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# taz.de -- Kulturgeschichte des Blicks: Die westöstliche Couch
> Wie sehen wir? Und wie sieht der Orient? Hans Belting ergänzt die
> Geschichte des Bilds um eine Kulturgeschichte des Blicks.
Bild: Bilderverbot in Form eines Blickverbots... Ungefähr so?
In seiner Reisebeschreibung "Die Stimmen von Marrakesch" wundert sich Elias
Canetti, als er, die leeren Dachterrassen über dem Häusergewimmel der
Medina gerade betreten, von seinem Gastgeber flugs zurückgerufen wird.
Gelegentlich würden die Frauen auf den Dächern wandeln, erklärt dieser, und
wollten dabei nicht gestört werden. Auf Canettis Einwand, es sei doch weit
und breit keine Frau zu sehen, bekommt er als Antwort, bereits der Blick in
den fremden Hof sei unanständig. Wenn der Fremde auch meint, nichts gesehen
zu haben; hinter den Wänden seien Augen, die ihn, den Schauenden, beim
Schauen gesehen haben könnten.
Die von Canetti geschilderte Episode ließe sich passgenau einfügen in den
jüngsten Versuch von Hans Belting. Der ehemalige Byzantinist, der die
Entgrenzung der Kunstgeschichte hin zu einer allgemeinen Bildwissenschaft
in den vergangenen Jahren maßgeblich vorantrieb, beleuchtet in seiner
Psychohistorie des Blicks diesmal aus arabischer Perspektive die Prämissen
der abendländischen Sehkultur. Während das Fenster von Leon Battista
Albertis finestra bis Bill Gates Windows als Inbegriff einer Zivilisation
gelten darf, die die Eröffnung des Blickfelds als emanzipatorische
Kulturleistung feiert, fungiert laut Belting in der islamischen Welt die
mashrabiyya als die basale symbolische Form. Während das arabische
Gitterfenster das Licht (und vielleicht auch die von Canetti beschriebenen
Stimmen) hindurchlässt, soll es - ganz im Unterschied zu ihrem westlichen
Konterpart - den Blick hingegen aufhalten.
Belting entwickelt aus dieser Beobachtung eine These, die ebenso prägnant
wie attraktiv ist: Im Islam nimmt das Bilderverbot die Form eines
Blickverbots an (verboten ist es, dasjenige darzustellen, was über einen
Gegenblick verfügt). In dem Moment, wo der Verdacht einer allzu groben
Kulturopposition aufkeimen könnte, verleiht Belting der ahistorischen
Meditation einen geschichtlichen Rahmen, der seinen Überlegungen noch eine
zusätzliche Volte gibt.
Die Entwicklung der neuzeitlichen Optik und ihre ästhetische Applikation in
der zentralperspektivischen Veduta verdankt sich, daran erinnert Belting
eindrücklich, entscheidend der Übernahme arabischen Gedankenguts. Woraus
der pikante Schluss gezogen wird, die Perspektive als Emblem der
abendländischen Darstellungskünste sei im Schoße einer Kultur entstanden,
die gerade jede perspektivische Darstellung perhorresziert.
In Zeiten, wo das Wort vom "Dialog der Kulturen" allerorts als magische
Losung umgeht, stellt Florenz und Bagdad einen erfrischenden Appell dar,
die Genese des optischen Unbewussten jener Kulturen in ihrer historischen
Komplexität und gegenseitigen Verwobenheit neu zu durchleuchten. Zwar sind
die wissenschaftshistorischen Entdeckungen, die Belting dabei zu machen
meint (etwa die Rolle des Perspektivtraktats von Alhazen im 11. Jahrhundert
oder des italienischen Mathematikers Biagio Pelacani um 1400) in der
Fachwelt nicht neu, das Verdienst des Autors aber ist es, diesem Wissen
endlich die gebührende kulturhistorische Bedeutung zuzuweisen und sie einem
breiten Publikum zugänglich zu machen. Sein wissenschaftsgeschichtliches
Mosaik, ikonografisch reich bestückt, besticht durch seine Eleganz. Das
gewandte Szenario eines Kulturtransfers vom Bagdad der Optiker in das
Florenz der Künstler ist freilich nur um den Preis einiger Kurzschlüsse zu
haben, bei der unter anderem die Rezeption des arabischen Wissens in der
westlichen Philosophie, die lange vor der Renaissance einsetzte,
geflissentlich unterschlagen wird.
Nichtsdestoweniger bleibt Beltings Buch ein Glanzstück von
Wissenschaftsprosa, das möglicherweise ein neues Genre inauguriert: die
vergleichende Psychohistorie.
Hans Belting: "Florenz und Bagdad. Eine westöstliche Geschichte des
Blicks". C. H. Beck, München 2008, 319 Seiten, 29,90 €
16 May 2008
## AUTOREN
Emmanuel Alloa
## TAGS
Ästhetik
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