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# taz.de -- Hysterisches Verhalten des Westens: Die Verteufelung Chinas
> Die Haltung westlicher Medien vor Olympia zeigt: Veränderungen Chinas im
> Zuge der Reformpolitik seit den 70er Jahren sind in Vergessenheit
> geraten. 14 Thesen
Bild: Im Westen wird China häufig als ökonomische und politische Bedrohung wa…
Das Chinabild in den westlichen Medien hat zurzeit einen traurigen
Tiefpunkt erreicht. Das ist nicht zufällig und hat auch nicht nur mit den
jüngsten Protesten von Tibetern in China zu tun. Es ist zugleich Ausdruck
des Umschlagens des idealisierten und positiven Chinabildes der 90er-Jahre
in ein negatives Zerrbild. "Chinas Aufstieg ist Deutschlands Abstieg",
"Weltkrieg mit den Asiaten um Wohlstand", "Gelbe Spione" sind nur einige
Beispiele für medienwirksame Schlagzeilen in den letzten Jahren. Dieses
Negativbild hat sich nicht zuletzt auch in der neuen Asienstrategie der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion vom Oktober 2007 niedergeschlagen, in der es
heißt, dass Freundschaft nur mit solchen Ländern in Asien gepflegt werden
könne, die "unsere Werte" teilen. Auf der Basis der Werteorientierung
lassen sich indessen keine Probleme lösen.
*
Schauen wir uns die Geschichte des Chinabildes in Deutschland und Europa
an, so bewahrheitet sich erneut, dass die Geschichte des europäischen
Chinabildes eine Geschichte sich ständig wandelnder, zwischen Verteufelung
und Idealisierung oszillierender Vorurteile über dieses Land ist. Bereits
im 17. und 18. Jahrhundert idealisierten Gottfried Wilhelm Leibniz und Jean
Jacques Rousseau China. So schrieb Leibniz 1691: "Wäre ein weiser Mann zum
Schiedsrichter über die Vortrefflichkeit von Völkern gewählt worden, würde
er den goldenen Apfel den Chinesen geben." Für Immanuel Kant war China "das
kultivierteste Reich der Welt".
Die koloniale Ära im 18. und 19. Jahrhundert führte in Europa zu einem
einzigartigen Überlegenheitsgefühl. Entsprechend gehörte für Herder und
Hegel China zu den "Völkern des ewigen Stillstandes", ja, Hegel sprach
sogar von der "Geistlosigkeit" der Chinesen. Dieser kontinuierliche Wechsel
im europäischen Chinabild ließe sich bis in die Gegenwart fortführen.
Nach der Idealisierung in den 90er-Jahren befinden wir uns jetzt wieder in
einer Phase der Verteufelung. Dies hängt unter anderem mit dem Aufstieg
Chinas und den damit verbundenen falschen Befürchtungen zusammen, China
könne sich zu einer ökonomischen und politischen Bedrohung des Westens
entwickeln.
*
Die Proteste in Tibet haben nun nachhaltig und negativ das Bild Chinas in
den westlichen Ländern beeinflusst. Selbst die Olympischen Spiele in Peking
wurden in Frage gestellt, auch wenn sie stattfinden und alle Nationen daran
teilnehmen werden. Gleichwohl haben die Spiele bereits ihre Unschuld
verloren und werden wohl in Zukunft mit den Protesten in Tibet in
Verbindung gebracht werden.
*
Im Westen werden die wirklichen Ursachen und Hintergründe der Abläufe in
Tibet nicht verstanden. Erstens meine ich, dass Tibet völkerrechtlich
keineswegs einfach ein besetztes Land ist. Bis 1912 war Tibet ein mit China
assoziiertes Gebiet und befand sich im Status einer Suzeränität
(Oberherrschaft; d. Red.). Außen- und Sicherheitspolitik (Militär) lagen in
den Händen des Kaiserhofes, Tibet konnte sich ansonsten selbst verwalten.
Im Jahr 1913, nach dem Ende der letzten Kaiserdynastie, hat der damalige
Dalai Lama zwar die Unabhängigkeit erklärt, aber weder von Peking noch in
internationalen Verträgen (etwa zwischen Russland und Großbritannien) wurde
Tibet jemals als von China unabhängiger Staat gekennzeichnet. Diese
Verträge erklärten sogar explizite, dass Tibet Teil Chinas sei.
Auch der Völkerbund, der Vorläufer der Vereinten Nationen, hat Tibet nicht
als eigenständiges Land anerkannt. Ein wichtiges Kriterium für die
Anerkennung eines Staates war damals die Beteiligung eines Gebietes an den
Angelegenheiten der internationalen Staatengemeinschaft. Tibet hatte sich
nach 1913 in die Selbstisolation begeben und es versäumt, am Leben der
Staatengemeinschaft teilzunehmen. Von daher war es vom Völkerbund auch
nicht als eigenständiges Staatsgebilde anerkannt worden. Im Jahr 1950
vollzog China das, was es als Wiederherstellung seiner legitimen Rechte
ansah und gliederte - zweifellos gewaltsam - Tibet wieder an. Kein Staat
der Erde hat jemals die Eigenständigkeit Tibets anerkannt oder erklärt,
Tibet sei ein "besetztes Land". Für alle Staaten der Erde ist Tibet
chinesisches Territorium. Die Tibetfrage wird vielmehr als
Menschenrechtsfrage begriffen.
*
Auch die chinesische Führung blendet bei der Analyse der Proteste vom März
und April dieses Jahres, die als "von der Dalai-Lama-Clique" initiiert
gelten, die Kernursachen aus. Sie sucht den Schuldigen im Ausland und
erklärt, die übergroße Mehrheit der Tibeter sei mit den Verhältnissen
zufrieden. Sie hat zweifellos Recht, dass die Proteste vor dem Hintergrund
der Olympischen Spiele organisiert worden sind und nicht spontan waren. Und
sie waren auch nicht friedlich. Sie haben nicht nur Tibeter das Leben
gekostet, sondern auch Han-Chinesen.
*
Was übersehen wird, sind die historischen, religiösen, ökonomischen,
kulturellen und sozialen Ursachen der Proteste. Allerdings sind dies keine
spezifischen Probleme der Tibeter, sondern aller ethnischen Minderheiten
Chinas, an denen die Tibeter bevölkerungsmäßig einen Anteil von lediglich
fünf Prozent haben. Zuwanderungen in die Minderheitengebiete, steigende
Arbeitslosigkeit, die oftmals schlechtere Bezahlung von Angehörigen
ethnischer Minderheiten, schlechtere Aus- und Fortbildungsmöglichkeiten und
vor allem das geringe Maß an tatsächlicher Autonomie verstärken die
Unzufriedenheit in Tibet und anderen Minderheitengebieten Chinas. Die
soziale Unzufriedenheit tibetischer Jugendlicher mag ein Grund dafür
gewesen sein, weshalb sich zunächst friedliche Proteste von Mönchen durch
Beteiligung von Jugendlichen zu Gewaltakten verdichteten, in denen auch
Han-Chinesen auf brutale Weise ihr Leben verloren (was in den westlichen
Medien kaum problematisiert wurde). Die Vernachlässigung der kulturellen
und sozioökonomischen Komponenten in der chinesischen Minoritätenpolitik
bewirken, dass die Konflikte nicht wirklich aufgelöst werden können.
*
Was die Tibeter im Exil anbelangt, so muss differenziert werden zwischen
denjenigen, die auf Sezession und Gewalt setzen, und denjenigen, die eine
Lösung im Rahmen des chinesischen Staatsverbandes suchen. Der Dalai Lama
und mit ihm die überwiegende Mehrheit der Tibeter im chinesischen Inland
setzen nicht auf Sezession, was unter den gegebenen Bedingungen ohnehin
keine Chancen auf Realisierung hat, sondern auf größere Autonomie
(Selbstverwaltung) innerhalb des chinesischen Staatsverbandes. Damit
unterscheiden sie sich von den Vertretern des Tibetischen Jugendkongresses
und den Studenten für ein Freies Tibet, die im Februar den "bewaffneten
Kampf" ausgerufen haben, der nichts lösen wird und kann. Im Gegenteil! Die
Position des Dalai Lama, dass es hinsichtlich der Tibetfrage nur eine
Lösung mit, nicht aber gegen Peking geben kann, würde einen Dialog zwischen
Peking und dem Dalai Lama durchaus erlauben. Allerdings sind die Aussichten
für einen solchen Dialog gegenwärtig nicht besonders gut.
*
Die Berichterstattung in den westlichen Medien wiederum gleicht einer Art
Hysterie. Schon lange gilt Tibet in Europa und Nordamerika als etwas ganz
Besonderes und Mystisches. Tibet wird als ein exotisches Gebilde angesehen,
das idealisiert und als "rein" begriffen wird, als "Mythos Tibet", wie ein
vor einigen Jahren erschienenes Buch dieses Phänomen nannte. Hier sei auch
daran erinnert, dass Tibet vor 1950 keineswegs eine harmonische, auch nur
annähernd demokratische, sondern eine stark hierarchisch organisierte
Klassengesellschaft war, die selbst der Dalai Lama als "feudal"
charakterisiert hat: mit einer erblichen und besitzenden Adelsklasse an der
Spitze und einer großen Zahl armer oder landloser Kleinbauern - auch wenn
niemand mehr dorthin zurück möchte.
*
Besonders fatal ist, dass die gewaltigen Erfolge und Veränderungen Chinas
im Zuge der Reformpolitik seit Ende der 70er-Jahre nunmehr vergessen
werden: Etwa der Wandel Chinas von einem totalitären Staat der Mao-Ära hin
zu einem autoritären Gebilde, in dem ein größeres Maß an Pluralismus und
Liberalisierung herrscht und der Maximalstaat sich gegenüber der
Gesellschaft zurückgenommen hat. Ein derartiger Wandel von einem
bettelarmen Land zu einem Land mit unter mittlerem Einkommen, das sich in
kurzer Zeit erfolgreich von einer Plan- zu einer Marktwirtschaft gewandelt
hat, in dem die Dominanz des Staatssektors durch die Vorherrschaft des
Privatsektors abgelöst wurde, sich das Leben der großen Mehrheit der
Bevölkerung signifikant verbessert hat und in dem die Menschen größere
Rechte besitzen als jemals zuvor, wird nun plötzlich übersehen.
*
Ohne Zweifel entsprechen die Menschenrechtslage und die Strategien zur
Lösung sozialer Konflikte (noch) nicht europäischen Standards. Historische
Erfahrungen, die Vorstellung, dass Instabilitäten im Kleinen Flächenbrände
im Großen entzünden, das Land ins Chaos stürzen und den Zerfall des Landes
herbeiführen könnten, führen oftmals zu überhartem Vorgehen der Behörden
gegenüber Andersdenkenden. Soziale und politische Stabilität sowie die
Bewahrung der Einheit des Landes genießen oberste Priorität. Die große
Mehrheit der Bevölkerung trägt diese Priorität für politische und
gesellschaftliche Stabilität mit. Ja, die Bewahrung der Stabilität durch
einen starken und manchmal harten Staat trägt diesem sogar Legitimität ein.
Ein Land mit derart zentrifugalen und disparaten Tendenzen ist nur sehr
schwer zu regieren, zu kontrollieren und zu führen. Das ist den meisten
Chinesen sehr bewusst. Von der chinesischen Führung und von vielen
Intellektuellen wird durchaus gesehen, dass Demokratie ein ideales
politisches System darstellt. Die Frage ist nur, wie man dorthin gelangen
kann. Dafür bedarf es ökonomischer, sozialer und bewusstseinsmäßiger
Voraussetzungen, die in Europa erst im Laufe von Jahrhunderten entstanden
sind und nicht einfach aus heiterem Himmel eingeführt werden können.
*
Wer glaubt, durch massive Proteste und Druck in China etwas verändern zu
können, verkennt die reale Lage. In Fragen der nationalen Einheit und der
politischen Stabilität beugt sich China keinem äußeren Druck. Und die
Chinesen im In- und Ausland stehen weithin geschlossen hinter der
politischen Führung Chinas. Ergebnis dieser Proteste war eine innen- und
außenpolitische Verhärtung, die sich erst allmählich wieder auflösen wird.
Weder ändern die Proteste etwas am Status quo noch bringen sie Vorteile für
Tibet und die Tibeter. Und um es noch einmal zu betonen: Veränderungen in
Tibet sind nur über und mit Peking möglich und erfordern Geduld.
*
Was ist generell zu empfehlen: Die konstruktiven Dialoge
(Rechtsstaatsdialog, Menschenrechtsdialog) mit Peking sollten meines
Erachtens fortgesetzt werden, sie sollten auf jeden Fall aber effektiviert
werden. Auch eine Zusammenarbeit im Hinblick auf Konfliktprävention und
Konfliktmanagement halte ich für sinnvoll. Ich halte es ferner für
sinnvoll, dass langfristig ein Austausch über die Frage geführt wird, dass
und weshalb größere Autonomierechte für ethnische Minderheiten nicht zu
Instabilität und Separatismus führen müssen, sondern die Beziehungen
zwischen Mehrheit und ethnischen Minderheiten harmonisieren und den Staat
stabilisieren können. Die politische Führung Chinas hat in den letzten drei
Jahrzehnten durchaus bewiesen, dass sie lernfähig ist.
*
Ein Boykott der Olympischen Spiele ist nicht sinnvoll. Zum einen ist durch
die Proteste in Tibet keine neue Situation entstanden. Die jetzt
kritisierten Probleme existierten auch schon vor der Vergabe der Spiele an
Peking. Zudem hätte ein Boykott in erster Linie negative Auswirkungen auf
die Entwicklung Chinas: in der öffentlichen Meinung, in der
nationalistische Strömungen latent vorhanden sind, die sich vor allem auch
im Internet Bahn brechen; solche Strömungen würden weiter an Einfluss
gewinnen, vor allem unter der Jugend; der Eindruck, der Westen wolle Chinas
Aufstieg verhindern, würde sich verstärken. Innenpolitische und
außenpolitische Verhärtung wären die Folge. Die weitere Einbindung Chinas
als Partner in internationalen Fragen, der sich zunehmend an der
Weltinnenpolitik beteiligt, würde in Frage gestellt. Wir sollten uns
darüber klar werden, dass die dringendsten Weltprobleme nicht gegen,
sondern nur mit China gelöst werden können.
*
Die Sportler nun verpflichten zu wollen, sich während der Spiele öffentlich
politisch zu äußern, erscheint ausgesprochen ambivalent. Zum einen können
die Sportler nicht nachholen, was die Politik versäumt hat; Proteste würden
auch wenig bringen, weil sie schon auf Grund der Sprachbarriere nicht
gegenüber den Bürgern Chinas geäußert werden könnten; auch würden solche
Proteste eher auf Ablehnung unter der chinesischen Bevölkerung stoßen. Sie
blieben somit ein symbolischer Akt, der weitgehend nur vom Westen zur
Kenntnis genommen würde.
16 Apr 2008
## AUTOREN
Thomas Heberer
## TAGS
China
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