# taz.de -- Schriftstellerin Verena Stefan: "Ich bin keine Frau. Punkt." | |
> Verena Stefan schrieb 1975 "Häutungen" - ein literarisches Experiment | |
> über die zerstörende Macht der Beziehung zwischen Mann und Frau. Ein | |
> Gespräch mit der Mutter der Frauenliteratur - zum Muttertag. | |
Bild: Die Frauenbewegung im Wandel der Zeit - Verena Stefan ist ihr missionaris… | |
Wie wohl die Frau wirkt, die ihr literarisches Ich 1975 als "Kürbisfrau" | |
bezeichnete? Der erste Blick konterkariert diese Vorstellung: Verena Stefan | |
ist eher knochig, sehr klar in Blick und Konturen. In Kanada lebt sie, dort | |
kann man sie sich gut vorstellen, mit viel Raum. Jetzt reist die Autorin | |
mit ihrem neuen Buch, "Fremdschläfer", durch Deutschland und die Schweiz. | |
Wir treffen uns nachmittags in Hannover. Sie wohnt dort bei einer Freundin | |
in einem Mietshaus, dem die Frauenbewegung noch anzusehen ist: Eine | |
Frauenstiftung ist hier untergebracht, Zeitschriften liegen im Flur, eine | |
Schreibtafel für Nachrichten baumelt an der Wand. | |
taz.mag: Frau Stefan, 1968 kamen Sie aus Bern nach Berlin. Sehen Sie sich | |
als 68erin? | |
Verena Stefan: Eher indirekt. | |
Sie waren 20. Also im besten Protestalter, sollte man meinen. | |
Ich machte damals eine Krankengymnastikausbildung und hatte mit dem SDS | |
nichts zu tun. Aber eines Tages, es war 1971, kam Helke Sander zu meinem | |
damaligen Freund, einem Mediziner, und wollte Material über die | |
pharmazeutische Industrie und die Pille abholen. Sie hatte angefangen, mit | |
anderen Frauen an einem Buch zu arbeiten, das dann zum "Frauenhandbuch Nr. | |
1" der Gruppe "Brot und Rosen" wurde. Bei diesem Gespräch hat es bei mir | |
"klick" gemacht. Ich dachte: Die will ich kennenlernen, dabei möchte ich | |
mitmachen. Dann gings los, mit Frauenkongressen und Aktionen zum Paragrafen | |
218. | |
Wie kam es zu dem Buch "Häutungen"? | |
Unsere "Brot und Rosen"-Gruppe sollte für das Kursbuch einen Beitrag | |
schreiben: "Wie ist die Emanzipation der Frau mit der Beziehung zu einem | |
Mann zu vereinbaren?" Wir haben uns sehr amüsiert, weil wir meinten, das | |
sei eher nicht vereinbar. Zu dem Text kam es so dann doch nicht, weil wir | |
in Berlin 1974 das große Teach-in gegen den Paragrafen 218 organisierten. | |
Aber ich hatte schon angefangen zu schreiben. Und ich konnte nicht mehr | |
aufhören. Das war wie ein Dammbruch. Ich hatte meine Notizbücher zum Glück | |
aufbewahrt, ich las sie wieder, und es fiel mir wie Schuppen von den Augen: | |
Sie waren das Zeugnis einer einzigen Gehirnwäsche. Daraus ist das | |
Manuskript entstanden. | |
Hatten Sie Vorbilder? | |
Es gab Simone de Beauvoir, Kate Millett und Shulamith Firestone. Man hat | |
noch jedes Buch einzeln entdeckt: Christa Wolfs "Nachdenken über Christa | |
T.", zum Beispiel, oder "Die Glasglocke" von Sylvia Plath. Es gab noch | |
keine Bibliotheken und Frauenbuchläden, voll mit Literatur von Autorinnen. | |
Aber in den USA gab es das alles. 1974 habe ich dort drei Monate alle | |
möglichen feministischen Einrichtungen abgeklappert, Buchläden, Verlage, | |
Galerien und Frauenzentren. | |
"Häutungen" gilt als Kultbuch der Frauenliteratur. Eine Ikone. Wie war das | |
für Sie? | |
Das Buch hat sofort zwei Fraktionen geschaffen, im Lesepublikum und in der | |
Literaturkritik, die es eigentlich bis heute noch gibt. Es gab euphorische | |
Zustimmung, differenzierte Untersuchungen und entschiedene Ablehnung von | |
Kritikern und Kritikerinnen. Einige sagten: Aber das ist keine Literatur, | |
das ist ein Bekenntnis, ein besseres Tagebuch. | |
Wie haben Sie selbst das Buch bezeichnet? | |
Für mich war es ein literarisches Experiment, ich habe mit Sprache und Form | |
experimentiert. Ich bin sicher durch die feministische US-Literatur | |
beeinflusst gewesen. Im deutschen Literaturbetrieb gibt es immer Aufpasser | |
und Aufpasserinnen, die dir sofort sagen, was du falsch gemacht hast. Man | |
ist nicht sehr experimentierfreudig. Man gesteht einer Frau nicht zu, ein | |
Experiment zu machen. Das ist auch sehr deutsch: Darf man das? Ist das | |
richtige Literatur? Nein, das ist falsche Literatur. | |
Hat Sie das angefochten? | |
Ja, sehr. Aber dieses Buch war unvermeidlich. Ich wollte immer schreiben. | |
Schon als Kind. Meine Mutter hat schon geschrieben, wenn auch ohne zu | |
veröffentlichen. Das Buch musste zu diesem Zeitpunkt einfach raus, es ist | |
aus mir herausgestürzt. | |
Wie sehen Sie "Häutungen" heute? | |
Ich habe mich damit in eine anderes Leben katapultiert. Als "Häutungen" | |
überall besprochen wurde und sich immer besser verkaufte, fand ich mich mit | |
einem Mal an einem anderen Ort vor, nicht mehr wie die meisten anderen | |
innerhalb der Frauenbewegung. Es gab viel Neid, Ressentiments, Häme und | |
ebenso viel Bewunderung und Glorifizierung. Beides war gleich schwer zu | |
verkraften. Allerdings hätte ich gerne eine gute Lektorin gehabt, mit der | |
ich bestimmte Dinge hätte diskutieren können. Das gab es nicht. Aber so war | |
es eben, es war alles ein Experiment. Der Verlag war neu, Zeitschriften | |
waren neu. Wir haben uns selbst neu erfunden. | |
Was hätten Sie mit einer Lektorin diskutieren wollen? | |
Ich hätte die Erfahrungen mit der lesbischen Liebe anders schreiben können. | |
Das war zu früh. Die Erfahrungen waren noch zu frisch, ich war wie in einem | |
Rausch und hatte zu wenig Abstand. Ich hätte eine andere Form finden | |
müssen. | |
Zunächst haben Sie ja über die Liebe zu Männern geschrieben. Da heißt es: | |
"Liebe ist eine tausendfache verwechslung von begehrtsein und vergewaltigt | |
werden." Ist das heute auch so? | |
Dieser Satz hat ins Mark der heterosexuellen Welt getroffen. Sie sehen ja, | |
welchen Zwängen junge Mädchen heute ausgesetzt sind, was Attraktivität oder | |
Sexualpraktiken betrifft. Das ist angereichert und verschärft durch Videos, | |
Internet, Pornografie. Sie haben die Machtstrukturen auf ungeahnte Weise | |
verfestigt. | |
"Ich gebe mir mühe, alles richtig zu bewegen, bis er einen orgasmus hat", | |
haben Sie geschrieben. Die Selbstauskünfte von jungen Frauen heute sind | |
andere. Auch Sexualforscher sehen einen fundamentalen Wandel - hin zu einer | |
konsensualen Sexualität. Glauben Sie das alles nicht? | |
An dem Punkt würde ich ganz genau wissen wollen, was "konsensual" heißt, | |
wer Lust und Befriedigung definiert und wie. Die Jüngeren, die | |
Schülerinnen, sind doch Zwängen ausgesetzt. In Montreal wurde vor zwei | |
Jahren eine Studie veröffentlicht, in der gängige Sexualpraktiken der | |
Vierzehn- bis Achtzehnjährigen untersucht wurden, Gruppensex, Oralverkehr | |
und Analverkehr mit mehreren Jungs, alles ohne Schutz. Darauf kamen viele | |
Leserinnenbriefe von Schülerinnen, die schrieben: Endlich sagt es mal | |
jemand. | |
Sehen sich die Jungs nicht durch den Gruppendruck genauso genötigt? | |
In solchen Situation nötigen die Jungs die Mädchen. Der Gruppenzwang ist | |
enorm, und die Struktur ist offensichtlich. Es geht um die Befriedigung der | |
Jungen, die Mädchen bedienen sie. Die erste Erfahrung, die Mädchen machen, | |
ist oft von einer solchen Machtbeziehung geprägt. Und im Übrigen auch von | |
einem Zwang zur Heterosexualität. Alle wissen, dass man lesbisch oder | |
schwul sein kann, aber man darf nicht dazugehören, das ist der soziale Tod | |
in diesem Alter. | |
Das ist aber doch auch ein Problem der Pubertät. Extreme Polarisierungen, | |
blöde Geschlechterrollen. Da wächst man doch heraus, oder? | |
Das kann ich nicht beurteilen. Ich habe den Eindruck, die Jugendlichen | |
geraten eher stärker in etwas hinein. Oft wird das Ganze ja gleich noch | |
gefilmt und übers Internet vertrieben, so wie es inzwischen üblich ist, | |
dass Jugendliche sich Gruppenvergewaltigungen per Handy zuschicken. Wissen | |
Sie: Die Definition, wie die heterosexuelle Welt konstruiert ist, ist | |
gleich geblieben. Die soziologische Pyramide besteht fort: Die Spitze ist | |
weiß, heterosexuell und männlich. Alles andere ist weniger wert. Wenn man | |
zur Frau erklärt wird, wird man zu einem Wesen gemacht, das in die | |
Kategorie "anders" gehört. Deshalb wollte ich mich nicht zur "Frau" | |
reduzieren lassen. Ich wollte ein Mensch sein. | |
Das heißt, Sie sind keine Differenzfeministin, die die Weiblichkeit an sich | |
aufwerten möchte? | |
Richtig. Damals gab es diese Theorie übrigens noch gar nicht. Alix Dobkin | |
sang 1973 den Ohrwurm "The woman in your life is you". Ich aber wollte | |
nicht in die Kategorie Frau gehören. Ich habe am Schluss von "Häutungen" | |
geschrieben: "Der MENSCH meines lebens bin ich." Das heißt: In der Welt | |
sein. Hinausmarschieren und werden, was man werden will. Nicht | |
eingeschränkt sein. Reisen können, nachts auf der Straße sein können. Wenn | |
man sich zuerst als Frau definiert, dann muss man gegen das Klischee und | |
gegen die Rolle arbeiten. Das wollte ich nicht, ich wollte ein Mensch sein. | |
Die Theoretikerin Monique Wittig sagte: "Ich bin keine Frau". Punkt. | |
Und was ist denn nun das Ziel der Feminismus, wenn es nicht die Aufwertung | |
von Weiblichkeit ist? Gleichheit? | |
Nein, eben gerade nicht, wenn Gleichheit an männlich, weiß, hetero gemessen | |
wird. | |
"Ich möchte mit keines mannes verkümmerung gleichberechtigt sein", | |
schrieben Sie in "Häutungen". | |
Wenn wir jetzt diskutieren wollen, wie die heterosexuelle Struktur | |
beseitigt werden könnte, sitzen wir morgen früh noch hier. Aber eines ist | |
klar: Der Gedanke "Wenn alles schiefgeht, kann eine Frau heiraten" ist | |
pures Gift, mentales Gift. Dieser Gedanke schwächt: Man bekommt Anerkennung | |
dafür, dass man sich in einen goldenen Käfig setzt. | |
Na ja, aber heute sagen 85 Prozent der jungen Frauen, etwa in der neuen | |
Brigitte-Studie, sie wollen finanziell unabhängig sein. Da hat sich doch | |
einiges verändert. | |
Ich habe gerade gehört, wie schlecht die Situation von Frauen in | |
Deutschland und Österreich im EU-Vergleich aussieht, was gleiche Bezahlung, | |
Vollbeschäftigung und Positionen im höheren Management angeht. Der Konflikt | |
Kinder oder Karriere scheint doch hochaktuell zu sein, überhaupt nicht | |
gelöst. | |
Die jungen Damen heute verstehen die Entfremdungserfahrungen, die Sie | |
beschrieben haben, ebenso wenig wie die Freiheitsversprechen Ihrer | |
Generation. Dieses Denken lässt sich offenbar schlecht vererben. | |
Da bin ich nicht so sicher. | |
Ein Buch wie "Häutungen" gibt es heute nicht mehr. Stattdessen dominieren | |
Ratgeber zur Alltagsbewältigung: "Die weibliche Art, sich durchzusetzen", | |
oder so. | |
Heute hat man dreißig Jahre mit diesem Buch gelebt. Diese Ratgeber sind | |
eine Folge unserer radikaleren Bücher. | |
Aber die Heilserwartung Ihres Denkens ist daraus völlig verschwunden. | |
Heilserwartung? Hatten wir nicht. Wir hatten ein utopisches Denken, das | |
stimmt. Wir wollten die Welt verändern. In allem. Und nicht nur wir: Das | |
war eine weltweite Bewegung. Das können Sie sich gar nicht mehr vorstellen. | |
Heute gibt es das ganze ökonomische und feministische Wissen. Damals gab es | |
nichts. Plötzlich ging eine Tür auf, und da war ein völlig neues Zimmer mit | |
völlig neuem Wissen. Ein neuer Blick auf die Wirtschaft, die Gesellschaft, | |
die Geschichte. Wir fanden wieder, was der herrschende Blick alles | |
aussortiert und in den Keller verbannt hat. | |
Die Frauen zum Beispiel? | |
Ja, dazu gehörten in erster Linie auch die Frauen. Künstlerinnen, | |
Denkerinnen. Die finden Sie alle im Keller wieder, eine ganz neue | |
Geschichte. Dass eine Frau aufstand und sagte: "Ich bin übrigens anderer | |
Meinung. Ich denke mir das so und so", das war eine Revolution. Und | |
plötzlich gab es ganz viele von diesen Frauen mit so vielen Gedanken. Es | |
war reine Euphorie. Sie sprechen von "Entfremdung": Es war das Gegenteil: | |
Wir haben uns zum ersten Mal "wirklich" gefühlt. Wenn ich durch eine Straße | |
gehe, bin ich wirklich da. Weil ich eine Verabredung habe, mit anderen | |
Frauen. Weil es uns brennend interessiert hat, wie wir die Welt sehen, wie | |
wir denken. | |
Die Protagonistin in "Häutungen" verlässt ihren Freund, gerade als er | |
anfängt, Verständnis für sie zu entwickeln. Das legen Ihre KritikerInnen | |
als Männerfeindlichkeit aus. Ihre Lösung ist die lesbische Liebe, die | |
heterosexuelle geht nicht. | |
Das habe ich damals ja auch so gemeint. Die heterosexuellen Beziehungen | |
waren doch auch so strukturiert, gerade in der Linken: Die Männer reden, | |
die Frauen kochen Kaffee. | |
Und Sie pflegen da nicht vielleicht ein lieb gewonnenes Feindbild? Meinen | |
Sie denn heute auch noch, heterosexuelle Liebe gehe nicht? | |
Heute gebe ich keine Programme mehr aus. Damals war ein missionarischer | |
Eifer dabei. Heute meine ich, dass jeder Mensch das selbst entscheiden | |
muss. | |
Aber die Heteras fügen sich der Geschlechter-Machtordnung? | |
Es gibt heute individuell sicher andere Möglichkeiten. Aber die Machtfrage | |
ist ein strukturelles Problem, auf dem unsere Welt aufgebaut ist, mit der | |
wir aufwachsen wie mit der Luft, die wir atmen. Machtfragen entstehen in | |
allen Beziehungen, auch in lesbischen. | |
"Liebe zwischen Frauen heilt", haben Sie dennoch in dem nachfolgenden Buch | |
"Mit Füßen und Flügeln" postuliert. Da war sie noch, die Heilserwartung, | |
oder? | |
Es geht nicht um eine Heilserwartung. Es geht darum, dass wir in einer Art | |
Parallelwelt lebten. Da muss man sich immer wieder versichern, dass man | |
noch da ist, dass man existiert. Und deshalb ist die Bestätigung von | |
anderen Frauen so wichtig: Ja, es gibt dich, und das, was du denkst, ist | |
nachvollziehbar. So würde ich heute diesen Satz übersetzen, "Liebe zwischen | |
Frauen heilt". Es hat mit Verifizieren zu tun: Du spinnst nicht. Du bist | |
nicht verrückt. Was du wahrnimmst, existiert tatsächlich. Mit meinem neuen | |
Buch mache ich übrigens gerade höchst merkwürdige Erfahrungen. Ich treffe | |
auf Literaturkritiker, die sich dunkel an "Häutungen" erinnern und nun | |
denken: "Oho, die ist Feministin, da muss ich mir eine Frauenfrage | |
einfallen lassen." Verstehen Sie, in diesem Verhalten kommt alles, was wir | |
angesprochen haben, wieder zum Vorschein: Eine Feministin ist die Andere, | |
eine Fremde, nicht ein Mensch, mit dem man über alles diskutieren könnte. | |
Die Frauenfrage gehört immer noch nicht selbstverständlich zur | |
Allgemeinheit. | |
Sie sind gereist, um Spuren von Matriarchaten zu finden. Das hat Sie auch | |
in den Ruch des Differenzfeminismus gebracht. | |
Von mir aus. Was hat man mir nicht alles vorgeworfen. Ich war auf der Suche | |
nach einer anderen Ikonografie. Es geht um Bildwelten. | |
Silvia Bovenschen schrieb damals, diese Suche nach Matriarchaten sei ein | |
hoffnungsloses Unterfangen: "Ihre Reiche sind erloschen, ihre Macht reicht | |
nicht herüber." | |
Da bin ich anderer Meinung. Diese Bilder sind in unserem Unbewussten | |
virulent. Wenn Göttinnenbilder zum Vorschein kommen, hat das einen Einfluss | |
auf uns, es verändert die symbolische Ordnung: Es waren nicht immer nur die | |
drei männlichen Hanseln da, wie etwa im Christentum. Das ist Bestandteil | |
unserer geistigen Rumpelkammer: Es gab Bilder von weiblichen Figuren, die | |
mächtig waren, im Vollbesitz ihrer Macht. Genauso wie es wichtig ist, zu | |
sehen: Es gibt Frauen als Staatsoberhäupter. Das ist enorm wichtig, weil es | |
die unbewusste Ikonografie verändert. Vor-Bilder im wahrsten Sinn des | |
Wortes. | |
Das erste Bild der Frau, das man erhält, ist das der Mutter. "Ich möchte | |
von einer kühnen und attraktiven Frau abstammen", haben Sie in einer | |
Betrachtung formuliert. Ihre Mutter war das nicht, oder? | |
Meine Mutter hat nicht an sich und ihre Fähigkeiten geglaubt. Sie hat | |
geheiratet, weil sie sich ein Studium nicht zugetraut hat. Das war schade, | |
denn sie war sehr begabt. | |
Die sehr negative Darstellung der Männer in Ihrem Buch "Häutungen" sei eine | |
Verschiebung des Hasses auf Ihre Mutter, sagt eine Analyse ihres Buches. | |
Das ist absurd. Meine Mutter versuchte, mich zu zähmen, was nicht | |
funktioniert hat. Das hatte damit zu tun, dass mein Vater ein deutscher | |
Einwanderer in der Schweiz war. Ich sollte überkompensieren und ein nettes | |
Schweizer Mädchen sein. Ich war aber ein wildes Gör. Sie hat mir ein | |
klassisches Doublebind vermittelt: Du kannst alles werden, du kannst alles | |
machen. Aber so, wie du bist, kann ich dich nicht akzeptieren. | |
Ist die Frauenbewegung entstanden, weil viele Frauen auf der Suche nach | |
einer starken Mutter waren? | |
Nach starken Frauen. Wir hätten niemals nach Müttern gesucht. Wir haben | |
doch etwas Neues gewollt. | |
Etwas hat Ihre Mutter Ihnen doch mitgegeben, einen Fluch, mit dem Sie | |
tatsächlich mal zudringliche Männer abgewehrt haben. Wie ging der? | |
"Du verflünerete Soucheib, du." "Du verfluchter Kadaver", falls man das | |
überhaupt übersetzen kann. Das war die Heldengeschichte meiner Mutter. Sie | |
hat damit nach dem Krieg angeblich die russischen Soldaten abgeschreckt, | |
die Frauen vergewaltigen wollten. Kein Mensch weiß, ob das stimmt. Aber mir | |
hat der Fluch tatsächlich geholfen. | |
Sie plädierten damals dafür, "frau" statt "man" zu sagen. Ist Sprachreform | |
immer noch Ihr Anliegen? | |
Das war nie mein Anliegen, das war ein Gedankenexperiment, damit kann man | |
spielen. | |
Und heute fühlen Sie sich nun doch in der Sprache heimisch und wollen | |
nichts mehr verändern? | |
Ja. Sprache, das geschriebene Wort ist tatsächlich meine wichtigste Heimat, | |
eine, die mir immer geblieben ist. Es geht mir nur darum, alles in diese | |
Sprache zu "übersetzen". | |
Was ist inzwischen passiert? | |
Gute Frage. Schreiben ist immer eine Arbeit an der Sprache. Für diese | |
Auseinandersetzung kann man keine einfachen Regeln vorgeben. | |
Hat Ihr aktuelles Buch "Fremdschläfer" noch etwas mit "Häutungen" zu tun? | |
Insofern es einen roten Faden durch alle meine Bücher gibt, die mit dem | |
Menschsein zu tun haben. In "Fremdschläfer" geht es um Fremdheit und um | |
Orientierungssysteme. Meine Emigration nach Kanada war eine unerwartete | |
Erschütterung. Vor vierzig Jahren sagten wir, Frauen sind die Fremden im | |
Patriarchat. Als Lesbe wird dieses Fremdsein verstärkt, manchmal auch unter | |
Frauen. Eigentlich hätte ich im Fremdsein so routiniert sein müssen, dass | |
das Auswandern nur eine weitere Variation des Themas hätte sein können. | |
Aber ich musste entdecken, dass ich mich noch auf eine ganz andere Art | |
fremd fühlen kann. Es war eine ganz allgemeine menschliche Erfahrung, die | |
nichts mit dem Frausein zu tun hatte. | |
Als Frau hat man kein Exklusivabo aufs Fremdsein. | |
Nein, aber wie gesagt, es geht um strukturelle Fragen, und der | |
Fremdheitsfaktor ist in der Chose von vornherein eingebaut. Die | |
Einwanderungserlaubnis in Kanada bekommt man nach einem Punktesystem. Und | |
ich bekam für meine lesbische Beziehung genauso viele Punkte wie andere für | |
eine heterosexuelle. Ich war weder als Frau noch als Lesbe die "Andere", | |
sondern ich war einfach eine Einwanderin wie alle anderen auch. Ich habe | |
mich noch nie so sehr als Mensch gefühlt. | |
Ein Hoch auf die Einwanderungspolitik Kanadas. | |
Die war in meinem Fall nicht stigmatisierend. Trotzdem hat es mich aus der | |
Bahn geworfen, mich mit 50 Jahren in einem völlig anderen kulturellen | |
Kontext zu befinden. Und dann die Fremdheit in der Sprache. Dazu kamen noch | |
der Krebs und die Chemotherapie. Erst wollte ich gar nicht über Krebs | |
schreiben, aber die Krankheit hat mir eine bestimmte Erzählperspektive | |
gegeben. Da passiert etwas im Gehirn, da löst sich etwas auf. Da verliert | |
man wirklich die Orientierung. Ich hatte einen Fluss überquert, ins Reich | |
der Kranken. Ich konnte nun das Krankheitsufer nehmen und davon auf das | |
andere Ufer zurückblicken und sehen, was ich dort in der Fremde alles | |
gelernt habe. | |
Lange haben junge Frauen den Feminismus als gestrig begraben, jetzt gibt es | |
wieder Forderungen nach "neuem Feminismus". Wie sehen Sie das? | |
Wissen Sie, der Feminismus ist ja schlicht eine Methode des kritischen | |
Denkens. Wenn man sich für die Veränderung der Machtstrukturen | |
interessiert, ist es die einzig vernünftige Methode. Dass man davon wieder | |
mehr haben will, ist doch sehr wünschenswert. Die Frauen werden bombardiert | |
mit einer sehr engen Vorstellung davon, was weiblich ist. So viele von | |
unseren Ideen und allem, was wir ausprobiert haben, haben nicht | |
weitergelebt. Ich glaube, wir haben sie auch nicht intensiv genug | |
weitergegeben, das war eine Schwäche. Kürzlich war ich in Graz auf einer | |
Tagung, auf der auch die Frage gestellt wurde, ob es von Vorteil oder von | |
Nachteil sei, feministische Autorin oder überhaupt Feministin zu sein. Ich | |
habe mir das Vergnügen gemacht, einmal nur von den Vorteilen zu sprechen. | |
Wie viele großartige Frauen hätte ich in den letzten 38 Jahren nicht | |
kennengelernt! Vier internationale feministische Buchmessen hätte ich | |
verpasst! Wie viele Reiserouten wären mir entgangen! | |
10 May 2008 | |
## AUTOREN | |
Heide Oestreich | |
Heide Oestreich | |
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Feminismus | |
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