# taz.de -- Dichtes Programm: Marokko - ganz zivil | |
> Zu Besuch beim Netzwerk Synergie Civique zwischen Marrakesch, Hohem Atlas | |
> und Zagora. Begegnungen mit Menschen, die in ihrer Gesellschaft und in | |
> ihrem Alltag etwas bewegen. | |
Bild: Oase | |
„Ich kann einfach nicht still sitzen und warten“, sagt Jamila Hassoune. An | |
diesem sonnigen Nachmittag besuchen wir ihren kleinen Buchladen im | |
Universitätsviertel von Marrakesch. Und Jamila, die 42-jährige Rastlose mit | |
den kurzen schwarzen Haaren, erzählt uns die fabelhafte Geschichte der | |
caravane civique, der Bürgerkarawane, die sie auf den Weg gebracht hat. | |
Damals, Mitte der Neunzigerjahre, als sie ihren Buchladen gegründet und | |
Autoren in ihren Buch- und Leseklub eingeladen hatte, träumte sie von einem | |
fliegenden Teppich, mit dem sie Bücher in die ländlichen Gegenden bringen | |
wollte. Dann machte sie es doch ganz irdisch, packte ihr Auto mit Büchern | |
voll und fuhr in die entlegenen Bergdörfer des Hohen Atlas, um den Menschen | |
Geschichten vorzulesen. Peu à peu entstand aus Jamilas Einzeltat die | |
caravane civique, eine Karawane von Wissenschaftlern, Journalisten und | |
Künstlern, die aufs Land zieht und Diskussionen, Vorträge und Lesungen | |
organisiert. | |
Als der Kellner vom Café nebenan Minztee bringt, erzählt Jamila gerade von | |
den zwei Gruppen, die ihr besonders am Herzen liegen. Die Frauen "wegen der | |
hohen Analphabetenrate" und die Jugendlichen, "die Zukunft Marokkos". 50 | |
bis 60 Prozent der marokkanischen Frauen könnten nicht schreiben und lesen, | |
in manchen Dörfern seien es sogar 90 Prozent. Und 400.000 Schüler verließen | |
jedes Jahr die Schule, wegen der Armut, wegen der großen Entfernung von zu | |
Hause, wegen familiärer Probleme. Die Bildung sei das größte Hemmnis, sie | |
blockiere den Fortschritt des Landes, dazu kämen die Arbeitsmigration und | |
das imaginierte Paradies Europa. "Alle jungen Marokkaner wollen dorthin." | |
Für ihre zahlreichen Aktivitäten bekommt Jamila keine finanzielle | |
Unterstützung. Möchte sie auch gar nicht. "Ich wollte immer frei und | |
unabhängig sein." | |
Mitte der Neunzigerjahre leitete die gesellschaftliche Öffnung die | |
Modernisierung und Demokratisierung Marokkos ein. Sie ermöglichte die | |
Freilassung politischer Gefangener und die Aufarbeitung der staatlicher | |
Repressionen während der "bleiernen Zeit". Zeitlich parallel formierte sich | |
die Zivilgesellschaft, landesweit gründeten sich tausende Gruppen, | |
Initiativen und Projekte, eine gesellschaftsumspannende action citoyenne | |
für die Verbesserung der Lebensbedingungen, für Menschenrechte und | |
Frauenemanzipation. Im Jahr 2000 zählte man bereits 17.000 | |
Nichtregierungsorganisationen (NGOs). Mit Jamila haben wir gleich eine | |
exponierte Protagonistin dieser aufblühenden marokkanischen | |
Zivilgesellschaft kennengelernt. In der "alten Zeit" durfte sie "bestimmte | |
Bücher" nicht verkaufen und "bestimmte Autoren" nicht einladen, sagt | |
Jamila. Das hat sich geändert. Viele der früheren politischen Gefangenen | |
haben inzwischen Bücher veröffentlicht. Man könne den Wechsel, den neuen | |
gesellschaftlichen Freiraum, fühlen. | |
Wir sind die erste Gruppe der "Reisen in die Zivilgesellschaft", die Vorhut | |
des neuen anspruchsvollen touristischen Programms der taz: "Urlaub plus | |
Begegnungen mit Menschen, die in ihrer Gesellschaft etwas bewegen und in | |
zivilgesellschaftlichen Initiativen und Projekten mitarbeiten." Für Marokko | |
heißt das: Kein Badeurlaub in Agadir oder Kameltrekking in der Wüste, kein | |
Wandern im Hohen Atlas oder Hopping durch die Königsstädte. Stattdessen | |
werden wir in den nächsten zehn Tagen durch den Süden Marokkos fahren, mit | |
Frauengruppen und Menschenrechtlern, Umweltschützern und Teppichweberinnen | |
ins Gespräch kommen, Einblicke in den gesellschaftlichen Alltag durch das | |
Brennglas von Initiativen und Projekten gewinnen. | |
Immer mit an Bord, wenn auch nur gedanklich, wird Fatima Mernissi sein. | |
Denn die bekannte marokkanischen Autorin und Frauenrechtlerin ist das | |
Epizentrum von "Synergie Civique", eines Netzwerks, das die Verbindung | |
zwischen engagierten Personen und Gruppen der Zentren Casablanca, Rabat und | |
Marrakesch mit Gruppen und Initiativen der ländlichen Regionen Südmarokkos | |
spinnt. Als "Moderne Sindbads" bezeichnet Mernissi die | |
zivilgesellschaftlichen Akteure. Wie die Seefahrer und Händler in der | |
Blütezeit der arabisch-islamischen Zivilisation würden sie heute die | |
Möglichkeiten der globalisierten und digitalisierten Welt für eine Stärkung | |
der Zivilgesellschaft nutzen. | |
Unser nächster Termin: Ein Frauenzentrum im Viertel Sidi Youssef Ben Ali | |
fernab vom touristischen Marrakesch. "Wir haben das Zentrum 2004 eröffnet, | |
um die Lage der jungen Frauen hier im Viertel zu verbessern", erklärte | |
eingangs Halima Oulami, die Leiterin der Frauengruppe "Al Amane pour le | |
développement des femmes". Dazu gehöre eine ganze Palette von Aufgaben: | |
Alphabetisierungskurse, Hilfe bei Behördengängen und juristische Begleitung | |
bei Gericht, Gesundheitsberatung durch Mediziner, Ausbildungsworkshops in | |
Weben und Raumgestaltung, Hilfe bei der Suche nach Kleinkrediten für | |
Existenzgründerinnen, zum Beispiel für den Kauf und Wiederverkauf von | |
Kleidern, für Gewürzhandel und Schafzucht. Und wie reagieren die Männer?, | |
will eine Frau aus unserer Gruppe wissen. "Wir sind schon eine Provokation | |
für sie", antwortet Halima. Dann zeigt sie auf das bunte Plakat an der | |
Wand, das mit einer Folge von Zeichnungen und kurzen Texten das neue | |
Familienrecht, die Moudawana, vorstellt. "Für uns Frauen hat sich mit der | |
Moudawana im Jahr 2004 einiges verändert." Die Gehorsamkeitspflicht der | |
Frau wurde abgeschafft, es wurden Familiengerichte eingeführt, der Mann | |
müsse nun die Verstoßung seiner Frau vor Gericht beantragen, während diese | |
dagegen Einspruch erheben könne, im Fall einer Scheidung wurde die | |
Gütertrennung eingeführt. Die Reform des Familienrechts, von König Mohammed | |
VI. angestoßen, verbessert die (rechtliche) Lage der Frauen erheblich und | |
gibt der Modernisierung des Landes einen Schub. "Noch hapert es aber an der | |
Umsetzung der Moudawana", dämpft Halima die vorschnelle Euphorie. Denn das | |
Gesetz lasse Spielraum für die Auslegung, die Familiengerichte seien nicht | |
gut ausgestattet und die Richter schlecht geschult, viele seien schlicht | |
überfordert oder nicht mutig genug. | |
Nach gut zwei Stunden ist der Akku unserer Aufmerksamkeit leer. Doch nach | |
dem Abendessen im Riad, unserem kleinen Altstadt-Hotel mit Orangenbäumen | |
und Springbrunnen im Innenhof, folgt die Fortsetzung mit Jamila und Halima | |
im kleinen Kreis. Vor allem Ursula und Cäsar aus München sind ganz Ohr; | |
kein Wunder, beide sind Rechtsanwälte mit Schwerpunkt Familienrecht. Noch | |
mit von der taz-Partie sind unter anderen Wolfgang aus Taunusstein, | |
Agrarbiologe und grüner Bundestagsabgeordneter der ersten Stunde; Veronika, | |
Stadtplanerin aus Berlin, die das erste Mal in die arabische Welt fährt; | |
Margrit aus Hannover, pensionierte Schulleiterin, die seit langem mit einer | |
multikulturellen Frauengruppe arbeitet; Ludmilla und Detlef aus Leipzig, | |
sie Journalistin, er Zahnarzt, beide im Ruhestand. | |
Eine reizende Gruppe, aufgeschlossen und wissbegierig, die einen | |
transtouristischen Zugang zu Marokko erhalten möchte. Für diesen besonderen | |
Mehrwert ist Thomas Hartmann zuständig, unser Reiseleiter und Übersetzer. | |
Obendrein ist Thomas Spiritus Rector der neuen taz-Reisen. Schon seit | |
zwanzig Jahren beschäftigt sich der geborene Netzwerker mit Marokko, er hat | |
viele Kontakte im Land geknüpft und kennt sich in der | |
zivilgesellschaftlichen Szene bestens aus. | |
Es ist eine ganze Tagesreise im Bus, von Marrakesch über den Hohen Atlas | |
mit seinen schneebedeckten Bergen, durch die Steinwüste und die | |
Dadès-Schlucht bis ins Dorf Tamellalt, wo Fatima Mellal wohnt. Ihre | |
Geschichte liest sich wie ein Märchen aus 1001 Nacht: Eine junge | |
unverheiratete Berberin ohne Schulbildung fängt mit 30 Jahren zu malen an. | |
Ihr Bruder, ein Kunstlehrer, hat ihr Pinsel, Farbe und Leinwand geschenkt | |
und sie zum Malen ermutigt. Ein paar Jahre später kommt eine Schweizer | |
Touristin ins Dorf, sieht ihre naive Malerei, lädt sie nach Zürich ein, um | |
dort in einer Galerie auszustellen. Bis dahin war sie nicht weiter als in | |
das 60 Kilometer entfernte Ouarzarzate gefahren. Aber inzwischen hat Fatima | |
ihre Bilder in sieben Ländern ausgestellt, darunter in Frankreich, Spanien | |
und in den USA. | |
Einige aus unserer Gruppe schlafen in den Gästezimmern ihres Hauses, einer | |
mächtigen Lehmkasbah, in dem auch ihre Eltern und ein Teil der Geschwister | |
leben. Abends tischt Familie Mellal im Speisesaal eine schmackhafte Tajine | |
auf, am nächsten Morgen zeigt uns Fatima ihr kleines Atelier voller | |
Aquarellzeichnungen. Immer wieder bildet sie ihre direkte Umwelt ab, malt | |
die skurrilen Berge und die Schluchten des Dadès-Tals, Lebensbäume und | |
Teppichmotive, Männer und Frauen bei der Feldarbeit. Flächig, kräftig bunt, | |
ausdrucksstark. Später führt sie uns auf die Terrasse ihres Hauses, lehnt | |
sich über das hellblaue Geländer. Das sei ihr Lieblingsplatz, sagt sie. Von | |
dort schaut sie auf die zum Greifen nahen, 120.000 Millionen Jahre alten | |
erdfarbenen Felsformationen, die man wegen ihrer Form "Affenpfoten" nennt. | |
Fatima strahlt eine große Ruhe aus. Kraft und Inspiration gewinnt die | |
inzwischen 40-jährige Frau aus ihrer dörflichen Umgebung, aus der | |
Unterstützung ihrer Familie - und aus dem Netzwerk Synergie Civique, mit | |
dem sie verwoben ist. Trotz ihrer Ausfüge in die westliche Kunstwelt bleibt | |
sie in ihrem Heimatdorf verwurzelt und hat eine Dynamik im Dorf in Gang | |
gesetzt. Die Analphabetin und Autodidaktin hat Bücher gesammelt und eine | |
Leihbücherei für Jugendliche aufgebaut; jeden Sonntag leitet sie einen | |
Malworkshop für Kinder. Längst ist sie zum Vorbild und Stolz ihres Dorfes | |
geworden, das sie anfangs wegen ihrer Malerei abgelehnt hatte. | |
Am nächsten Tag fahren wir durch eine wild zerklüftete Mondlandschaft mit | |
schwarzen Canyons und durch das von Palmenhainen, Lehmdörfern und Kasbahs | |
gesäumte Flusstal des Drâa. Unser Ziel ist Zagora. Früher war die Stadt am | |
Rand der Wüste eine wichtige Karawanenstation, "52 Tage nach Timbuktu", in | |
der Protektoratszeit dann französische Garnison, heute ist Zagora das | |
Zentrum des marokkanischen Kameltrekking. Der Himmel über der Wüste ist | |
grau. Abends beim Couscous auf der Hotelterrasse beginnen die Dattelpalmen | |
plötzlich ganz bedrohlich zu schwanken, Sturmböen wirbeln den Sand auf, wir | |
flüchten nach drinnen. Auch an den nächsten Tagen tobt der Sandsturm und | |
verwischt alle Konturen. | |
Unser Programm ist dicht, die Informationsfülle gewaltig. Morgens besuchen | |
wir in Tamegroute eine islamische Bruderschaft und ihre Bibliothek mit | |
reicher Manuskriptsammlung, die Textil-Ausstellung einer Frauenkooperative | |
und ein gescheitertes Keramikwerkstätten-Projekt. Nachmittags sind wir bei | |
Adedra zu Gast, einem NGO-Netzwerk zur Entwicklung des Drâa-Tals mit seinen | |
300.000 Menschen. Ein wichtiges Teilprojekt ist die Bekämpfung gegen die | |
fortschreitende Verwüstung, denn der Sand raubt immer größere Anbauflächen | |
für Dattelpalmen und Henna. | |
Abends treffen wir Ahmed Zainabi, der aus Zagora stammt und früher selbst | |
Adedra leitete. Heute ist er Mitglied des "Beirats für Menschenrechte", | |
eines vom König installierten Gremiums zur Überwachung der Menschenrechte. | |
Zainabi berichtet von der in der arabischen Welt einzigartigen | |
Wahrheitskommission, die König Mohammed VI. 2004 einrichten ließ, um die | |
"bleierne Zeit Marokkos" unter seinem Vater, König Hassan II., | |
aufzuarbeiten. Es war die Zeit der Geheimgefängnisse und systematischen | |
Menschenrechtsverletzungen, der Repression der Bevölkerung durch kollektive | |
Verhaftung und Landvertreibung. Die Empfehlungen der Wahrheitskommmission - | |
individuelle Entschädigung der Opfer, Reintegration und gesundheitliche | |
Versorgung der ehemaligen Häftlinge, Entwicklung der aus politischen | |
Gründen "abgehängten" Regionen, Reform des Verfassungssystems - wurden alle | |
vom König akzeptiert, erzählt Zainabi. Das Thema ist so spannend, Zainabi | |
so eloquent, der Sandsturm so nachsichtig, dass wir die marokkanische | |
Lektion nach dem Abendessen bei Bier, Wein und Whisky auf der Terrasse | |
fortsetzen, bis die Müdigkeit den Wissensdurst überwältigt. | |
9 Jul 2008 | |
## AUTOREN | |
Günter Ermlich | |
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