
gänzlich vom Netz der Vergesellschaftung und Kommunikation eingefangen ist.
Sie taugt darum zum Ausdruck, weil sie ihn nicht vorweg garantiert."
In einer Zeit, in der der Begriff einer Nationalkultur allein schon dadurch
obsolet geworden ist, dass in der deutschen Kultur zahlreiche Stimmen
anderer kultureller Herkunft immer deutlicher und pronouncierter vernehmbar
werden, empfiehlt sich der Blick zurück vor die Engführung von Kultur,
Sprache und Nation. Für die Fragen postnationaler Kulturen lohnt sich das
Studium vornationaler Vielfältigkeit - nicht als Modell oder Patentrezept,
sondern als Erfahrungsschatz. Das Interesse an einer Vervielfältigung der
Ursprünge für die eigene Kultur schafft andere Voraussetzungen dafür, mit
den Wörtern aus der Fremde in der eigenen Sprache umzugehen.
Bei Goethe heißt es an einer Stelle: "Denn die Eigenheiten einer Nation
sind wie ihre Sprache und ihre Münzsorten, sie erleichtern den Verkehr, ja
sie machen ihn erst vollkommen möglich."
7 Apr 2008
## AUTOREN
Sigrid Weigel
## TAGS
Kulturwissenschaft
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