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# taz.de -- Anderer Blick auf 1968: Wer ist Dorothea Ridder?
> Verständlich, dass niemand mehr etwas über 68 hören will - denn selbst
> schrille Faschismusanalogien langweilen inzwischen. Ein guter Moment zum
> herauszufinden, wer Dorothea Ridder ist.
Bild: Das ist Dorothea Ridder heute.
Dr. med. Dorothea Ridder, Ärztin im Ruhestand. Geb. 1942 in Berlin-Pankow,
kam 1959 m. Mutter u. Bruder n. Westberlin, erhielt als anerkannter
Flüchtling eine Ausbildung im Lette-Verein, Höhere Wirtschaftsschule.
1961-62 Sekretärin im wissenschaftlichen Julius Springer Verlag. 1962
Verlobung. 1962-1964 am Berlin-Kolleg das Abitur nachgeholt. 1964
Immatrikulation FU Berlin, Studium am Otto-Suhr-Institut. H. J. Hameister
kennengelernt u. so zum Kommune-Zirkel gekommen. 1967 Mitbegründerin d.
Kommune 1, lebt mit Hameister aber in der SDS-Kommune. Mitarbeit am frisch
gegründeten antiautoritären Kinderladen als "Spielfrau". Arbeit als
Animierdame in Nachtbars zwecks Gelderwerb fürs Studium. 1969 bei Günter
Ammon z. Gruppenpsychotherapie. Studienwechsel zur Humanmedizin. Neben d.
Studium Wohnung organisiert (f. RAF-Fälscherwerkstatt), Post abgeholt,
Verhaftung, Inhaftierung. Ein Jahr in Isolationshaft gesessen
(Untersuchungshaft), Haftverschonung. 1973 ärztliche Vorprüfung. 1973 u.
1975 im Uniklinikum in Ankara/Türkei praktiziert. 1975, nach fast 5 Jahren,
Verurteilung wg. "Bildung einer kriminellen Vereinigung" zu 1 Jahr Haft
(wg. guter Führung zur Bewährung ausgesetzt). 1976 ärztliche Prüfung. 1977
Approbation u. Praxisvertretungen in Westdeutschland. 1980 Doktortitel
(Dissertation über Intrauterinpessare). 1981-1983 Gemeinschaftspraxis mit
dem Arzt Nissim Behar. Ab 1983 Besuche bei Manfred Grashof (RAF, war
inhaftiert wg. Mordes in d. JVA Diez a. d. Lahn). Ab 1984 eigene Praxis am
Nollendorfplatz in Berlin. März 1984 Verheiratung mit Manfred Grashof i. d.
JVA-Dietz. Ab 1989 Praxis geteilt m. e. männlichen Kollegen. Im Juni 1997
schwerer Schlaganfall, Praxisauflösung.
Dorothea Ridder wohnt im Süden Berlins, im Souterrain eines großen
villenartigen Mietshauses am Schlachtensee. Vom Arbeitszimmer aus kann sie
auf die alten Bäume im Garten blicken. Im Sommer stehen die Fenster und
Türen den ganzen Tag offen, von der Küche aus kann sie zuschaun, wie die
beiden Hunde ihrer Freundin miteinander spielen, draußen im Hof. Sie
empfängt uns mit jenem freundlichen Lächeln, mit dem sie bereits als junge
Frau lächelte. Heute mischt sich ab und zu ein bitter ironischer Zug
hinein. Geschickt gießt sie den Tee auf, ihre von der halbseitigen Lähmung
betroffene linke Hand assistiert der rechten, hilft, wo sie kann.
"Fein zugreifen geht nicht, fest auch nicht, aber beim Fleischschneiden
kann ich es mit der Gabel festhalten. So ist das. Erst habe ich die Sprache
verloren, mein Gedächtnis. Konnte mir überhaupt keine Namen mehr merken,
nichts. Insoweit musste ich sagen, leider, ich habe einen Dachschaden. Eine
Scheißgeschichte. Darunter leide ich heute noch. Mein Hypocampus, der ist
sehr dünn. Es ist abenteuerlich, wenn ich ein Buch gelesen habe, dann, nach
14 Tagen ist alles weg. Und dann gibt es andere Geschichten, wo ich dann
nicht sagen kann, dann und dann habe ich studiert, dann und dann haben wir
uns getrennt, das und jenes ist passiert. Da habe ich auch meine Probleme.
Deshalb wollte ich auch mal sehen, ob homöopathisch da noch was gemacht
werden kann, und hab ihn angerufen … Hameister. Und da habe ich ihn
gefragt" (sehr lange Pause), "ob er mich behandeln kann. Er sagt Nein. Hat
mir eine Homöopathin empfohlen. Wir haben damals, nach der Kommune, Medizin
angefangen zu studieren, er ist dann Facharzt für Neurologie geworden, war
Psychoanalytiker und heute macht er Homöopathie. Also er hatte schon damals
den Zwang - es gut zu machen, damit hat er die ganze linke Szene
beeindruckt. Ich habe auch darunter gelitten, es hat mich eingeschüchtert.
Das war mir neu.
Ich hatte keinen Grund, gegen die autoritäre Familie … das geht ja nicht.
Ich bin 1942 geboren, meine Mutter hatte immer viel zu tun, später war sie
Krankenschwester. Ich habe ihr Elend mitgekriegt, wie sie dann dick und
abgearbeitet war. So wollte ich niemals werden! Sie hat immer nur gewartet.
Auf ihn, dass er nach Hause kommt. Mein Vater war immer ein sehr
sympathischer, ein sehr schöner Mann, der, manchmal, auch nach Hause kam.
Er war ein schöner Grafiker, hatte ein Dekorationsgeschäft, ist viel
herumgeschweift mit anderen Damen, oder er war im Gefängnis, weil er für
den Westen gearbeitet hat. Aber wenn er nach Hause kam, dann war immer die
gute Laune da, wirklich. Das ist mein erstes Verhältnis zu Männern. Das
zweite war zu meinem Bruder, fünf Jahre älter, der war eine Zangengeburt
und wurde ganz breitgequetscht. Und wurde also furchtbar … du bist sooo
hässlich! Es hat mir wehgetan, dass ich ihm nicht helfen konnte. Letzten
Endes war die Kindheit sehr günstig für mich, ich bin nie verkloppt worden,
hatte nie Stubenarrest, meine Mutter hat gesagt: Mach, was du willst. Ich
musste nicht - Junge Pioniere, Arbeiterklasse und das alles! Sie hat viele
Bücher gelesen, also bei ihr war es nie langweilig. Mein Vater ist dann
enteignet worden, und wir sind in den Westen übergelaufen. Meine Mutter,
mein Bruder und ich. Die beiden haben einen Dekorationsladen aufgemacht.
Mein Vater ist nach Hamburg übersiedelt und hat dort einen Laden gehabt,
später mit seiner zweiten Frau. Ich konnte ihm nicht böse sein. Der Westen
war prachtvoll. Die Ausländer, die ganze Welt zum Angucken, und keine
Pioniere! Nicht mehr die ewigen Sozialismussprüche überall. Ich konnte dann
im Westen so … Modell stehen, ein bisschen Geld verdienen bei Künstlern.
Habe mich mit einem Wirtschaftsstudenten verloben müssen, der hatte mich
entjungfert und die Couch war so ein bisschen blutig. Ein sympathischer
Mann, ein Westdeutscher. Aber ich wollte ja nicht so werden wie meine
Mutter.
Und ich habe dann die Ausbildung gemacht, wurde Sekretärin. Meine Mutter
meinte, Sekretärin, das wäre doch sehr gut für mich. Dann habe ich aber das
Abitur nachgemacht und nebenher Geld verdient mit "drücken", also in einer
Drückerkolonne habe ich die Zeitschrift Praline verkauft. Es gab eine ganze
Zeit, wo ich "gedrückt" habe, und eine ganze Zeit habe ich animiert in der
Bar. Da habe ich gesessen … und dann bin ich hingegangen: Sind Sie allei-,
alleine hier? Trinken Sie doch mal einen guten Champagner mit mir. Das war
keine Problem. Ich hatte niemals irgendein Problem, dass mich jemand
ungewollt … bin auch mit keinem weggegangen. Es war okay. Und dann habe ich
angefangen zu studieren, endlich … Von meinem Verlobten war ich schon
getrennt und habe dann in einem Studentenwohnheim in Zehlendorf gewohnt.
Das ist wichtig, jetzt für mich. Da habe ich einen Haitianer kennengelernt,
der hat mir sehr viel erzählt von dem, was ihm und dem Land so passiert ist
… ich erinnere mich jetzt nicht mehr." (Haitis Sklaven haben Ende d. 18.
Jh. nach d. Vorbild d. Franz. Revolution einen Sklavenaufstand gemacht, sie
schufen die erste u. einzige Sklaven-Republik der Welt. Sie hielt nur kurz.
1964 Diktatur unter Duvalier d. Ä., gest. 1971. Anm. G.G.) "Ich bin damals
so reingewachsen in einen Lateinamerika-Zirkel, da waren sehr viele, die
also erzählt haben von sich und was die Europäer gemacht haben. Das hat
mich sehr getroffen. Und die in Bolivien … Dieser Haitianer sagte: Wenn ich
fertig bin mit dem Studium, natürlich, ich gehe zurück und bekämpfe
Duvalier. Der muss weg! Das war für mich" (stark bewegt) "also Ahhhh … Wir
und die anderen, die später in der Kommune waren, auch Dutschke, wir waren
dann in ,Viva Maria'." (Revolutionsburleske v. Louis Malle, Kultfilm d.
APO, lief 1966 i. Berlin. Anm. G.G.) "Und hinterher habe ich gesagt, wenn
ich zu Ende studiert habe, komme ich mit … ah! Ah! Danach wurde die Gruppe
,Viva Maria' gegründet. Also das war ein Glück für mich. Aber diese andere
Sache … ,Africa Addio', da war ich drin mit den ausländischen Freunden. Und
der war schon wütend, unser Protest. Gegen …" (Pseudodokumentarischer Film
über die brutalen Gewaltorgien v. Söldnertruppen i. Kongo, u. a. tritt
"Kongo-Müller", ein deutscher SS-Mann auf. Für den Film wurden
Erschießungen und Massaker so arrangiert, dass die Lichtverhältnisse gute
Aufnahmen ermöglichen. Anm. G.G.)
Ein Kater kommt zum Fenster herein. "Oskar", sagt Dorothea. Er springt auf
Elisabeths Schoß, beim Streicheln findet sie zahlreiche Zecken an seinem
Kopf. Sie holt ihre Zeckenkarte aus der Tasche, die wir immer bei uns haben
für unseren Hund. Sie beginnt eine Zecke nach der anderen vom Katerkopf zu
entfernen und in ein leeres Marmeladenglas abzustreifen, während Dorothea
versonnen weiter erzählt: "Und dann habe ich in der Zeit Hameister
kennengelernt … In der Mensa. Er war ein sehr schöner Mann, nein, wirklich!
Also mit dem … wir konnten stundenlang … stundenlang über Philosophie und
so - oder was wir gelesen und gehört hatten. Er hat mir auch viel erzählt.
Stundenlang. Ich weiß noch - heute ist er vollgebaut, der Potsdamer Platz.
Damals war er leer. Ein paar Kriegsruinen noch, da war ja direkt die Mauer.
Er wohnte in der Kurfürstenstraße. Wir sind stundenlang spazieren gegangen,
ich habe ihm gern zugehört. Heute muss ich staunen, wie neidlos ich damals
die absolute Vorherrschaft von Männern akzeptiert habe, ich habe mich
einfach geehrt gefühlt, wenn ich ihnen zuhören durfte. Doch, es war eine
sehr schöne Zeit. Wir haben wunderbar zusammen geschlafen. Es war für mich
kein Problem, da jetzt, da gabs nicht so dieses … gar nicht, ich war völlig
frei! Wenn ich mit ihm allein war, habe ich unheimlich gut reden können mit
ihm, über alles. Er war ja sehr engagiert, wusste sehr viel, hat viel
gelesen. Marx, Wilhelm Reich. Ich fand die Theorie von Marx sehr
einleuchtend, aber dass die Gesellschaft sich ändert, wenn die
Produktionsweise sich ändert, also in der DDR …? Und ich habe gesagt: An
die revolutionäre Kraft der Arbeiterklasse glaube ich nicht … nicht hier.
Ich bin eigentlich unpolitisch gewesen. Ich habe, nicht so wie andere, lies
das und das, das müssen wir machen … Es war bei mir eine Suche … ich weiß
nicht mehr, nach was? Es fällt mir noch ein … Ich habe studiert, ich wollte
die Welt und die Sprachen kennenlernen, ich wollte verstehen … Das ging
damals nur - zumindest für mich - nur über männliche Liebschaften.
Und dann kam Kunzelmann nach Berlin. Ich erinnere mich an diesen Ausruf von
Hameister - von allen - Ah! Kunzelmann kommt! Hameister und ich im Bett.
Als er kam, hatte ich nichts mehr zu sagen. Männerfreundschaften! Weg - da
war nichts, keine Frage mehr, gar nichts. Ich war erledigt. Ich dachte, na
gut! Aber es ging ja darum, Kommune zu gründen. Also das Experiment. Bei
mir war das kein politischer Plan. Nur diese Vorstellung, mit anderen
zusammenleben, das fand ich sehr gut. Das gab es nirgends bei uns. Und die
hatten auch Angst, andere sind ja abgehauen, die erst ganz groß … Dutschke,
Rabehl, haben abgesagt. Lieber doch nicht! Da habe ich gesagt. Doch, ich
will! Das mach ich! Es war nicht wegen Hameister, sondern weil es ein
schönes Projekt war, wenigstens einen Versuch wollte ich wagen. Und das
Komische, da war nichts von freier Sexualität. Die Männer, die da
mitgemacht haben, zwar sind die sympathisch, aber: Bei mir kam da nichts
hoch. Ich erinnere mich, das muss Teufel gewesen sein, mit dem ich mal
versucht habe. Damit ich nicht immer nur mit Hameister, und wir haben dann
im Bett gelegen und nur gekichert, er wollte auch nicht.
as Hauptvergnügen in der Kommune war eigentlich dieses Ritual. Die
Zeitungen jeden Tag, wie die sich aufgeregt haben, o Gottogott! Die Hetze
in den Zeitungen … zum Frühstück. Und dann die Aktionen der Kommune, nett,
phantasievoll. Ich selber konnte nicht gezielt Eier werfen. Die Aktionen,
die wir miteinander gemacht haben, die haben geklappt, aber die Sachen
zwischen den Personen klarkriegen, das hat nicht geklappt. Es war eine
schöne Phantasie.
Das Einzige, was ich jetzt, immer mit Abstand, sage - ich genieße
Kunzelmanns Phantasie. Das ist wohl die Phantasie eines reich verwöhnten
und erzogenen Bankierssohnes." Ich korrigiere: Sparkassendirektors. Sie
lacht. "Nein, nein! Was ich meine, diese Art von wirklicher Phantasie, ich
muss nachdenken … ich kam mir immer poplig vor. Aber ich kann ja nicht ein
Mann werden, ein Kunzelmann. Natürlich war ich eifersüchtig. Als wir uns
das letzte Mal gesehen haben, das war beim Foto für den Stern auf dem
Friedhof. Wir haben uns so hingestellt. Es war anders. Damals, 67, haben
wir uns alle ausgezogen und an die Wand …, wir waren froh, als es vorbei
war, und wir uns wieder was anziehen konnten. Dann auf dem Friedhof, nach
diesen Jahrzehnten, treffen wir uns wieder als alte Herrschaften." Sie
lacht. "Und ich sagte zu Kunzelmann: Knie dich nieder. Wenigstens einmal!
Ja. Er hats gemacht, natürlich. Ich bin da eine Zeit damals ziemlich
traurig gewesen, daran hat mich das erinnert. Ja und damals, auch weil ich
so traurig war, da habe ich eigentlich keine Möglichkeit gesehen, wie es
weitergeht, Hameister war ständig beschäftigt, ich hatte auch keine
konkrete Hoffnung, was politisch eigentlich geändert werden kann, wie der
Kampf … Andererseits, es war ja ganz neu, dass man sich überhaupt gewehrt
hat, politisch! Wann hat sich denn das letzte Mal einer gewehrt?! Protest,
da war ich dabei! Aber die Leute überzeugen, ist schwierig. Wovon denn, von
uns? Und Kommune, auch gut. Aber ich habe ja mit Hameister in der
SDS-Kommune am Kudamm gelebt, nicht in der K 1. War ich in der K 1? Es
könnte sein, dass ich vorübergehend mal … Ich war oft dort, ja. Aber
letzten Endes, ich habe mich dann zurückgezogen. Es war mir zu viel … Ich
studierte politische Wissenschaften am OSI, war ,stummes Mitglied' im SDS,
aber im SDS-Arbeitskreis ,Formierte Gesellschaft', hieß das, glaube ich.
Ich habe mit Stottern den Gründungsvortrag der Kommune 1 im SDS verlesen
damals, habe Broschüren verkauft und bin animieren gegangen … Und ich habe
natürlich viel gelesen, viel gelernt. Was ich gelernt habe, den Kudamm rauf
und runter laufen, demonstrieren. Keine Angst haben. Vor nichts! Und auch
toll: klauen. Gut und viel klauen! Das war wichtig. Aber jetzt, mit meinem
Dachschaden, da ist es anders … ich bezahle immer. Ich habe damals auch die
ganzen Grundlagentexte … ja, studiert, Marcuse. Und ich dachte immer, ich
brauche mehr Zeit, oder was anderes mal … da habe ich dann, ich glaube, es
war nach dem 2. Juni, mit Dagrun und ihrem Kind im antiautoritären
Kinderladen … lieber mit denen Kontakt gehabt. Ich war noch im SDS, bei den
Versammlungen und so, aber habe auch anderes … War ne ganze Zeit in anderen
Gruppen …"
er Kater liegt in Duldungsstarre auf Elisabeths Schoß, die Zecken krabbeln
matt im Marmeladenglas. "Ich war bei Günter Ammon in der Gruppenanalyse,
ich war bei Dieter Duhm." (Ammon, 1918-1995, umstrittener,
gruppenanalytisch orientierter Psychoanalytiker. Dieter Duhm, auch
"Angst-Duhm" genannt, wegen seines Buches "Angst im Kapitalismus".
Soziologe, Psychoanalytiker, später Künstler. Er war im SDS, Reichianer,
befasste sich dann aber u. a. mit der Psychosekte AAO v. Otto Mühl.
Gründete Projekte f. freie Liebe, Frieden etc. Noch heute gibt es sein
"Heilungs-Biotop Tamera" in Portugal. Anm. G.G.) "Und dann war ich eine
ganze Zeit … beim … Bhagwan." (Bhagwan 1931-1990, indischer Philosoph, dann
Gründer der "Neo-Sanjassin-Bewegung" 1970, vertrat die Befreiung v.
sexuellen u. religiösen Dogmen, Guru mit Ashram in Poona, Indien, zu dem i.
d. 70er Jahren Abertausende von Europäern pilgerten. Anm. G.G.) Wir machen
unserer Abneigung gegen diese Personen und Tendenzen kurz Luft. Dorothea
jedoch bleibt unbeirrt beim Thema: "Also, ich weiß gar nicht mehr, wo ich
wann war, die Reihenfolge. Jedenfalls war immer eine Gruppe da, und immer
war ein Mann da. Irgendeiner war immer der Oberguru. Es war nicht so … auch
bei Ammon, ich dachte, der ist ja der absolute Obermacker! Aber für eines
bin ich ihm dankbar. Er hat gesagt: Studiere Medizin. Medizin ist das Beste
für dich. Das Einzige, was ich noch weiß, als ich gewechselt habe zur
Medizin, da bekam ich dann kein Stipendium mehr. Von zu Hause hatte ich
auch nichts. Ich war sehr knapp. So dass ich wieder animieren musste
nachts. Aber es war okay
Und dann vor dem Physikum gabs dann irgendwie … so was, dass ich eine
Wohnung besorgen, oder irgendwelche Taschen hin- und hertragen sollte. Was
ich natürlich Freunden gegenüber gemacht habe. Und da bin ich dann also
verhaftet worden als Mitglied der RAF und im Gefängnis gelandet in
Köln-Ossendorf und saß so ein Jahr in Isolation. Für wen der Koffer, was
und wie … ich weiß es nicht mehr. Was ich knapp in Erinnerung habe, ist,
dass ich jeden Tag höflich vernommen wurde, sie fragten, wollen Sie uns
nicht ein bisschen weiterhelfen? Denken Sie daran, Ihr Studium!" (In
Dorotheas Urteilsbegründung v. Juni 75 wird ein gut hierher passender Satz
der Zeugin G. zitiert, der Frau, die mit Dorothea im Auto saß. "Nach der
Verhaftung (…) äußerte sich Gudrun Ensslin abfällig über die von der
Angeklagten Ridder geleistete Arbeit und gab zu verstehen, dass diese sich
stark ihrem Studium verpflichtet gefühlt habe, was sich mit einer Mitarbeit
in der (Baader-Meinhof) Gruppe nicht vereinbaren lasse." Anm. G.G.)
"Also für mich war das gar nicht so schlimm, die Isolationshaft. Im
Gegenteil, ich durfte meine medizinischen Bücher haben und alles, ich
konnte endlich mal in aller Ruhe …" Sie lacht sehr. "Wie ich entlassen
wurde, tatsächlich, der Termin wurde für mich nachgeholt, ich bin da rein,
hab das Physikum gemacht und weiterstudiert. Aber hatte immer polizeiliche
Auflagen und so." Sie seufzt laut. "Ich habe weiterstudiert, zu Ende
studiert, war in der Türkei, habe viel Unterstützung bekommen … von schönen
Männern. Und ein schöner Mann, Kollege, leider verheiratet, hat mir
angeboten, in seine Praxis mit einzusteigen, in der Seesener Straße in
Wilmersdorf. Als die Praxiswohnung dann gekündigt wurde, bin ich zum
Nollendorfplatz gezogen, alleine, und habe dort eine Praxis aufgemacht. Die
Patienten kamen mir alle nach. Das war mein Leben! Nollendorfplatz ist so
eine Gegend in Schöneberg … Ich war eine der Ersten damals, die mit
Methadon angefangen hat für die Fixer da von der Szene. Ich war praktische
Ärztin und habe klassische Medizin gemacht.
Zu mir kamen ja Leute, jahrelang sah ich die in meiner Praxis. Das war mein
Leben, das ich immer noch vermisse … Ich habe viel gearbeitet, viel. Und
ich habe natürlich viel geraucht in diesen 15 Jahren. Und ich hatte nicht
so ein Ding … das ist die oder der, die haben das und das … nein, ich habe
viel dagesessen und nur noch zugehört … das war … Nein, also ich wollte ja
nicht, so, und dann der Nächste bitte! Ich habe meine Patienten eigentlich
… geliebt! Das, ja. Und dass ich so einen Ausweg gefunden habe als Ärztin -
also keine so großen politischen Lösungen musste ich … kein Machtding, ganz
klar, es war ein Ausstieg! Kleine Lösungen in meiner Praxis am
Nollendorfplatz. Ein Handwerk kann ich, das mache ich richtig. Meine
Patienten waren mein Leben! Das war auf der einen Seite. Und auf der
anderen Seite habe ich gleichzeitig mit einem Mann zusammengelebt, der 20
Jahre jünger ist. Ein schöner Mann! Andrew Hood, der kannte mich über Erich
Fried - der ja lange Patient war bei mir. Und der Vater von Andrew - auch
ein schöner Mann - war Nachbar von Erich. Auch jüdisch und alter Trotzkist,
er war Partisan in Italien. So kam die Bekanntschaft, und Andrew … das war
eine schöne und zärtliche Beziehung. Aber nach vielen Jahren hat er sich in
eine jüngere Frau verliebt. Es war für mich sehr traurig, aber eigentlich
nicht überraschend. Und zu Fried noch, es war so, dass, 1981 oder 1982, er
diese erschütternde Krebsdiagnose hatte, unheilbarer Krebs! Jeder kann sich
vorstellen, was das bedeutet. Er kam immer nach Berlin, hat dann bei mir
gewohnt - auch vorher schon. Ich habe ihn behandelt und wir haben viel
geredet, sehr viel, über das Politische, das war ihm wichtig. Er hat dann
doch noch bis 1988 gelebt.
Und fast zehn Jahre später hat es dann mich erwischt. Schlaganfall, ein
Thrombus im Gehirn. Vom Rauchen! Und dann habe ich leider eine Epilepsie
entwickelt, also nicht solche Krampfanfälle. Aber es kann plötzlich und
überall passieren: Ich kippe um. Bum, weg! Letztens habe ich mich hier an
der Hand, das tut weh, Brüche, blaue Flecken. Also das bestimmt mein Leben!
Zum Glück bin ich nicht ganz alleine, nebenan ist eine Freundin, die Frau,
die mich im Park gefunden und sich lange Zeit um mich gekümmert hat. Auch
ein Freund. Aber es ist scheiße. Es bestimmt mein Leben. Aus heiterem
Himmel, Bum, weg! Jederzeit. Ich muss Antiepileptika nehmen. Und die muss
ich selber zahlen. Ich bin ja nicht versichert. Weil ich kein Geld mehr
hatte … Alles Geld, alles, vom Verkauf meiner Praxis, vom Verkauf meines
Grundstücks am See, alles weg! Ich habe nur diese Rente, da ist nichts
drüber. Aber ich muss das Medikament nehmen, jeden Tag. Fokale Epilepsie.
Im Chinesischen hat es vielleicht was mit unterdrückter Wut zu tun.
Jedenfalls, das Medikament macht mich furchtbar lahm. Das ist das Blöde.
Und was mich natürlich noch besonders stört, sind die Sprechprobleme und
die Gedächtnislücken … weshalb ich jetzt, vor unserem Gespräch noch mal das
Buch vom Ulli gelesen habe, ein tolles Buch, er erklärt den ganzen
Zusammenhang …" (Ulrich Enzensberger, "Die Jahre der Kommune 1", sehr
sorgfältig recherchierte Geschichte von APO und K 1 im historischen Kontext
der 60er-Jahre, 415 Seiten unverblümte Rückschau. Anm. G.G.) "Ich mag seine
Art zu schreiben, nur leider … schade ist, wenn ich das gelesen habe, ist
es trotzdem wieder weg. Ich mache mir Notizen, damit passiert das Gleiche."
Wir erzählen den steinalten Witz: Kommt ein Patient zum Psychiater und
sagt, Herr Doktor, es ist schrecklich, ich vergesse alles. Der Psychiater
fragt: Seit wann haben Sie das? Der Patient fragt: Was? Dorothea lacht,
nicht so ganz erheitert. Seltsam, Apoplektiker können nicht lügen. Das ist
schön.
"Ich habe was vergessen, ich bin ja verheiratet! Damals, als ich in
Westdeutschland Praxisvertretung machte und gehört habe, die bringen sich
alle um … sind plötzlich tot - ich kannte die ja fast alle dort -, also da
war ich sehr traurig. Und dann habe ich Kontakt zu Manfred Grashof
bekommen. Der hat, als die Polizisten ihn verfolgten … zurück… hat den
Polizisten plötzlich tödlich getroffen. Saß als Lebenslänglicher.
Jedenfalls habe ich ihn eine ganze Zeit lang besucht, als ,Frau Doktor',
das war schon was. Also, das muss ich sagen, er hat nie geklagt, er hat das
so hingenommen. Er hat mir viele Briefe geschrieben, seine Zelle mir
aufgemalt. Dann habe ich gesagt: So, jetzt heirate ich dich. Und so haben
wir geheiratet, im Knast.
er Gefängnispfarrer hat uns getraut. Da gibt es Bilder … Er ist dann nach
17 Jahren, glaube ich, entlassen worden." (Er sagte sich Anf. d. 80er-Jahre
von der RAF los u. wurde 1988, nach 16 Jahren Einzelhaft, durch Bernhard
Vogel, v. d. CDU, damaliger Ministerpräsident v. Rheinland-Pfalz,
begnadigt. Anm. G.G.) "Ich weiß noch, ich habe dann den Volker Ludwig vom
Grips-Theater gebeten, ob eine Arbeit bei ihm möglich wäre, denn eine
Arbeit ist ja wichtig, als Grundlage. Und der hat das gemacht. Manfred
arbeitet da als Beleuchter und auch Schauspieler, die ganzen Jahre, seit er
draußen ist. Und so war das, so ist er zufällig mein Mann geworden. Das ist
auch was, was ich gelernt habe in meinem Leben, oder besser gelernt habe …
auch durch meine Arbeit, dass diese Einteilung in Gut und Böse …"
Sie schweigt, der Kater ist von Zecken befreit und liegt wie bewusstlos da
vor Erschöpfung. Im verschlossenen Glas krabbeln die Zecken dem Licht
entgegen.
Dorothea seufzt und sagte: "Ich überlege. Also die ganze Moral … Viva
Maria, ja! Die ganzen Anti-Schah-Geschichten und Anti-Vietnam-Geschichten,
ja! Klauen, ja! Aber ich habe das Wort Revolution nie benutzt. Nach dem 2.
Juni. Ah! Es war ganz leicht, in die RAF reinzurutschen, sehr leicht! Mir
war ganz klar, was ich mitmache, vielleicht mal eine Wohnung besorgen, so
was, konspirativ, auch das Fälschen, okay, da konnte ich unterstützend sein
… aber so was wie: ,Natürlich darf geschossen werden'…" (Ulrike Meinhof,
1970 in Agit 883) "Nein! das habe ich damals schon gesagt. Ich konnte mir
nicht mal vorstellen, in so eine Bank reinzugehen, mit einer Knarre - ne,
nicht Angst -, dem die Knarre hinzuhalten und ihm in die Augen schaun dabei
… also … das ist absolut … das ist nicht ethisch. Dazu habe ich keine Lus…
Das ist mein ,Fehler!'" Sie lacht. "Gut, dass ich das im Beruf ja dann auch
Gott sei Dank erlebt habe. Bei jedem, der reinkam - und wenn ich ihm in die
Augen geguckt habe, war ganz klar, jeder war er selber. Ah! Ganz toll! Und
in jeden war ich wie verliebt. Und kann mir nicht vorstellen, dem gegenüber
noch mal das … den zu verletzen, im Gegenteil! Da habe ich nichts zu
bereuen." Denkt lange nach und sagt: "Was ich bereue, ist, dass ich
geraucht habe, zu viel geraucht habe! Das bedaure ich. Und das Zweite, was
ich zwar nicht bereue, was aber vielleicht schade ist, dass ich kein Kind
kriegen konnte. Am Anfang wollte ich nicht so werden wie meine Mutter, und
später, die Praxis, die war mein Traum. Aber der ist vorbei."
Während des Gespräches kam mir eine Idee. Einige von Dorotheas alten
Freunden und Bekannten könnten von ihr erzählen, von früher, um so die
Erinnerungslücken quasi zu vergesellschaften und vielleicht zu schließen.
Sofort stimmt sie zu und holt ihr Telefonbüchlein. Sie blättert, schweigt.
"Beispielsweise eine deiner Sprechstundenhilfen", schlage ich vor.
"Ja. Hier: Renate Günter, sie hat am längsten mit mir zusammengearbeitet,
hat den Laden aufrechterhalten. Und auch Barbara Fischer, eine wunderbare
Mitarbeiterin. Sie hat so ein ausgleichendes, sanftes Wesen. Nie Stress,
phantastisch! Sie ist jetzt krank geworden, aber vielleicht …? Und jetzt
gehe ich mal alphabetisch, von vorne… Ulrich Enzensberger, aber die habt
ihr ja selbst. Ach, Erich Fried 22, Dartmouth Road … komisch, so ein altes
Telefonbuch, 20 Jahre ist das her. Und hier natürlich, Manfred Grashof,
mein Mann, ich weiß nicht, ob er was sagen will, normalerweise mag er die
Presse nicht, aber bei dir … das ist eine Handynummer." Sie blättert und
hält es mit der Linken, seufzt: "Hameister, da habe ich nur die Nummer von
der Praxis, aber wahrscheinlich wird er das ablehnen. Und dann, Helmut
Höge, habt ihr auch? Und nun Andrew, Andrew Hood. Ich war sehr glücklich
mit ihm, all die Jahre, er hat mich verwöhnt. Später wurde er dann
Filmregisseur wie sein Vater. Aber es läuft wohl nicht so. Also, das würde
mich sehr interessieren, wie Andrew mich beschreibt. Ach, Marianne Herzog,
zu ihr habe ich gar keine Verbindung mehr, weiß gar nicht, ob die Nummer
noch stimmt.
unzelmann, Nee? Horst Mahler … klar, wollt ihr nicht. Verstehe ich. Es ist
schade um ihn, nein, das meine ich wirklich. Ich hatte ihn eigentlich immer
gern. Hatte einen guten Kontakt zu ihm, auch zu seinem Bruder. Um seine
Mutter habe ich mich immer wieder mal gekümmert, medizinisch. Hier, Povl,
kenn ihr ihn? Der wird euch gefallen. Er heißt eigentlich Peter Oelze von
Lobethal, der war also ganz aktiv im Afrika-Projekt. Ist auch ein guter
Freund von Höge, sie haben alle mal zusammengelebt im Vogelsberg."
Blättert. "Wer das ist, keine Ahnung! Hier, ganz wichtig, Astrid Proll, da
habe ich zwei Nummern, sie ist eine ganz alte Freundin. Vor einiger Zeit
waren wir mal im Kaufhaus und ich habe einen epileptischen Anfall bekommen,
sie weiß das. Aber sie war trotzdem so erschrocken, ich bin ja dann richtig
weg für eine Zeit. Wir waren beide im Knast in Köln-Ossendorf, wir haben
beide am gleichen Tag Geburtstag, am 30. Mai. Und natürlich müsst ihr
Renate Sami fragen, sie ist ja auch Filmemacherin. Wir haben gut und lange
zusammengewohnt am Bundesplatz, in der Wohnung von Klaus Eschen vom
Sozialistischen Anwaltskollektiv. Das war die Wohnung seiner Eltern mal,
wir haben sie gemietet. Renate ist eine schöne Frau, groß, ganz uneitel.
Das letzte Mal, als wir uns trafen, fragte sie: Na, wie gehts denn jetzt so
mit den Männern? Ich musste kichern. Die Frage ist kitzlig, weil ich mich
immer viel verliebt habe in schöne Männer. Und jetzt, es ist zum Lachen,
ich bin mit einem 77-jährigen Mann zusammen. Er ist krank, zahnlos, einen
halben Meter kleiner als ich. Wir gehen zusammen ins Theater und ins
Thermalbad. Wir haben jede Woche ein Fest und danach geht er wieder. Ich
bin nicht verliebt, es ist … eine herzliche Sympathie … und vielleicht
etwas Traurigkeit."
Wir erheben uns, danken. Sie besteht darauf, uns bis zum Auto zu begleiten.
Der Kater folgt uns mit Miau. Draußen zeigt sie auf ein verhülltes
Nachbarfenster. "Da wohnt Eric, auch ein alter Freund, er war eine ganze
Zeit hinterm Tresen im ,Dschungel'. Er weiß, wann ich Medizin studiert
habe. Nach dem Knast hat er sich ein bisschen um mich gekümmert.
Entschuldigt, ich laufe so langsam … ich bemühe mich, nicht zu humpeln."
Als wir wegfahren, sehe ich sie im Rückspiegel am Straßenrand stehen.
28 Apr 2008
## AUTOREN
Gabriele Goettle
## TAGS
68er
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