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# taz.de -- Liedermacher Reinhard Mey: "Waldeck war Sehnsucht"
> Lieder, die nicht so piefig waren wie Schlager, wurden in den Sechzigern
> auf einer Burg im Hunsrück gespielt. Als die Politik kam, war alles aus.
> Reinhard Mey erinnert sich.
Bild: Schön wars, trotzdem: Ein Revival bezeichnet Mey als "Friedhof der Kusch…
Keine Zeit, er ist mit der Produktion seiner neuen Platten beschäftigt.
Aber für ein Gespräch über das legendäre Liedermacherfestival auf der Burg
Waldeck der Sechzigerjahre hatte Reinhard Mey doch Muße. Er kam auf die
Minute pünktlich, ein drahtiger Mann, elastischer Gang, unfasslich jung
wirkend mit seinen 65 Jahren, graustoppeliger Bart, die Augen so hell wie
früher, sehr wach insgesamt. Sein Timbre ganz wie einst - heiter und
wehmütig zugleich: Dem Mann hat das Leben gutgetan. Das Treffen fand in
einem Balzac Coffee Shop an der Marktkirche in Hannover statt, es wird
Milchkaffee getrunken, später noch Apfelkuchen gegessen. Ein Blick auf
gestern zunächst, bitte.
taz.mag: Herr Mey, was sehen Sie auf diesem alten Foto von sich?
Reinhard Mey: Erst mal das Mikrofon. Das muss ein Foto aus den Sechzigern
gewesen sein - nur damals hat man solche Prügel auf die Bühne gestellt.
Und der Mann davor?
In dem sehe ich einen jungen Mann, der aussieht wie einer meiner Söhne
heute. Ich sehe gar nicht mich selbst, eher meine Söhne. Das alles bin ich
natürlich doch, aber das ist sehr weit weg.
So adrett waren Sie angezogen!
Den Pullover, den habe ich mir mit Schobert Schulz gekauft, um eine
gemeinsame Bühnenkleidung zu haben. Und wir haben uns für einen weinroten
Strickpullover mit V-Ausschnitt entschieden.
Weinrot - damalig die Modefarbe?
Da mögen mehr pekuniäre Gründe eine Rolle gespielt haben. Die Pullover gabs
gerade günstig bei C&A im Angebot. Mit Kleidung hatte man damals weniger
versucht, Persönlichkeit auszudrücken, als die jungen Leute das heute
machen. Wir haben einfach die Klamotten angezogen, die wir kriegten.
Es sieht ziemlich akkurat aus.
Für die Firma, in der ich damals Lehrling war, musste es natürlich so sein.
Andererseits wars dann auch wieder immer zusammengewürfelt. Ich habe wenig
Energie darauf verwendet, einen speziellen Kleidungsstil zu pflegen. Es
sollte einfach sein, problemlos, billig.
Waren Sie vor dem ersten Waldeck-Auftritt beim Frisör?
Nein, eigentlich nicht.
Aber das Hemd musste offensichtlich gebügelt sein.
Sie irren. Ich sehe ein völlig bügelfreies Nylonhemd. Das waren diese
Dinger, die einen extrem harten Kragen hatten, der eben nicht gebügelt
werden musste. Weil ich ja alles selber wusch, ohne Waschmaschine, wurde
das Hemd mit Saptil, wie das Zeug hieß, eingerieben, auf einen Bügel
gehängt - weil es am nächsten Tag für die Firma halbwegs gut aussehen
musste. Betonhemden!
Kein Hippielook wie in Woodstock?
So liefen wir damals rum. Wenn das Foto von der Waldeck ist, war ich ja
auch noch in der Lehre bei Schering in Berlin. Die Waldeck, das waren
Ausflüge aus ihr, die Fluchten dorthin waren ertrickst.
Traditionell ein Pfingstausflug?
Man musste sich irgendwas einfallen lassen, um sich von Berlin drei, vier
Tage abzuseilen. Ich kann mich daran erinnern, dass wir von der Waldeck die
Nacht durchgefahren sind, um am nächsten Tag bei Schering am Schreibtisch
zu sitzen - todmüde. So am Nachmittag kam ein Moment, wo man nicht mehr
konnte, die ganze Spannung von einem abfiel, und dann ist mir ein Stempel
aus der Hand gefallen.
Wie fuhren Sie in den Hunsrück?
Mit einem VW. Eine Standardversion, die kein synchronisiertes Getriebe
hatte, keine Chromleisten, keine mit Chromleisten eingefassten
Fensterscheiben, und wo die Sitze mit zwei Flügelschrauben verstellt
wurden. Eine Sparausführung vom Volkswagen. 24 PS. Ein unheimlich
zuverlässiges Auto. Das hatten meine Eltern meiner Schwester und mir
geschenkt. Für die Waldeck habe ich mir das Auto ausgeborgt. Mit
Kennzeichen B-SU 926, Farbe mausgrau. Meine Freiheitsmaschine, mit ihr
konnte ich abhauen, sie war der Pegasus, der mich in den Hunsrück getragen
hat.
Was dachten Sie über das Waldeck-Festival, ehe Sie erstmals dort waren?
Ich hatte von einem der Initiatoren ein Plakat gekriegt. Die Notenvögelchen
als Fingerabdrücke. Das stand "Chanson, Folklore, International" drüber,
das fand ich witzig. Das versprach einen anderen Ton. Ich fand ja alles,
was das französische Chanson war, interessant. Brassens, Ferré, Brel, das
hat uns gefallen, auch spanische Folklore, afrikanische, mexikanische.
Was sich heute so Weltmusik nennt.
Das schien mir meine Sache. Bin direkt aus Berlin gekommen, es war dunkel,
vom Parkplatz hat mich jemand heruntergeführt auf die Bühne, hab meine drei
Lieder gesungen und dann erst wirklich begriffen, dass da unten zwei- bis
dreitausend Leute sitzen. Das war ne Sache, da würde ich heute lieber
Harakiri machen, als kalt aufzutreten.
Was war das erste Gastspiel auf der Waldeck für Sie?
Durch die Leute, die ich da gesehen habe, hatte ich solch eine Lust
gekriegt, weiterzumachen als Musiker, und zwar mit eigenen Texten, dass ich
dann angefangen habe, selber zu schreiben.
Gab es denn Beifall?
Natürlich! Es war wunderbar. Das größte Publikum, vor dem ich je gespielt
hatte, und sie haben mich angenommen. Mit den Liedern, die ja erst zur
Hälfte meine waren, konnte ich mich identifizieren. Ich habe Hein & Oss
getroffen, die da einen Jungen wie mich unter ihre Fittiche genommen
hatten, einen, der eigentlich gar nicht weiß, was los ist. Und plötzlich
stand ich in einem so illustren Kreis!
Zu dem welche Kollegen zählten?
Franz Josef Degenhardt, den ich an diesem Abend entdeckt hatte, später
Dieter Süverkrüp und Hanns Dieter Hüsch. Ich habe mich geborgen gefühlt.
Ich wusste, ich bin der Jüngste, der Kleinste, der Lehrling, ich guck mir
das jetzt mal an. Die großen Hunde haben den Welpen angenommen, der durfte
zum ersten Mal mit den Großen pinkeln.
Können Sie sich an die Verköstigung bei diesem Festival erinnern?
Es gab Zeug aus der Gulaschkanone. Essen spielte komischerweise gar keine
Rolle. Ich weiß, dass es später dann Stände gab, an denen man etwas kaufen
konnte, Currywurst, Wurstbudenbratereien, das war 1968, vorher lag das
Augenmerk mehr auf Getränken. Wein und Bier. Und Zigaretten! Das waren die
Grundnahrungsmittel.
Was reizte Sie an der Waldeck?
In meiner frühen Jugendzeit war ich ja oft in Frankreich und konnte auf
diese Weise viel in französische Musik reinschnuppern. Ich habe mich immer
ein wenig gegrämt, dass die Musik, die ich zu Hause kannte, außer bei AFN,
so was von piefig und rückschrittlich und peinlich war. Ich habe bis heute
noch keine Erklärung dafür, denn bis heute ist es in weiten Bereichen immer
noch so. Vor der Waldeck gab es eine Sehnsucht, die Waldeck selbst war das
Versprechen, etwas anderes zu machen als das, was an Schlagern und
Tanzmusik aus dem Radio quoll.
Ist das der Unterschied - Lied oder Tanz?
Nö, das glaube ich nicht, wenn einer tanzbesessen ist, dann soll er
meinetwegen auf den "Orpheus" tanzen, damit hätte ich kein Problem. Ebenso
wie ich finde, dass man zum allerbesten Chanson bügeln oder den Hausputz
verrichten oder malen kann. Ich kann auch zur Musik, die ich liebe, ob von
Cecilia Bartoli, Jacques Brel oder Hannes Wader, wunderbar handwerkliche
Tätigkeiten ausführen.
Was trennt das Lied vom Schlager?
Ganz einfach: Das Lied erzählt eine Geschichte, die authentisch ist, die
aus dem Leben schöpft. Es schildert Befindlichkeiten dessen, was um uns
herum ist. Schlager liefern Klischees oder bringen einfach nur dümmliche
Aneinanderreihungen von Abzählversen.
Woran ist das Liedermacherfestival auf der Burg Waldeck zerbrochen?
Nach der Euphorie, endlich eine andere Musik bringen zu können, waren wir
uns einig. Alles Friede, Freude, Eierkuchen. Ich glaube, dass die, die
Musik gemacht haben, nicht dieselben waren wie die, die die Sache nachher
zerstört und ihr den Boden entzogen haben.
Wer waren die Übeltäter?
Leute, die keine Musik gemacht haben. Durch sie wurde die Waldeck zu einem
Festival der politischen Aussage. Das war sicher auch interessant, aber
nicht das Ding der Musiker.
Liedermachers Party - versaut?
Die Party zu versauen war die eine Geschichte. Die andere aber, nach meinem
Gefühl, ist wichtiger. Jene, die nicht Lieder hören wollten, sondern
diskutieren, kamen mir wie Kinder vor, die in den Buddelkasten kommen, wo
sich andere Kinder Sandburgen gebaut haben, so richtig schön mit Eiermatsch
und so. Und die finden sie doof, können selber keine schönen Sandburgen
bauen, und das Einzige, was sie können, ist, die Sandburgen der anderen
Kinder zu zerstören. Beeindrucken konnte nur, wer aus dem Publikum aufstand
und "Diskussion" rief.
Was bedeutete das für das Festival?
Es war vorbei.
Wie empfanden Sie diese Eklats?
Als etwas Faschistoides. Es gab keine Diskussion mehr, es gab nur noch
Bevormundung. Es hatte etwas Totalitäres. Schade, dass das Festival ganz
zerbrochen ist. Aber sonst wäre es womöglich erstarrt, alt und hässlich
geworden. Vielleicht war das aber auch gar nicht schlecht für den Mythos
Waldeck.
Wie gingen Ihre Kollegen, Wader und Degenhardt, mit den Zwischenrufern um?
Degenhardt ist gut damit klargekommen, weil er nicht nur ein brillanter
Liederschreiber ist, sondern wahnsinnig gut auf die Argumente eingehen
konnte. Er war den Zwischenrufern gewachsen. Alle anderen sind verstummt.
Und Sie?
Es hat mich nicht so furchtbar unvorbereitet getroffen, diese Stimmung auf
der Waldeck des Jahres 1968. Ich kam direkt aus Paris, ich hatte inzwischen
ein eigenes Repertoire, gab ein perfektes Konzert. Ich saß auf der Wiese,
und dann brachte Rolf Schwendter eine Parodie meiner Lieder.
Der Theorieguru der späteren Alternativbewegung.
Setzte mich großem Gelächter aus, ja.
Sie hatten …
… nicht damit gerechnet. Es war wie ein Tiefschlag, wie ein Tritt in die
Magengrube, um es höflich zu sagen.
Was wollte der Mann bezwecken?
Ich weiß es nicht, aber er hat mich bewusst verletzt, und das ist eine
Sache, die mir fremd ist. Später gab es ein Konzert mit Hanns Dieter Hüsch
und mir.
Angesetzt, um die Lieder, hieß es, noch mal zur Diskussion zu stellen.
Ja, so war es. Da hab ich noch mal gesungen, ich wollte singen, einerlei ob
die nun pfeifen, Raketen zünden oder Böller oder bengalisches Feuer oder
mich von der Bühne boxen. Ich war so überzeugt von meiner Sache, voller
Adrenalin, vielleicht mit zitternden Händen, aber ich wollte meine Haltung
zeigen, auch gegen schweres Wetter.
Wie konnten Sie so cool bleiben?
Es hat mich nicht wirklich im Innersten getroffen. Alles mit einem
Schmunzeln zu sehen war leicht, denn das Komische war ja, dass ich von
denselben Leuten, die unten meine Lieder auspfiffen, zwei Tage vorher den
wärmsten Applaus bekommen hatte.
Können Sie das deuten?
Die giftigen Zwischenrufe konnte man ja wie eine Aufmunterung von Leuten
lesen, die bislang stumm im Publikum saßen und die nicht Hauptpersonen
waren. Durch die Zwischenrufe wurden sie zu Hauptpersonen. Jene, die
störten, hatten ja selbst keine Gitarren oder andere Instrumente. Leute,
die sicher auch so n bisschen Mai 68 auf der Waldeck machen wollten. Schon
mal ausprobieren, wie das ist, wenn man eine Veranstaltung platzen lässt.
Sie galten stets als unpolitisch. Dieter Hildebrandt schmähte Sie als Heino
des Dritten Programms.
Es ging, hat er mir später erzählt, darum, mich als jemand mit
Breitenwirkung zu charakterisieren, aber eben einer für Leute des Dritten
Programms. Damit kann ich sehr schön leben. Aber man kann diesen Satz auch
anders interpretieren.
Ist Ihnen erklärlich, warum gerade Sie Gehässigkeiten zu ernten hatten?
Vielleicht weil ich das Glück und das Pech sehr frühen Erfolgs gehabt habe.
Nach der Waldeck 1964 kriegte ich meinen ersten Plattenvertrag. 1967 konnte
ich in Frankreich die erste Platte aufnehmen, mit ihr gab es einen Preis.
1968 hatte ich drei LPs und zwei EPs gemacht - das war schon für mich
unvorstellbar, für dieses Genre natürlich auch. Das, was wir 1964 wollten
als Alternative, war kein Geheimtipp mehr.
Fast wie Schlager, oder?
Ja, suspekt auf alle Fälle. Meine Lieder waren nichts mehr, wofür man
Klimmzüge machen musste, im Laden konnte man die Platten kaufen. Das weckte
wohl auch Neid und Misstrauen.
Auf der LP, die Ihnen 1972 die erste Goldene Schallplatte einbrachte, "Mein
Achtel Lorbeerblatt", sangen Sie von einer "Tyrannis". Woher kam die
Inspiration zu diesem Lied?
Angeregt hat mich Costa-Gavras Film "Das Geständnis", eine Geschichte über
stalinistische Verhöre in der Tschechoslowakei. Ich kann mich immer noch
sehr in die Situation eines Menschen hineinversetzen, der etwas zuzugeben
gezwungen wird, was er nicht getan hat, der aber so lange mürbe gemacht
wird, nur um seine Decke zurückzubekommen, einen Napf Suppe. Daraus ist das
Lied, und durch den Film "Der Gefangene" mit Alec Guinness ist dieses Lied
inspiriert worden.
Erstaunlich ist, dass Ihre Lieder keine Spuren einer Beschädigung durch
eine Nazivergangenheit aufscheinen lassen. Sie sind Jahrgang 1942. Warum
fehlt Ihnen eine gewisse Wut, die vielen Ihrer Generation eigen ist?
Ich muss es einfach sagen, von Herzen, dass ich nie einen
Generationskonflikt mit meinen Eltern gehabt habe.
Ein braver Sohn?
Nein, nicht in diesem spießigen Sinne, den das Wort meint. Meine Eltern
sind beide Beamte gewesen. Und ich habe nie liberalere und
unkonventionellere Leute getroffen als sie. Die haben mir natürlich
erzählt, wie sie die Nazizeit erlebt haben. Von ihrem Abscheu und ihrer
Abneigung, die sie aber auch erst erworben haben. Mein Vater war im Krieg,
schon über vierzig, ein alter Knochen. Er konnte mir später mit einem
zerschossenen Ohr so unglaublich bildlich seine Abneigung gegen jede Form
von Krieg und Gewalt glaubhaft machen. Das ist Teil meiner Persönlichkeit
geworden.
Ihr Vater war in Kriegsgefangenschaft?
Ja. Ich wusste, dieser Scheißkrieg, selbst Kinder verstehen das, dieser
Krieg war schuld, dass mir mein Vater vorenthalten wurde. Mit dieser
Sehnsucht nach meinem Vater habe ich die erste von vielen Impfungen
bekommen, die mich zum Pazifisten machen mussten. Dann haben mich meine
Eltern immer bestärkt, aufmüpfig zu sein, nichts einfach hinzunehmen.
Das fanden Ihre Lehrer gut?
Na ja, wenn man mich aufforderte, etwas zu tun, fragte ich zurück, warum.
Ich war wohl von der ersten Schulklasse an ein gutartiger Junge, aber
sicher nicht einfach zu handhaben. Weil ich alles genau wissen wollte.
Meine Eltern haben mich den Widerspruch gelehrt, auch Lehrer auf meinem
Gymnasium.
Das war in den Fünfzigerjahren?
Ja, meine Schulzeit.
Libertäre Anmutung!
Unbedingt. Ich weiß, dass es in anderen Familien anders zugegangen ist.
Aber ich bin in diesem Biotop meiner Familie aufgewachsen.
Wie konnte diese Ihre Liebe zu Frankreich wecken?
Meine Eltern hatten vor dem Krieg Freundschaft mit einer französischen
Familie geschlossen, und irgendwann durften sie sich nicht mehr treffen,
haben sich aber gesagt, wenn das …
… die Nazizeit, der Hass …
… mal irgendwann vorbei ist, dann sorgen wir mit unseren Kindern, wenn wir
denn mal welche haben sollten, dafür, dass es eine deutsch-französische
Verständigung gibt. Als ich zehn Jahre alt war, haben mich meine Eltern das
erste Mal in diese Familie geschickt. Mutterseelenallein. Ich weiß, wie
schwer das ist, Kinder aus dem Haus und in fremde Obhut zu geben, und sie
haben mich laufen lassen. Nachdem ich daran Freude gefunden hatte, zu
reisen, haben sie mir diese Freiheit gelassen.
Ein seltener Fall damals.
Für meine Eltern galt Goethes Sprichwort: Du musst den Kindern Flügel geben
und Wurzeln. Ich wusste, ich kann immer, auch wenn der Religionslehrer mit
der Bibel geworfen hat und mich der Klasse verwiesen hat, nach Hause
kommen, sie würden mich auffangen. Auf der anderen Seite gaben sie mir die
Möglichkeit, hinauszugehen.
Haben sie sich in Ihre Freundschaften eingemischt?
Niemals. Nie haben sie gesagt, der und der ist kein Umgang für dich; ich
kann mich an kein Verbot erinnern. Das war keine liebevolle Verwahrlosung …
… wie man sie den Achtundsechzigern unterstellt …
… nein, sie haben schon Empfehlungen ausgesprochen, aus ihrer größeren
Lebenserfahrung. Und weil Verbote fehlten, konnte ich auf sie hören.
Wie weit reichte das Vertrauen Ihrer Eltern?
Ich hatte mir furchtbar stark ein Moped gewünscht, seit ich 10 war, hatte
ich Mopedprospekte gesammelt. Zu meinem 16. Geburtstag bekam ich eine
Zündapp Combinette - und im Jahr darauf haben sie mich nach Paris fahren
lassen. Das war damals unvorstellbar. Wir hatten kein Telefon zu Hause,
aber sie schenkten dem Kind, das sich draußen umsehen wollte, diese
Freiheit. Dass ich die Schule zu Ende und die kaufmännische Lehre gemacht
habe, war reine Dankbarkeit für das, was sie mir gegeben haben.
Es scheint nicht alles bleiern gewesen zu sein in diesen Jahren der
Adenauerzeit, oder?
Meine Kindheit ist nicht mein Verdienst, aber man kann mir auch keinen
Vorwurf daraus machen. Ich bin in Freiheit aufgewachsen. So oft habe ich
von Freunden von Konflikten mit ihren Eltern gehört, ich habe die nie
gehabt.
Ein Idyll?
Keineswegs. Natürlich hats gekracht, natürlich sind Teller geflogen und
Türen geknallt worden, sicher auch mal Tränen geflossen. Aber es war eine
lebendige Beziehung, in der die Eltern das Kind respektiert haben; eben
durch den Respekt, den ich erfahren habe, konnte ich auch meinen Eltern
Respekt entgegenbringen.
Können Sie sagen, was Sie angetrieben hat, was Sie weitermachen lässt?
Meine Geschichte zu erzählen, mein Lied zu singen. Geliebt zu werden.
Menschliche Wärme zu empfinden, Anerkennung. Ohne Zweifel. Wenn ich auf die
Bühne gehe, dann glaube ich, ist das alles mit ein Motiv. Was ich möchte,
ist, in die Wärme des Publikums zu fallen.
Das hämische Publikum auf der Waldeck muss extrakränkend gewesen sein.
Kränkend, nicht extrakränkend. Die empfindliche Anfangsphase war 1968
vorbei. Meine Aufbauration hatte ich in den Jahren vorher. 1964, 1966 und
1967 war es schön. Ich hatte meine ersten drei Raketentreibstufen gehabt,
die Turbulenz von 1968 konnte mich nicht wirklich entwurzeln. Sicher war es
kein Spaß, angepisst zu werden, wem macht das schon Spaß? Aber wenn man
merkt, dass die Kritik einen nicht im Kern treffen kann, versickert es
wieder.
Gute alte Zeiten, gerade jetzt zum vierzigsten Geburtstag von 68: Würden
Sie an ein Revival von Waldeck glauben, daran gar teilnehmen?
Ich glaube, nein. Alle Revivals haben etwas von Seniorentreffen. Die
Sehnsucht, aus der Vergangenheit etwas wiederauferstehen zu lassen, muss
ungestillt bleiben. Nichts ersteht wieder auf. Auch wenn die Beatles,
selbst wenn es sie alle noch gäbe, spielten, ginge ich nicht in ihr
Konzert. Es ist vorbei.
Weil ein Abschied schmerzt?
Es ist wie auf dem Friedhof der Kuscheltiere. Man kann versuchen, die tote
Katze zu reanimieren, aber sie wird nie wieder so schön wie einst. Ich geh
auch nicht auf Klassentreffen.
Warum nicht?
Nicht weil mir die Klassenkameraden nicht sympathisch wären, aber die
Sachen, über die man reden könnte, liegen so weit in der Vergangenheit,
dass es unergiebig ist. Ich bin zu sehr im Hier und Jetzt, als dass ich von
der wenigen Zeit, die mir noch verbleibt, etwas verschwenden möchte, um
damit in der Vergangenheit zu fischen.
Sind Sie ein Achtundsechziger?
Ja, aber ich bin genauso gut Vierundsechziger und Zweiundvierziger. Ich bin
schon vor 1968 aufmüpfig gewesen und habe auch da schon gefunden, dass
Männer und Frauen gleichberechtigt sein müssen, dass der Muff aus tausend
Jahren unter den Talaren rausmuss. Für all das brauchte ich kein 68. Dieses
Jahr hat bei allen die Gedanken beschleunigt, aber die waren ja schon
vorher da.
Bei Bear Family Records erscheint in diesen Tagen die 10-CD-Box "Die Burg
Waldeck Festivals 1964-1969. Chansons Folklore International", eine
Dokumentation dieser Liedermacherbewegung inklusive aller Störgeräusche des
Jahres 1968 und eines 240seitigen, reich bebilderten Buchs (ISBN
978-3-89916-394). Enthalten sind die ersten Reinhard-Mey-Auftritte
28 Apr 2008
## AUTOREN
Jan Feddersen
## TAGS
Folk
Schallplatten
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