| # taz.de -- Liedermacher Reinhard Mey: "Waldeck war Sehnsucht" | |
| > Lieder, die nicht so piefig waren wie Schlager, wurden in den Sechzigern | |
| > auf einer Burg im Hunsrück gespielt. Als die Politik kam, war alles aus. | |
| > Reinhard Mey erinnert sich. | |
| Bild: Schön wars, trotzdem: Ein Revival bezeichnet Mey als "Friedhof der Kusch… | |
| Keine Zeit, er ist mit der Produktion seiner neuen Platten beschäftigt. | |
| Aber für ein Gespräch über das legendäre Liedermacherfestival auf der Burg | |
| Waldeck der Sechzigerjahre hatte Reinhard Mey doch Muße. Er kam auf die | |
| Minute pünktlich, ein drahtiger Mann, elastischer Gang, unfasslich jung | |
| wirkend mit seinen 65 Jahren, graustoppeliger Bart, die Augen so hell wie | |
| früher, sehr wach insgesamt. Sein Timbre ganz wie einst - heiter und | |
| wehmütig zugleich: Dem Mann hat das Leben gutgetan. Das Treffen fand in | |
| einem Balzac Coffee Shop an der Marktkirche in Hannover statt, es wird | |
| Milchkaffee getrunken, später noch Apfelkuchen gegessen. Ein Blick auf | |
| gestern zunächst, bitte. | |
| taz.mag: Herr Mey, was sehen Sie auf diesem alten Foto von sich? | |
| Reinhard Mey: Erst mal das Mikrofon. Das muss ein Foto aus den Sechzigern | |
| gewesen sein - nur damals hat man solche Prügel auf die Bühne gestellt. | |
| Und der Mann davor? | |
| In dem sehe ich einen jungen Mann, der aussieht wie einer meiner Söhne | |
| heute. Ich sehe gar nicht mich selbst, eher meine Söhne. Das alles bin ich | |
| natürlich doch, aber das ist sehr weit weg. | |
| So adrett waren Sie angezogen! | |
| Den Pullover, den habe ich mir mit Schobert Schulz gekauft, um eine | |
| gemeinsame Bühnenkleidung zu haben. Und wir haben uns für einen weinroten | |
| Strickpullover mit V-Ausschnitt entschieden. | |
| Weinrot - damalig die Modefarbe? | |
| Da mögen mehr pekuniäre Gründe eine Rolle gespielt haben. Die Pullover gabs | |
| gerade günstig bei C&A im Angebot. Mit Kleidung hatte man damals weniger | |
| versucht, Persönlichkeit auszudrücken, als die jungen Leute das heute | |
| machen. Wir haben einfach die Klamotten angezogen, die wir kriegten. | |
| Es sieht ziemlich akkurat aus. | |
| Für die Firma, in der ich damals Lehrling war, musste es natürlich so sein. | |
| Andererseits wars dann auch wieder immer zusammengewürfelt. Ich habe wenig | |
| Energie darauf verwendet, einen speziellen Kleidungsstil zu pflegen. Es | |
| sollte einfach sein, problemlos, billig. | |
| Waren Sie vor dem ersten Waldeck-Auftritt beim Frisör? | |
| Nein, eigentlich nicht. | |
| Aber das Hemd musste offensichtlich gebügelt sein. | |
| Sie irren. Ich sehe ein völlig bügelfreies Nylonhemd. Das waren diese | |
| Dinger, die einen extrem harten Kragen hatten, der eben nicht gebügelt | |
| werden musste. Weil ich ja alles selber wusch, ohne Waschmaschine, wurde | |
| das Hemd mit Saptil, wie das Zeug hieß, eingerieben, auf einen Bügel | |
| gehängt - weil es am nächsten Tag für die Firma halbwegs gut aussehen | |
| musste. Betonhemden! | |
| Kein Hippielook wie in Woodstock? | |
| So liefen wir damals rum. Wenn das Foto von der Waldeck ist, war ich ja | |
| auch noch in der Lehre bei Schering in Berlin. Die Waldeck, das waren | |
| Ausflüge aus ihr, die Fluchten dorthin waren ertrickst. | |
| Traditionell ein Pfingstausflug? | |
| Man musste sich irgendwas einfallen lassen, um sich von Berlin drei, vier | |
| Tage abzuseilen. Ich kann mich daran erinnern, dass wir von der Waldeck die | |
| Nacht durchgefahren sind, um am nächsten Tag bei Schering am Schreibtisch | |
| zu sitzen - todmüde. So am Nachmittag kam ein Moment, wo man nicht mehr | |
| konnte, die ganze Spannung von einem abfiel, und dann ist mir ein Stempel | |
| aus der Hand gefallen. | |
| Wie fuhren Sie in den Hunsrück? | |
| Mit einem VW. Eine Standardversion, die kein synchronisiertes Getriebe | |
| hatte, keine Chromleisten, keine mit Chromleisten eingefassten | |
| Fensterscheiben, und wo die Sitze mit zwei Flügelschrauben verstellt | |
| wurden. Eine Sparausführung vom Volkswagen. 24 PS. Ein unheimlich | |
| zuverlässiges Auto. Das hatten meine Eltern meiner Schwester und mir | |
| geschenkt. Für die Waldeck habe ich mir das Auto ausgeborgt. Mit | |
| Kennzeichen B-SU 926, Farbe mausgrau. Meine Freiheitsmaschine, mit ihr | |
| konnte ich abhauen, sie war der Pegasus, der mich in den Hunsrück getragen | |
| hat. | |
| Was dachten Sie über das Waldeck-Festival, ehe Sie erstmals dort waren? | |
| Ich hatte von einem der Initiatoren ein Plakat gekriegt. Die Notenvögelchen | |
| als Fingerabdrücke. Das stand "Chanson, Folklore, International" drüber, | |
| das fand ich witzig. Das versprach einen anderen Ton. Ich fand ja alles, | |
| was das französische Chanson war, interessant. Brassens, Ferré, Brel, das | |
| hat uns gefallen, auch spanische Folklore, afrikanische, mexikanische. | |
| Was sich heute so Weltmusik nennt. | |
| Das schien mir meine Sache. Bin direkt aus Berlin gekommen, es war dunkel, | |
| vom Parkplatz hat mich jemand heruntergeführt auf die Bühne, hab meine drei | |
| Lieder gesungen und dann erst wirklich begriffen, dass da unten zwei- bis | |
| dreitausend Leute sitzen. Das war ne Sache, da würde ich heute lieber | |
| Harakiri machen, als kalt aufzutreten. | |
| Was war das erste Gastspiel auf der Waldeck für Sie? | |
| Durch die Leute, die ich da gesehen habe, hatte ich solch eine Lust | |
| gekriegt, weiterzumachen als Musiker, und zwar mit eigenen Texten, dass ich | |
| dann angefangen habe, selber zu schreiben. | |
| Gab es denn Beifall? | |
| Natürlich! Es war wunderbar. Das größte Publikum, vor dem ich je gespielt | |
| hatte, und sie haben mich angenommen. Mit den Liedern, die ja erst zur | |
| Hälfte meine waren, konnte ich mich identifizieren. Ich habe Hein & Oss | |
| getroffen, die da einen Jungen wie mich unter ihre Fittiche genommen | |
| hatten, einen, der eigentlich gar nicht weiß, was los ist. Und plötzlich | |
| stand ich in einem so illustren Kreis! | |
| Zu dem welche Kollegen zählten? | |
| Franz Josef Degenhardt, den ich an diesem Abend entdeckt hatte, später | |
| Dieter Süverkrüp und Hanns Dieter Hüsch. Ich habe mich geborgen gefühlt. | |
| Ich wusste, ich bin der Jüngste, der Kleinste, der Lehrling, ich guck mir | |
| das jetzt mal an. Die großen Hunde haben den Welpen angenommen, der durfte | |
| zum ersten Mal mit den Großen pinkeln. | |
| Können Sie sich an die Verköstigung bei diesem Festival erinnern? | |
| Es gab Zeug aus der Gulaschkanone. Essen spielte komischerweise gar keine | |
| Rolle. Ich weiß, dass es später dann Stände gab, an denen man etwas kaufen | |
| konnte, Currywurst, Wurstbudenbratereien, das war 1968, vorher lag das | |
| Augenmerk mehr auf Getränken. Wein und Bier. Und Zigaretten! Das waren die | |
| Grundnahrungsmittel. | |
| Was reizte Sie an der Waldeck? | |
| In meiner frühen Jugendzeit war ich ja oft in Frankreich und konnte auf | |
| diese Weise viel in französische Musik reinschnuppern. Ich habe mich immer | |
| ein wenig gegrämt, dass die Musik, die ich zu Hause kannte, außer bei AFN, | |
| so was von piefig und rückschrittlich und peinlich war. Ich habe bis heute | |
| noch keine Erklärung dafür, denn bis heute ist es in weiten Bereichen immer | |
| noch so. Vor der Waldeck gab es eine Sehnsucht, die Waldeck selbst war das | |
| Versprechen, etwas anderes zu machen als das, was an Schlagern und | |
| Tanzmusik aus dem Radio quoll. | |
| Ist das der Unterschied - Lied oder Tanz? | |
| Nö, das glaube ich nicht, wenn einer tanzbesessen ist, dann soll er | |
| meinetwegen auf den "Orpheus" tanzen, damit hätte ich kein Problem. Ebenso | |
| wie ich finde, dass man zum allerbesten Chanson bügeln oder den Hausputz | |
| verrichten oder malen kann. Ich kann auch zur Musik, die ich liebe, ob von | |
| Cecilia Bartoli, Jacques Brel oder Hannes Wader, wunderbar handwerkliche | |
| Tätigkeiten ausführen. | |
| Was trennt das Lied vom Schlager? | |
| Ganz einfach: Das Lied erzählt eine Geschichte, die authentisch ist, die | |
| aus dem Leben schöpft. Es schildert Befindlichkeiten dessen, was um uns | |
| herum ist. Schlager liefern Klischees oder bringen einfach nur dümmliche | |
| Aneinanderreihungen von Abzählversen. | |
| Woran ist das Liedermacherfestival auf der Burg Waldeck zerbrochen? | |
| Nach der Euphorie, endlich eine andere Musik bringen zu können, waren wir | |
| uns einig. Alles Friede, Freude, Eierkuchen. Ich glaube, dass die, die | |
| Musik gemacht haben, nicht dieselben waren wie die, die die Sache nachher | |
| zerstört und ihr den Boden entzogen haben. | |
| Wer waren die Übeltäter? | |
| Leute, die keine Musik gemacht haben. Durch sie wurde die Waldeck zu einem | |
| Festival der politischen Aussage. Das war sicher auch interessant, aber | |
| nicht das Ding der Musiker. | |
| Liedermachers Party - versaut? | |
| Die Party zu versauen war die eine Geschichte. Die andere aber, nach meinem | |
| Gefühl, ist wichtiger. Jene, die nicht Lieder hören wollten, sondern | |
| diskutieren, kamen mir wie Kinder vor, die in den Buddelkasten kommen, wo | |
| sich andere Kinder Sandburgen gebaut haben, so richtig schön mit Eiermatsch | |
| und so. Und die finden sie doof, können selber keine schönen Sandburgen | |
| bauen, und das Einzige, was sie können, ist, die Sandburgen der anderen | |
| Kinder zu zerstören. Beeindrucken konnte nur, wer aus dem Publikum aufstand | |
| und "Diskussion" rief. | |
| Was bedeutete das für das Festival? | |
| Es war vorbei. | |
| Wie empfanden Sie diese Eklats? | |
| Als etwas Faschistoides. Es gab keine Diskussion mehr, es gab nur noch | |
| Bevormundung. Es hatte etwas Totalitäres. Schade, dass das Festival ganz | |
| zerbrochen ist. Aber sonst wäre es womöglich erstarrt, alt und hässlich | |
| geworden. Vielleicht war das aber auch gar nicht schlecht für den Mythos | |
| Waldeck. | |
| Wie gingen Ihre Kollegen, Wader und Degenhardt, mit den Zwischenrufern um? | |
| Degenhardt ist gut damit klargekommen, weil er nicht nur ein brillanter | |
| Liederschreiber ist, sondern wahnsinnig gut auf die Argumente eingehen | |
| konnte. Er war den Zwischenrufern gewachsen. Alle anderen sind verstummt. | |
| Und Sie? | |
| Es hat mich nicht so furchtbar unvorbereitet getroffen, diese Stimmung auf | |
| der Waldeck des Jahres 1968. Ich kam direkt aus Paris, ich hatte inzwischen | |
| ein eigenes Repertoire, gab ein perfektes Konzert. Ich saß auf der Wiese, | |
| und dann brachte Rolf Schwendter eine Parodie meiner Lieder. | |
| Der Theorieguru der späteren Alternativbewegung. | |
| Setzte mich großem Gelächter aus, ja. | |
| Sie hatten … | |
| … nicht damit gerechnet. Es war wie ein Tiefschlag, wie ein Tritt in die | |
| Magengrube, um es höflich zu sagen. | |
| Was wollte der Mann bezwecken? | |
| Ich weiß es nicht, aber er hat mich bewusst verletzt, und das ist eine | |
| Sache, die mir fremd ist. Später gab es ein Konzert mit Hanns Dieter Hüsch | |
| und mir. | |
| Angesetzt, um die Lieder, hieß es, noch mal zur Diskussion zu stellen. | |
| Ja, so war es. Da hab ich noch mal gesungen, ich wollte singen, einerlei ob | |
| die nun pfeifen, Raketen zünden oder Böller oder bengalisches Feuer oder | |
| mich von der Bühne boxen. Ich war so überzeugt von meiner Sache, voller | |
| Adrenalin, vielleicht mit zitternden Händen, aber ich wollte meine Haltung | |
| zeigen, auch gegen schweres Wetter. | |
| Wie konnten Sie so cool bleiben? | |
| Es hat mich nicht wirklich im Innersten getroffen. Alles mit einem | |
| Schmunzeln zu sehen war leicht, denn das Komische war ja, dass ich von | |
| denselben Leuten, die unten meine Lieder auspfiffen, zwei Tage vorher den | |
| wärmsten Applaus bekommen hatte. | |
| Können Sie das deuten? | |
| Die giftigen Zwischenrufe konnte man ja wie eine Aufmunterung von Leuten | |
| lesen, die bislang stumm im Publikum saßen und die nicht Hauptpersonen | |
| waren. Durch die Zwischenrufe wurden sie zu Hauptpersonen. Jene, die | |
| störten, hatten ja selbst keine Gitarren oder andere Instrumente. Leute, | |
| die sicher auch so n bisschen Mai 68 auf der Waldeck machen wollten. Schon | |
| mal ausprobieren, wie das ist, wenn man eine Veranstaltung platzen lässt. | |
| Sie galten stets als unpolitisch. Dieter Hildebrandt schmähte Sie als Heino | |
| des Dritten Programms. | |
| Es ging, hat er mir später erzählt, darum, mich als jemand mit | |
| Breitenwirkung zu charakterisieren, aber eben einer für Leute des Dritten | |
| Programms. Damit kann ich sehr schön leben. Aber man kann diesen Satz auch | |
| anders interpretieren. | |
| Ist Ihnen erklärlich, warum gerade Sie Gehässigkeiten zu ernten hatten? | |
| Vielleicht weil ich das Glück und das Pech sehr frühen Erfolgs gehabt habe. | |
| Nach der Waldeck 1964 kriegte ich meinen ersten Plattenvertrag. 1967 konnte | |
| ich in Frankreich die erste Platte aufnehmen, mit ihr gab es einen Preis. | |
| 1968 hatte ich drei LPs und zwei EPs gemacht - das war schon für mich | |
| unvorstellbar, für dieses Genre natürlich auch. Das, was wir 1964 wollten | |
| als Alternative, war kein Geheimtipp mehr. | |
| Fast wie Schlager, oder? | |
| Ja, suspekt auf alle Fälle. Meine Lieder waren nichts mehr, wofür man | |
| Klimmzüge machen musste, im Laden konnte man die Platten kaufen. Das weckte | |
| wohl auch Neid und Misstrauen. | |
| Auf der LP, die Ihnen 1972 die erste Goldene Schallplatte einbrachte, "Mein | |
| Achtel Lorbeerblatt", sangen Sie von einer "Tyrannis". Woher kam die | |
| Inspiration zu diesem Lied? | |
| Angeregt hat mich Costa-Gavras Film "Das Geständnis", eine Geschichte über | |
| stalinistische Verhöre in der Tschechoslowakei. Ich kann mich immer noch | |
| sehr in die Situation eines Menschen hineinversetzen, der etwas zuzugeben | |
| gezwungen wird, was er nicht getan hat, der aber so lange mürbe gemacht | |
| wird, nur um seine Decke zurückzubekommen, einen Napf Suppe. Daraus ist das | |
| Lied, und durch den Film "Der Gefangene" mit Alec Guinness ist dieses Lied | |
| inspiriert worden. | |
| Erstaunlich ist, dass Ihre Lieder keine Spuren einer Beschädigung durch | |
| eine Nazivergangenheit aufscheinen lassen. Sie sind Jahrgang 1942. Warum | |
| fehlt Ihnen eine gewisse Wut, die vielen Ihrer Generation eigen ist? | |
| Ich muss es einfach sagen, von Herzen, dass ich nie einen | |
| Generationskonflikt mit meinen Eltern gehabt habe. | |
| Ein braver Sohn? | |
| Nein, nicht in diesem spießigen Sinne, den das Wort meint. Meine Eltern | |
| sind beide Beamte gewesen. Und ich habe nie liberalere und | |
| unkonventionellere Leute getroffen als sie. Die haben mir natürlich | |
| erzählt, wie sie die Nazizeit erlebt haben. Von ihrem Abscheu und ihrer | |
| Abneigung, die sie aber auch erst erworben haben. Mein Vater war im Krieg, | |
| schon über vierzig, ein alter Knochen. Er konnte mir später mit einem | |
| zerschossenen Ohr so unglaublich bildlich seine Abneigung gegen jede Form | |
| von Krieg und Gewalt glaubhaft machen. Das ist Teil meiner Persönlichkeit | |
| geworden. | |
| Ihr Vater war in Kriegsgefangenschaft? | |
| Ja. Ich wusste, dieser Scheißkrieg, selbst Kinder verstehen das, dieser | |
| Krieg war schuld, dass mir mein Vater vorenthalten wurde. Mit dieser | |
| Sehnsucht nach meinem Vater habe ich die erste von vielen Impfungen | |
| bekommen, die mich zum Pazifisten machen mussten. Dann haben mich meine | |
| Eltern immer bestärkt, aufmüpfig zu sein, nichts einfach hinzunehmen. | |
| Das fanden Ihre Lehrer gut? | |
| Na ja, wenn man mich aufforderte, etwas zu tun, fragte ich zurück, warum. | |
| Ich war wohl von der ersten Schulklasse an ein gutartiger Junge, aber | |
| sicher nicht einfach zu handhaben. Weil ich alles genau wissen wollte. | |
| Meine Eltern haben mich den Widerspruch gelehrt, auch Lehrer auf meinem | |
| Gymnasium. | |
| Das war in den Fünfzigerjahren? | |
| Ja, meine Schulzeit. | |
| Libertäre Anmutung! | |
| Unbedingt. Ich weiß, dass es in anderen Familien anders zugegangen ist. | |
| Aber ich bin in diesem Biotop meiner Familie aufgewachsen. | |
| Wie konnte diese Ihre Liebe zu Frankreich wecken? | |
| Meine Eltern hatten vor dem Krieg Freundschaft mit einer französischen | |
| Familie geschlossen, und irgendwann durften sie sich nicht mehr treffen, | |
| haben sich aber gesagt, wenn das … | |
| … die Nazizeit, der Hass … | |
| … mal irgendwann vorbei ist, dann sorgen wir mit unseren Kindern, wenn wir | |
| denn mal welche haben sollten, dafür, dass es eine deutsch-französische | |
| Verständigung gibt. Als ich zehn Jahre alt war, haben mich meine Eltern das | |
| erste Mal in diese Familie geschickt. Mutterseelenallein. Ich weiß, wie | |
| schwer das ist, Kinder aus dem Haus und in fremde Obhut zu geben, und sie | |
| haben mich laufen lassen. Nachdem ich daran Freude gefunden hatte, zu | |
| reisen, haben sie mir diese Freiheit gelassen. | |
| Ein seltener Fall damals. | |
| Für meine Eltern galt Goethes Sprichwort: Du musst den Kindern Flügel geben | |
| und Wurzeln. Ich wusste, ich kann immer, auch wenn der Religionslehrer mit | |
| der Bibel geworfen hat und mich der Klasse verwiesen hat, nach Hause | |
| kommen, sie würden mich auffangen. Auf der anderen Seite gaben sie mir die | |
| Möglichkeit, hinauszugehen. | |
| Haben sie sich in Ihre Freundschaften eingemischt? | |
| Niemals. Nie haben sie gesagt, der und der ist kein Umgang für dich; ich | |
| kann mich an kein Verbot erinnern. Das war keine liebevolle Verwahrlosung … | |
| … wie man sie den Achtundsechzigern unterstellt … | |
| … nein, sie haben schon Empfehlungen ausgesprochen, aus ihrer größeren | |
| Lebenserfahrung. Und weil Verbote fehlten, konnte ich auf sie hören. | |
| Wie weit reichte das Vertrauen Ihrer Eltern? | |
| Ich hatte mir furchtbar stark ein Moped gewünscht, seit ich 10 war, hatte | |
| ich Mopedprospekte gesammelt. Zu meinem 16. Geburtstag bekam ich eine | |
| Zündapp Combinette - und im Jahr darauf haben sie mich nach Paris fahren | |
| lassen. Das war damals unvorstellbar. Wir hatten kein Telefon zu Hause, | |
| aber sie schenkten dem Kind, das sich draußen umsehen wollte, diese | |
| Freiheit. Dass ich die Schule zu Ende und die kaufmännische Lehre gemacht | |
| habe, war reine Dankbarkeit für das, was sie mir gegeben haben. | |
| Es scheint nicht alles bleiern gewesen zu sein in diesen Jahren der | |
| Adenauerzeit, oder? | |
| Meine Kindheit ist nicht mein Verdienst, aber man kann mir auch keinen | |
| Vorwurf daraus machen. Ich bin in Freiheit aufgewachsen. So oft habe ich | |
| von Freunden von Konflikten mit ihren Eltern gehört, ich habe die nie | |
| gehabt. | |
| Ein Idyll? | |
| Keineswegs. Natürlich hats gekracht, natürlich sind Teller geflogen und | |
| Türen geknallt worden, sicher auch mal Tränen geflossen. Aber es war eine | |
| lebendige Beziehung, in der die Eltern das Kind respektiert haben; eben | |
| durch den Respekt, den ich erfahren habe, konnte ich auch meinen Eltern | |
| Respekt entgegenbringen. | |
| Können Sie sagen, was Sie angetrieben hat, was Sie weitermachen lässt? | |
| Meine Geschichte zu erzählen, mein Lied zu singen. Geliebt zu werden. | |
| Menschliche Wärme zu empfinden, Anerkennung. Ohne Zweifel. Wenn ich auf die | |
| Bühne gehe, dann glaube ich, ist das alles mit ein Motiv. Was ich möchte, | |
| ist, in die Wärme des Publikums zu fallen. | |
| Das hämische Publikum auf der Waldeck muss extrakränkend gewesen sein. | |
| Kränkend, nicht extrakränkend. Die empfindliche Anfangsphase war 1968 | |
| vorbei. Meine Aufbauration hatte ich in den Jahren vorher. 1964, 1966 und | |
| 1967 war es schön. Ich hatte meine ersten drei Raketentreibstufen gehabt, | |
| die Turbulenz von 1968 konnte mich nicht wirklich entwurzeln. Sicher war es | |
| kein Spaß, angepisst zu werden, wem macht das schon Spaß? Aber wenn man | |
| merkt, dass die Kritik einen nicht im Kern treffen kann, versickert es | |
| wieder. | |
| Gute alte Zeiten, gerade jetzt zum vierzigsten Geburtstag von 68: Würden | |
| Sie an ein Revival von Waldeck glauben, daran gar teilnehmen? | |
| Ich glaube, nein. Alle Revivals haben etwas von Seniorentreffen. Die | |
| Sehnsucht, aus der Vergangenheit etwas wiederauferstehen zu lassen, muss | |
| ungestillt bleiben. Nichts ersteht wieder auf. Auch wenn die Beatles, | |
| selbst wenn es sie alle noch gäbe, spielten, ginge ich nicht in ihr | |
| Konzert. Es ist vorbei. | |
| Weil ein Abschied schmerzt? | |
| Es ist wie auf dem Friedhof der Kuscheltiere. Man kann versuchen, die tote | |
| Katze zu reanimieren, aber sie wird nie wieder so schön wie einst. Ich geh | |
| auch nicht auf Klassentreffen. | |
| Warum nicht? | |
| Nicht weil mir die Klassenkameraden nicht sympathisch wären, aber die | |
| Sachen, über die man reden könnte, liegen so weit in der Vergangenheit, | |
| dass es unergiebig ist. Ich bin zu sehr im Hier und Jetzt, als dass ich von | |
| der wenigen Zeit, die mir noch verbleibt, etwas verschwenden möchte, um | |
| damit in der Vergangenheit zu fischen. | |
| Sind Sie ein Achtundsechziger? | |
| Ja, aber ich bin genauso gut Vierundsechziger und Zweiundvierziger. Ich bin | |
| schon vor 1968 aufmüpfig gewesen und habe auch da schon gefunden, dass | |
| Männer und Frauen gleichberechtigt sein müssen, dass der Muff aus tausend | |
| Jahren unter den Talaren rausmuss. Für all das brauchte ich kein 68. Dieses | |
| Jahr hat bei allen die Gedanken beschleunigt, aber die waren ja schon | |
| vorher da. | |
| Bei Bear Family Records erscheint in diesen Tagen die 10-CD-Box "Die Burg | |
| Waldeck Festivals 1964-1969. Chansons Folklore International", eine | |
| Dokumentation dieser Liedermacherbewegung inklusive aller Störgeräusche des | |
| Jahres 1968 und eines 240seitigen, reich bebilderten Buchs (ISBN | |
| 978-3-89916-394). Enthalten sind die ersten Reinhard-Mey-Auftritte | |
| 28 Apr 2008 | |
| ## AUTOREN | |
| Jan Feddersen | |
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