# taz.de -- Debatte Ansehen Chinas: Von den Taiwanern lernen | |
> Eine pauschal verurteilende Kritik der Chinesen bringt keine | |
> Demokratisierung. Tibet zeigt das. Taiwan versucht daher einen neuen, | |
> diplomatischen Weg - mit einigem Erfolg. | |
Bild: Im Westen wird China häufig als ökonomische und politische Bedrohung wa… | |
Kürzlich rief mich Jim Yardley, der Peking-Korrespondent der New York | |
Times, an. Es war mir eine große Ehre. Der Mann hat sich in China den | |
Pulitzerpreis verdient, ist ein fantastischer Kenner des Landes und kümmert | |
sich in der Regel wenig darum, was deutsche Kollegen über China zu | |
berichten wissen. Ich dagegen studiere jeden seiner Artikel. | |
Yardley wollte Details über den Aufstand der Tibeter in Lhasa erfahren, wo | |
ich gewesen war. Er recherchierte über die These, nach der die chinesische | |
Polizei am Tag des Aufstands absichtlich nicht eingegriffen habe, um | |
anschließend die Bilder von randalierenden Tibetern als Propagandamaterial | |
nutzen zu können. Ich widersprach. Meinem Eindruck nach zeugte die | |
Zerstörung etlicher Straßenzüge in Lhasa von einer hohen Gewaltbereitschaft | |
der Demonstranten, die, wäre sie auf noch größere Gegengewalt der Polizei | |
gestoßen, zu einem Blutvergießen ganz anderen Ausmaßes geführt hätte. | |
Yardley blieb bei seiner These. | |
Inzwischen reiht sich sein Bericht ein in die Begleitmusik jener | |
"Einheitsfront" gegen China, von der die Grünen-Politikerin Antje Vollmer | |
in der Süddeutschen Zeitung unlängst gesprochen hat. Denn wenn man wirklich | |
von einem zurückhaltenden chinesischen Polizeieinsatz in Lhasa sprechen | |
könnte - was spräche dagegen, ihn als Fortschritt zu würdigen? Doch solche | |
Zwischenfragen stellt man im Augenblick vergeblich. Obwohl die sich selbst | |
gegenüber reichlich unkritische Kritik des Westens immer wieder von | |
China-Experten in Frage gestellt wird, mehren sich die antichinesischen | |
Stimmen. Befeuert werden sie aktuell einmal mehr durch die jüngst | |
veröffentlichten Berichte über die Zahl der Hinrichtungen von Chinesen im | |
Jahr 2007. Es sind viel zu viele. Keine Frage. Doch laut amnesty | |
international sind 2007 etwa halb so viele Menschen hingerichtet worden wie | |
im vorausgegangenen Jahr. Grund dafür ist eine Justizreform in China, die | |
festlegt, das jedes Urteil vom Obersten Gerichtshof in Peking in Revision | |
gelesen wird. Warum sollte man das nicht als Fortschritt sehen - und | |
würdigen? Das westliche Einheitsfrontdenken jedoch verbietet solche | |
wichtigen Differenzierungen. | |
Gegen wen aber wendet sich die Chinakritik? Und vor allem: Für wen kämpft | |
sie? Hat Antje Vollmer recht, wenn sie sagt: Der Kampf gegen China dient | |
nach dem Krieg gegen den Terror vor allem der Selbstverständigung des | |
Westens mit sich selbst? | |
Die internationalen Medien geben vor, ein Regime zu kritisieren, das sich | |
seit dem Tiananmen-Massaker vor 19 Jahren nicht verändert habe. Der | |
prominente CNN-Journalist Jack Cafferty nannte jetzt die chinesischen | |
Kommunisten die "gleichen Schläger und Verbrecher, die sie in den letzten | |
50 Jahren waren". Er löste in China einen Aufschrei aus - keineswegs nur in | |
den zensierten KP-Medien. | |
"Lieber Georg, diesmal ist CNN wirklich zu weit gegangen", mailte mir Sarah | |
Liang, Sprecherin von Greenpeace in China - eine Shenzhen-Chinesin. | |
Cafferty wollte mit seinem Kommentar sicher nicht progressive Frauen wie | |
Liang verärgern. Er wollte Pekinger Betonköpfe ärgern, wie die meisten, die | |
jetzt im Westen China kritisieren. | |
Das Problem ist nur: Die meisten Chinesen sehen ihr Land heute ganz anders, | |
als es die westlichen Kritiker tun. "Wie Chinas Regime sein Volk | |
unterdrückt", titelte der Spiegel vergangene Woche. Er vergaß leider, jenes | |
Volk zu befragen. Zuverlässige westliche Umfragen in China haben in den | |
letzten Jahren immer wieder ergeben, das zwei Drittel bis drei Viertel der | |
Chinesen ihre Regierung gutheißen und ihre privaten Lebensaussichten im | |
Land positiv sehen. Diese Auffassungen aber sind ihnen nicht von der | |
Propaganda eingebläut worden, sondern das Resultat konkreter bürgerlicher | |
Lebenserfahrung: des Mehr an Information, Bildung und Berufschancen in der | |
Volksrepublik, des Mehr an Wohlstand und sozialer Absicherung. | |
China vor zehn, erst recht vor zwanzig Jahren war ein Land, in dem fast | |
jeder um seine Existenz kämpfen musste, in dem es für die meisten Menschen | |
normal war, nur einmal im Jahr Fleisch zu essen, in dem jeder Student froh | |
war, überhaupt einen Studienplatz ergattert zu haben - die Wahl des | |
Studienfachs überließ er der Universität. Das alles hat sich nachhaltig | |
verändert - unter Führung der Kommunistischen Partei (KP). | |
Die westlichen Kritiker aber scheinen den Chinesen nun sagen zu wollen, | |
dass sie diese kommunistische Banditenbande besser davonjagen sollten. Kein | |
Wunder, dass sich die Angesprochenen dann hinter ihre Regierung stellen - | |
auch wenn man bisher selten einen Chinesen traf, der nicht auch gravierende | |
Kritik an der KP äußerte. Doch eben nicht pauschal. Dafür ist zu viel gut | |
gelaufen, gerade auch in Sachen politischer Meinungsfreiheit. Das Internet | |
hat die Öffentlichkeit in China radikaler verwandelt als im Westen. Vor | |
zehn Jahren gab es nur die KP-Propaganda, heute ist jede westliche | |
Meinungsäußerung, und sei es mithilfe einer eigens zur Dekodierung | |
entwickelten Software, für jedermann in China abrufbar. Das führt freilich | |
auch dazu, dass westliche Meinungen stärker auf den Prüfstand gestellt | |
werden. Die Tibetdiskussion ist dafür das beste Beispiel. | |
Mit ihrer Mail übersandte Liang das von den Behörden offenbar unerwünschte | |
T-Shirt-Design eines Pekinger Studenten der Tsinghua-Universität. | |
Aufschrift: "Tibet in China, Fackel im Herzen". Es soll wohl als Antwort | |
auf die "Free Tibet"-Hemden dienen, die jetzt im Westen populär sind. | |
Tatsächlich halten die meisten Chinesen die "Free Tibet"-Kampagne längst | |
für eine Unabhängigkeitsbewegung, auch wenn der Dalai Lama weiterhin nur | |
eine hochgradige Autonomie von China fordert. Der Eindruck ist falsch, aber | |
er ist zumindest nachvollziehbar. | |
Wer die Chinesen ständig des Völkermords, und sei es auch nur ein | |
"kultureller", in Tibet bezichtigt, erweckt nicht den Eindruck, er wolle | |
mit Peking komplizierte Autonomieverhandlungen führen. Für die Einheit der | |
Nation aber sind die chinesischen Studenten schon in der berühmten | |
4.-Mai-Bewegung von 1919 auf die Straße gegangen. Sie ist eine alte | |
Forderung der Demokraten, nicht nur der Kommunisten in China. Sie hat die | |
Streitfragen Tibet und Taiwan immer eingeschlossen. | |
China erlebt dieser Tage nicht nur die Krise in Tibet, sondern auch die | |
Annäherung in Taiwan. Dort, wo der Präsident jahrelang ein offener | |
Unabhängigkeitsbefürworter war, hatte man eigentlich die Proteste gegen | |
China erwartet. Stattdessen führt in Taiwan nun ein neu gewählter Präsident | |
erfolgversprechende Verhandlungen über offene Handelswege, Direktflüge und | |
andere Lockerungen der Grenze zur Volksrepublik. Dahinter steckt | |
wirtschaftliches Interesse, aber auch Anerkennung für die erfolgreiche | |
Reformentwicklung auf dem Festland. Eine Ironie der Geschichte: Gerade die | |
Taiwaner stehen China und der KP unglaublich kritisch gegenüber. Gerade sie | |
gehen auf Peking zu, während sich der Rest der Welt von China abwendet. | |
Liegt es daran, dass sie China besser kennen? | |
16 Apr 2008 | |
## AUTOREN | |
Georg Blume | |
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