# taz.de -- Kreative Abwanderung im Osten: Erfurter Raufasertapete | |
> Erfurt hat zwar eine Universität, eine Oper, ein Ikea und manchmal | |
> "Wetten, dass ?", aber keine lebendige Kunst- und Kulturszene. Wird der | |
> Rest jetzt auch totsaniert? | |
Bild: Zugleich der Abgesang auf die Kulturstadt? Proben zu "Phädra" am Theater… | |
Dass der Kunstmarkt auch hierzulande boomt, ist bekannt, auch wenn davon | |
nur zehn Prozent der Künstler profitieren. Aber wie sieht es mit der | |
Kunstszene jenseits des Marktes aus? | |
Zum Beispiel in Erfurt, einer Stadt zum Verlieben. Die Landeshauptstadt | |
Thüringens mit 200.000 Einwohnern besitzt einen der am besten erhaltenen | |
und größten mittelalterlichen Stadtkerne Deutschlands. Es gibt einen Dom, | |
25 Kirchen und drei Synagogen. Die Krämerbrücke in der Altstadt ist die | |
längste komplett bebaute und bewohnte Brücke Europas. Erfurt hat eine | |
Universität, eine Oper, einen Flughafen und Ikea. In Erfurt befinden sich | |
das Bundesarbeitsgericht und der Sitz des Kinderkanals KI.KA von ARD/ZDF | |
sowie das Landesfunkhaus des MDR. Zugleich hat Erfurt aber nur ein Kino, | |
ein Freibad, einen Club, ein besetztes Haus, ein schönes Café, zwei | |
Galerien, eine Kneipe, die zu besuchen lohnt, eine Zeitschrift für | |
Literatur und bald nur noch einen großen Buchladen. Und kein | |
Schauspielhaus. Klar, wo die Prioritäten liegen. | |
Die politischen und finanziellen Entscheidungsträger der Stadt ergötzen | |
sich an den steigenden Touristenzahlen und der "Wetten, dass …?"-Show von | |
Thomas Gottschalk. Wenig verwunderlich, dass die Abwanderung kreativer | |
junger Leute anhält und die Universität im Stadtbild nicht auffällt. Das | |
wird geprägt von Ballermann-Jugendlichen, Mittelalter-Klamauk und | |
fotografierenden Touristen. Die Kunsthalle, am besten Platz der Stadt | |
gelegen, zeigt leicht verdauliche Ausstellungen, und die Fassade ist ein | |
beliebtes Fotomotiv, kaum Ort des intellektuellen Austauschs. | |
Dem trotzend gab es in Erfurt in den letzten Jahren dennoch Projekte, die | |
etwas auf die Beine stellten, die qualitativen Vergleichen mit größeren | |
Städten wie Berlin standhielten und eigenes schufen. Wie die Aktionen der | |
Ressource Group im öffentlichen Raum, die Ausstellungen, Film- und | |
Partyabende des Cafés togo, der Hörsalon im grünen Atelierhaus und die | |
Ausstellungen und Veranstaltungen im Kunsthaus. Im Sommer 2008 droht nun | |
ein tiefer, spürbarer Einschnitt. Fast keines der genannten Projekte | |
existiert noch. | |
Manches hatte seine Zeit, manches aber hinterlässt ein schwarzes Loch, und | |
die Stadtverwaltung unterstützt ohnehin nichts. Der Kulturbeigeordnete der | |
Stadt Erfurt hat von den meisten Orten noch nie etwas gehört, für ihn | |
scheint aktuelle Kunst im Aufstellen großer Plastikfiguren im Stadtzentrum | |
zu bestehen - die hießen dann klangvoll "Bernd das Brot" oder "Briegel der | |
Busch". | |
Über Monate hinweg gestaltete die Ressource Group leer stehende Schaukästen | |
des geschlossenen Erfurter Schauspielhauses. Die Kästen wurden in der | |
Vergangenheit zerstört und mit Tags besprüht. Die Präsenz der Tags trug | |
dazu bei, die Schaukästen wieder ihrem ursprünglichen Sinn zuzuführen, sie | |
stellten wieder zur Schau. Nicht nur in Bezug auf die Tags, sondern auch | |
auf den Leerstand und die Verwahrlosung der Orte. Schaukästen wurden | |
eingeschlagen, und nichts passierte. Die gleichen Schaukästen wurden von | |
der Ressource Group mit unterschiedlichen, selbst haftenden Folien | |
eingewickelt - und es entstand etwas. Es kam zur Wandlung. Vorerst | |
versuchte man, mit einer transparenten Membran aus Dehnfolie die | |
Schaukästen wieder zu dem zu machen, was sie waren - dem Blick des | |
Betrachters geöffnete Kommunikationsmöbel. Später verwandelte ein simpler | |
Wechsel zu weißem, undurchsichtigem Material die Elemente radikal. Nach | |
mehreren Etappen der unterschiedlichsten Gestaltung mit Bezug auf Leerstand | |
und städtischen Raum wurden die Kästen von der Folie befreit und gereinigt. | |
Seit November 2004 wurden die Räume des thüringenweit bekannten ehemaligen | |
Einrichtungshauses Weinreiter von einer Gruppe junger Architekten zu neuem | |
Leben erweckt. Im 1907 errichteten Möbelhaus wurde versucht, neue Formen | |
des Arbeiten und Lebens miteinander zu verknüpfen. Das Projekt ef.29 | |
verband neben dem Architekturbüro "infern*" mit angeschlossener Galerie das | |
Café togo und den Laden für Wohnkunst, "neuwerk", miteinander. | |
Mit minimalen Eingriffen und geringen finanziellen Mitteln wurde ein Ort | |
der Kommunikation geschaffen. Es gab etliche Ausstellungen, Filmabende, DJs | |
legten regelmäßig auf. In den anderen Etagen des Hauses mieteten Künstler | |
große preiswerte Ateliers und Wohnungen an. Alle mussten Anfang Juli das | |
Haus verlassen. Es wird totsaniert. | |
Dabei hat das Haus Geschichte. Hier trafen sich vor Jahrzehnten | |
Künstlergruppen im Dachatelier. Im Nationalsozialismus wurden hinter | |
doppelten Wänden von der Deportation bedrohte Juden versteckt. Mit all den | |
Originaltüren und -fenstern, mit den noch erhaltenen Einrichtungen, | |
inklusive funktionierendem Lastenaufzug, aber auch den kleinen Zeugnissen | |
des Wandels der jeweiligen Epochen, sichtbar an Teppichböden, Wandschränken | |
und Lampen, ist das Haus Weinreiter noch in einem beseelten Zustand, der | |
die Atmosphäre der Jahrhunderte atmet. Soziologen und Architekten in | |
Frankreich oder Italien würden jubeln und es sofort unter Denkmalschutz | |
stellen. Aber nicht in der ostdeutschen Provinz, wo Erfurter Raufasertapete | |
in Einheits-Lofts als Zeichen der Moderne gilt. | |
Schräg gegenüber gibt es das grüne Haus, welches von Künstlern, Fotografen | |
und Modedesignern als Atelierhaus genutzt wird. Dort wurden im Atelier der | |
Künstlerin Uta Hünniger unregelmäßig Hörsalons veranstaltet, für jeweils | |
einen Abend Ausstellungen und Musikauftritte organisiert. Andreas "Fozzy" | |
Link, Schlagzeuger unter anderem bei der DDR-Kultpunkband Schleim-Keim, lud | |
Musiker aus den verschiedensten Bereichen, vom Jazz bis zu elektronischer | |
Musik, zum gemeinsamen Jammen ein, vor einer interessanten Mischung aus | |
jungem und gesetzterem Publikum. Die Ateliermiete wurde zu hoch, im Juni | |
fand der letzte Hörsalon statt. Soziale Förderateliers für Künstler gibt es | |
in Erfurt nicht. | |
Das Kunsthaus Erfurt wurde von der Künstlerinnengruppe "Exterra XX" | |
gegründet. Es war die einzige nur aus Frauen bestehende Künstlergruppe in | |
der DDR, die in den 80er-Jahren mit Super-8-Filmen, Fotografie, Malerei und | |
Performances für Furore sorgte. Sie fand im Herbst 1989 ein geeignetes leer | |
stehendes Haus in der Altstadt. Dort entstanden Ausstellungsräume, eine | |
Literatenwohnung und Ateliers. Im Kunsthaus gibt es nicht nur monatlich | |
wechselnde Ausstellungsprogramme, es fanden auch Lesungen der | |
Bachmann-Preisträger statt und gut besuchte Veranstaltungen zu Themen wie | |
Datenschutz, Überwachungsstaat, Punk in der DDR, Super-8-Film-Szene und zum | |
Umgang mit DDR-Architektur. Von den beiden Ausstellungsplattformen | |
Projektraum und Galerie schloss jetzt die Galerie. Sie wurde vor 17 Jahren | |
von Marlies Schmidt und Tely Büchner gegründet. Dort fanden 160 | |
Ausstellungen mit Künstlern wie Miron Schmückle, Bruce Naumann, Anke | |
Feuchtenberger, Laibach und Boris Mikhailov statt. | |
Die Stadt unterstützte über Jahre das Kunsthaus, aber 2008 stellte sie die | |
Zahlungen, auch die der Galeristinnen-Stelle, ganz ein. Im Idealfall sollte | |
sich eine Galerie durch die Einnahmen der verkauften Kunstwerke tragen. | |
Aber die Käuferschaft für aktuelle Kunst tendiert in Erfurt gegen null. | |
Industrie und kommunale Einrichtungen sind hier als Käufer rar. In der | |
Stadt gibt es bestenfalls ein Publikum für kleinpreisige Werke, wie das | |
Kaufinteresse bei den Ausstellungen von Jim Avignon im Projektraum und von | |
Carsten Weitzmann im infern* zeigte. Aber Cheap-Art ist vorbei, obwohl es | |
Jim Avignon weiterhin gibt. Die Galerie Rothamel in Erfurt - neben dem von | |
Monique Förster geleiteten Projektraum einzige verbliebene Galerie für | |
aktuelle Kunst - würde ohne ihre Dependance in Frankfurt/Main nicht | |
überleben. | |
Neu entstehende Ausstellungsräume werden von den Beamten der | |
Stadtverwaltung nicht als Bereicherung gesehen. An die Bestehenden werden | |
absurde Forderungen gestellt, etwa die kleinen Ausstellungsflächen | |
teilweise für gastronomische Einrichtungen zu nutzen. Abgesehen davon, dass | |
zum Beispiel das Kunsthaus "Kunsthaus" und nicht "Caféhaus" heißt, haben | |
auch die kommunalen, mit viel mehr Geld unterstützten Kunsteinrichtungen | |
der Stadt wie Stadtmuseum oder die Kunsthalle weder ein Café noch einen | |
ausgewogenen Haushalt. | |
Zugespitzt hatten sich die Dissonanzen zwischen Kunsthaus und der Stadt vor | |
zwei Jahren, als der ehrenamtliche Kulturbeigeordnete Karl-Heinz | |
Kindervater (CDU) das Rechnungsprüfungsamt zur Feststellung einer | |
notwendigen Förderhöhe ins Kunsthaus schickte. Kindervater ist Betreiber | |
gastronomischer Einrichtungen und Mitglied des einflussreichen | |
Karnevalsvereins der Stadt. Er fiel in letzter Zeit mit seinem Vorschlag | |
auf, das "Forum Konkrete Kunst" aus der Erfurter Peterskirche auszulagern, | |
um stattdessen ein Heimatmuseum, inklusive Wachsfiguren bekannter Thüringer | |
Persönlichkeiten, in dem Kirchengebäude zu eröffnen. Auch lieh er während | |
der Sanierungsarbeiten am Angermuseum dort lagernde Bilder alter Meister | |
aus und hing sie in die Räume des Gasthauses "Zur Hohen Lilie" am Domplatz. | |
Selbstherrlichkeit und Filz sind bei Provinzpolitikern in Erfurt Alltag. | |
Die Kulturverantwortlichen der Stadt müssen sich entscheiden: Investieren | |
sie in die Zukunft und unterstützen Initiativen und Vereine, die sich | |
aktuellen Tendenzen der Kunst verschrieben haben, oder begnügen sie sich | |
mit der Ausrufung eines Kulturjahres 2008 nach dem Motto "200 Jahre | |
Erfurter Fürstenkongress". | |
Damit das Kunsthaus nicht schließen muss, bedarf es gemeinsamer | |
Anstrengungen der wenigen verbliebenen kritischen Künstler und ihrer | |
Freunde. Es muss ein Konzept des kreativen Überlebens in dieser Stadt | |
entwickelt werden, in einer Stadt ohne Gedächtnis und Offenheit für Neues. | |
Eine, die für aktuelle Kunst kaum Geld zur Verfügung stellt. Und das wird | |
schwer. | |
10 Jul 2008 | |
## AUTOREN | |
Dirk Teschner | |
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Berufungsurteil | |
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